Stellenwert von psychischer Gesundheit: Therapie darf kein Privileg sein

In Deutschland ist es schwer, an einen Platz für Psychotherapie zu kommen. Darf man sich trotzdem freuen, wenn mal eine Sitzung ausfällt?

Wasser spritzt hoch im Freibad

Ausgefallene Therapiestunde? Kein schöneres Gefühl, als wenn unverhofft die Schule ausfällt Foto: Peter Hennig/imago-images

Als ich neulich um 8.15 Uhr bei meinem Therapeuten vor der Tür stand und mir dessen Frau sagte, ich hätte mich im Datum geirrt, fühlte sich das kurz an wie damals in der Schule, wenn unverhofft die erste Stunde ausfiel. Ein grenzenloses Gefühl der Freiheit.

Abgelöst wurde es aber sogleich vom schlechten Gewissen: Darf ich mich darüber freuen, dass etwas ausfällt, was anderen verwehrt bleibt? Stellte ich früher den Nutzen infrage, zur Schule gehen zu müssen, wurde sogleich an mein Gewissen appelliert: „Kinder anderswo wären froh, wenn sie zur Schule gehen könnten.“ War mir damals die Dimension des Privilegs Schule noch nicht bewusst, ist es mir die des Therapieplatzes heute durchaus.

Denn bei Weitem nicht je­de*r, der*­die einen Therapieplatz benötigt, bekommt auch einen. Jedenfalls nicht sofort. Wartezeiten können inzwischen bei sechs Monaten oder mehr liegen. Für Menschen in psychischer Notlage ein Albtraum. Man stelle sich vor, mit gebrochenen Knochen oder einer Entzündung monatelang auf eine Behandlung warten zu müssen. Warum wird der psychischen Gesundheit also nicht derselbe Stellenwert eingeräumt?

Zwar erhält das Thema mittlerweile mehr Aufmerksamkeit, verbessert hat sich die Behandlungslage aber nicht. 2012 berichtete Spiegelvon Wartezeiten bis zu 80 Tagen, heute sind wir schon bei über einem halben Jahr. Dabei wächst der Bedarf stetig: Seit der Pandemie stieg die Zahl der Anfragen für eine psychotherapeutische Behandlung um rund 40 Prozent.

Falsche Planung

Das Problem sei nicht der Mangel an Therapeut*innen, betonte der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, unlängst im „ZDF Magazin Royal“. Doch nicht ausreichend viele von ihnen seien im kassenärztlichen System zugelassen. Denn damit die Kosten für eine Therapie von der Krankenkasse übernommen werden, braucht es einen sogenannten Kassensitz, und die sind rares Gut. Die Schwester eines Freundes zahlte satte 80.000 Euro für einen solchen. Viele junge The­ra­peu­t*in­nen müssen sich hierfür erst mal verschulden, wenn denn überhaupt einer frei wird.

Wie viele Sitze es geben darf, besagt die sogenannte Bedarfsplanung. Vor über 20 Jahren festgelegt, orientierte sie sich nach der Ein­woh­ne­r*in­nen­zahl einer bestimmten Region, nicht aber nach der in ihr lebenden Anzahl erkrankter Menschen. „Die Bedarfsplanung plant am Bedarf vorbei“, schreibt Krautreporter und bringt das Problem auf den Punkt. Zwar gab es mittlerweile kleinere Reformen, aus denen heraus neue Kassensitze entstanden sind, der tatsächliche Bedarf konnte aber eben bislang nicht gedeckt werden.

Um meine Frage vom Anfang zu beantworten; natürlich sollte ich mich freuen dürfen, wenn sich unverhofft mal eine freie Stunde auftut, und sei es durch eine ausgefallene Therapiestunde. „Genießen“ kann ich das aber erst, wenn ein Therapieplatz kein Privileg mehr ist.

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Sophia Zessnik ist seit 2019 bei der taz und arbeitet in den Bereichen Kultur und Social Media. Sie schreibt am liebsten über Alltägliches, toxische Männlichkeit und Menschen im Allgemeinen. In ihrer Kolumne „Great Depression“ beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema psychische Gesundheit.

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