Kritik an jüdischer Autorin: Wer ist hier marginalisiert?
Deborah Feldman polemisiert gegen jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie selbst ist eine viel gehörte Stimme der jüdischen Community.
S eit dem 7. Oktober ist die US-amerikanisch-deutsche Autorin Deborah Feldman ein gern gesehener Gast in deutschen Talkshows. Die Aussteigerin der ultraorthodoxen Satmarer-Sekte, die seit zehn Jahren in Berlin lebt, erzählt dort von ihrem persönlichen Erleben als Jüdin („Ich fühle mich bedroht“); Berichte, die viele andere Juden (und Nichtjuden) irritieren, weil die Realität wenig hergibt, was ihr Gefühl bestätigt.
Feldman behauptet, man dürfe in Deutschland „nur auf eine bestimmte Art und Weise über Israel sprechen“, nämlich positiv über die Pläne der rechten israelischen Regierung. Im Guardian behauptet sie in einem viel zitierten Gastbeitrag, wer die deutsche Reaktion auf den Angriff der Hamas kritisiere, werde marginalisiert. Das schrieb eine, die seit anderthalb Monaten nichts als ungeteilte öffentliche Aufmerksamkeit für genau diese Kritik erhält. Unerwähnt lässt Feldman auch die unzähligen seit dem 7. Oktober veröffentlichten offenen Briefe, die ihr zustimmen.
Dass Feldman in einer verkehrten, kontrafaktischen Realität zu leben scheint, bewies sie einmal mehr im Interview mit dem niederländischen Medium NRC. Darin sprach sie nicht nur verächtlich über den Großteil der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, nämlich über diejenigen, die in den 1990er Jahren aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion eingewandert sind, sondern unterstellte ihnen Privilegien, „Macht und Einfluss“.
Und sie sprach ihnen ab, wirklich jüdisch zu sein: Feldman fühle sich nicht vertreten von Deutschen, „die eigentlich aus der Sowjetunion kommen und vom Judentum gar keine Ahnung haben, sich aber hier als Juden positionieren mussten, weil sie nur wegen ihres Jüdischseins einen Pass bekommen haben“.
Unsichtbarkeiten jüdischer Realität
Deutsche aus der Sowjetunion, die von Judentum keine Ahnung haben sollen, aber einen Pass bekommen haben, hä? Eine, die vorgibt, die jüdische Gegenwart genau zu analysieren, offenbart, dass sie keine Ahnung hat.
Jüdinnen und Juden, die in den 90er Jahren über das sogenannte Kontingentflüchtlingsgesetz nach Deutschland einwanderten, waren keine Deutschen. Feldman meint vermutlich sogenannte Russlanddeutsche, die ungefähr zur selben Zeit aus der ehemaligen Sowjetunion einwanderten. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Einreise unterschieden sich bei beiden Gruppen fundamental.
Ein großer Teil jüdischer Realität in Deutschland lässt sich wie folgt herunterbrechen: Plattenbau, Altersarmut, Kriegserfahrung, Abwertung von Lebenserfahrung. Mehr als 93 Prozent der jüdischen Zugewanderten sind auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Die meisten Älteren der ehemals Zugewanderten sind zwar top ausgebildet, arbeiten zum Großteil aber weit unter ihren Qualifikationen.
Einen deutschen Pass gab es, wie von Feldman behauptet, für die ehemals „jüdischen Kontingentflüchtlinge“ nicht als Einreisegeschenk. Dieser konnte erst nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne beantragt werden. Knapp die Hälfte der Jüdinnen und Juden in Deutschland – ehemals jüdische Zugewanderte – hat ukrainische Wurzeln. Der russische Angriffskrieg ist für sie sehr nah. All diese Juden machen zwar den Großteil der jüdischen Gemeinschaft heute aus, erleben seit Beginn ihrer Einwanderung vor über 30 Jahren aber, im Gegensatz zu Feldman, tatsächlich Marginalisierung – auf sozialer wie ökonomischer Ebene.
Rassistischer Mediendiskurs
Feldman knüpft mit ihren Aussagen übrigens an den rassistischen Diskurs der 90er Jahre an. Die „jüdischen Kontingentflüchtlinge“, hieß es damals, seien ja gar keine „echten“ Juden und hätten sich ihre Papiere zur Einreise nur erschlichen. Dahinter stecke die „Russenmafia“, so las man es in zahlreichen Medien.
Jüdische Zugewanderte wurden mit Russlanddeutschen in einen Topf geworfen und pauschal als Russen abgestempelt – ganz unabhängig von ihrer tatsächlichen Herkunft.
Feldmans Aussagen zeugen von Ignoranz und Überheblichkeit. Sie entlarvt sich selbst, wenn sie von Marginalisierung spricht, sich aber nicht zu schade dafür ist, für ihre eigene politische Agenda die vulnerabelsten Juden in diesem Land anzugreifen. Wer einen Streitraum innerhalb der jüdischen Community fordert, kann nicht 90 Prozent ihrer Mitglieder mal eben für nicht jüdisch erklären.
Dass Feldman in Talkshows und Zeitungen hofiert wird, ihrem individuellen Erleben so viel Platz eingeräumt wird, lässt ihre Position wie eine Mehrheitsmeinung aussehen. Jüdisches Leben findet aber vor allem fernab einer bequemen Berliner Blase, wie sie sich Feldman geschaffen hat, statt. Bei Fakten wie diesen zu bleiben, wäre ein erster Schritt, um miteinander streiten zu können.
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