Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke: Mehr Kompromisse wagen
Trotz Energiekrise schließen die Grünen längere Laufzeiten für Atomkraftwerke aus. Doch ihre Prinzipientreue ist nicht souverän, sondern stur.
Wecke eine Grüne nachts um halb vier, reiße sie aus dem Schlaf und frage nach, ob die letzten deutschen Atomkraftwerke vielleicht einen Tag länger laufen dürfen. Oder zwei. Die Antwort ist klar, egal wie viele Aperol Spritz am Abend die Sinne der Grünen vernebelt haben mögen: „Nein, auf keinen Fall! Niemals! Atomkraft, nein danke!“ Diese Prinzipienfestigkeit ist richtig, wenn man jedes nukleare Restrisiko ausschließen will, wie es alle im grünen Milieu verinnerlicht haben, das ja inzwischen ziemlich groß ist.
Auch der Autor dieser Zeilen wurde durch die Angst vor der Atomkraft politisiert, hat sich von der Polizei durch den Taxöldener Forst bei Wackersdorf jagen lassen, für Demonstrationen gegen die WAA sogar auf Spiele des FCN verzichtet und später mit kleinem Kind auf den Schultern instagramtauglich gegen Merkels Laufzeitverlängerung protestiert, obwohl es damals noch gar kein Instagram gab, aber die feste Überzeugung: Jeder Tag mit Atomkraft ist ein Tag zu viel. Das bleibt richtig, keine Frage. Eine andere Frage ist, ob kompromisslose Prinzipienfestigkeit politisch wirklich schlau ist.
Indem Wirtschaftsminister Robert Habeck mitteilen ließ, er rechne noch mal nach, ob der Weiterbetrieb der AKWs vielleicht eventuell doch noch möglich sei, hat er Zeit gewonnen, darüber nachzudenken, welche Position für die Grünen realistischerweise haltbar ist. Es geht nicht nur um Zahlen.
Zum gefühlt tausendsten Mal werden die Grünen gerade mit Forderungen konfrontiert, die ihren innersten Reflexen widersprechen – und die von Lobbygruppen ebenso aus purem Eigennutz vorangetrieben werden wie von Konkurrenzparteien. Wieder einmal gilt es abzuwägen: eisern bleiben oder nachgeben.
Keine Zugeständnisse ohne Gegenleistung
Logischerweise fällt der Anti-Atom-Partei die Zustimmung zu längeren Atomlaufzeiten besonders schwer. Ohne politische Gegenleistung sollten sie auch kein Zugeständnis machen. Mit Blick auf die weitere Bewältigung der Energiekrise im Winter wäre eine kategorische und absolut kompromisslose Fixierung auf den exakten Ausstiegstermin 31. 12. 2022 jedoch albern.
Wer in der Aufgabe dieses einst politisch gesetzten Datums einen unverzeihlichen Sündenfall sieht, hätte schon längst aus der Partei austreten müssen. Als die Grünen mit Gerhard Schröder und Jürgen Trittin den ersten Atomausstieg beschlossen, stimmten sie zu, dass viele Meiler noch mehr als zwanzig Jahre laufen durften. Und jetzt sollen selbst ein paar Monate länger völlig unverantwortlich sein?
Auch die ungelöste Endlagerfrage ist kein triftiges Argument. Ungelöst ist sie tatsächlich. Deshalb sollten auf keinen Fall neue Atomkraftwerke gebaut werden. Aber ob die Halbwertzeit des Atommülls nun 200.000 Jahre oder bei einer kurzen Verlängerung der funktionierenden AKWs 200.001 Jahre beträgt, dürfte für das Schicksal der nachkommenden Generationen eher unerheblich sein.
Nicht unerheblich ist hingegen, wie die Grünen in dieser Krise die nötige Kraft für den Umstieg auf erneuerbare Energien und den sozialen Zusammenhalt sammeln können. Nein, die Atomkraft ist kein Ersatz für Putins Gas. Sie löst die Krise nicht. Sie ist höchstens ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber das könnte man auch beim Kaltduschen sagen, das Habeck propagiert. Wenn Habeck weiter täglich zum Sparen aufruft („Jede Kilowattstunde hilft“) und dabei weiter täglich gefragt wird, warum dann nicht wenigstens ein bisschen Atomstrom aus funktionierenden Meilern fließen darf, erleichtert das seine politische Überzeugungsarbeit nicht.
Vorausgesetzt, die Sicherheitsprüfung ergibt die Möglichkeit, würde ein Nein zu jedem Tag AKW stur und eine Zustimmung souverän wirken. Kohle okay, ein paar Monate Atomstrom nein? Das lässt sich nicht halten. Und warum eigentlich keine sachfremden Kompromisse? Die gehören in jeder Koalition dazu. Als Gegenleistung für eine begrenzte Laufzeitverängerung endlich ein Tempolimit herauszuholen wäre durchaus ein akzeptabler Deal.
Für die ganze Gesellschaft, aber auch für die Grünen. Dann würde ein grüner Albtraum kurz verlängert, aber ein grüner Wunschtraum wahr.
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