Krise bei den Grünen: Der Bündnisfall
Was für eine Partei wollen die Grünen in Zukunft sein? Der Rücktritt der beiden Vorsitzenden hat Diskussionen ausgelöst. Eine Analyse.
So schnell geht also die Kernschmelze. Anfang Juni haben die Grünen ihre Niederlage noch gefasst gefeiert. Es war der Abend der Europawahl, der Bundesverband lud Mitglieder und Journalisten in eine Berliner Konzerthalle ein, und die Stimmung hatte was von einer After-Work-Party. Gut, zwischendurch ätzte schon jemand gegen den Vorstand. Und dass 12 Prozent eine Schlappe sind, leuchtete auch allen ein. Aber hey, früher war es schon mal schlimmer. Ab auf die Tanzfläche.
Drei Niederlagen später, am vergangenen Sonntag in Potsdam, sah es dann anders aus. Einen kurzen Jubel gab es noch um 18 Uhr, denn da stand die ARD-Prognose für die Brandenburgwahl bei 5,0 Prozent. Annalena Baerbock, in der ersten Reihe zwischen der Landesspitze, klatschte aber schon da nur zaghaft. Omid Nouripour schlich ratlos aus dem Pulk. Auf die Bühne gehe er noch nicht, was solle er auch sagen, die Zahlen gäben nichts her.
Drei Tage später. Nouripour und Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang treten zurück. Weil es der designierte Kanzlerkandidat Robert Habeck so wollte, wie es später unter Abgeordneten heißt und manche Journalisten raunen? Das ist zumindest in dieser Eindeutigkeit fraglich. Aber wenn entweder der Vizekanzler den Vorstand rauskantet oder andere aus der Partei das fälschlicherweise behaupten und damit beide Seiten mies dastehen lassen – dann ist es für alle unübersehbar, wie tief die Grünen in der Krise stecken.
Am Ende der Woche hat der Rücktritt, der auch innerhalb der Grünen fast alle überraschte, aber zumindest eines bewirkt: Die Partei hat jetzt eine offene Debatte über ihre Strategie im Bundestagswahlkampf und darüber hinaus. Gespräche und Planungen dazu gab es zwar schon vorher, bis zur Wahl bleiben schließlich nur zwölf Monate. Jetzt läuft die Diskussion aber viel bestimmter, auch weil die Positionsbestimmung eng mit der Frage der Nachfolge der Vorsitzenden verknüpft ist. Bis zum Parteitag sind es noch sieben Wochen, bis dann muss das geklärt sein.
Die Strategiedebatte ist außerdem überfällig – allein schon wegen des Negativlaufs der letzten Monate, der bei den Wahlen im Osten sogar an die Existenz ging. Vor allem aber, weil die letzten Jahre – das Regieren und die globalen Krisen – die Position der Grünen im Parteiengefüge vollkommen verschoben haben.
Koalitionspartner heizen Aversionen gegen die Grünen an
Eine Bündnispartei wollten sie vor Kurzem noch werden. Beerdigt ist das Konzept nicht, aber schwer beschädigt. Den Begriff prägten Robert Habeck und Annalena Baerbock, als Vorsitzende noch frisch und aufregend, während sie der Partei ein neues Grundsatzprogramm gaben. Was so eine Bündnispartei ausmacht, formulierte Habeck 2019 in einem viel beachteten Interview mit der FAZ. Unter anderem: Sie stehen mittendrin und regieren in verschiedenen Bundesländern mit fast allen anderen Parteien. „Die Grünen sind in mehr unterschiedlichen Koalitionen als jede andere Partei. Es rückt unsere Partei ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte“, sagte er.
Das ist heute nicht mehr so. Die Grünen stehen viel weiter am Rand. Schon aus rechnerischen Gründen führten mehrere Wahlniederlagen zum Verlust von Regierungsbeteiligungen. Die Linkspartei und mit ihr die allerletzten rot-rot-grünen Träume taumeln dem Ende entgegen. Eine Koalition mit dem BSW hatten die Grünen in Sachsen vorzeitig ausgeschlossen, zumindest in eine Richtung machen sie also dicht. Und in den übrigen Richtungen wenden sich alle anderen ab. Einst wollten die Grünen durch lagerübergreifende Koalitionen Akzeptanz für ihre Politik in fremden Milieus gewinnen. Das klappt heute vielleicht noch in Schleswig-Holstein. Anderswo, auch im Bund, erleben sie das Gegenteil: Koalitionspartner heizen Aversionen gegen die Grünen an.
Regierungsbündnisse sind das eine, gesellschaftliche Allianzen das andere: „Als Bündnispartei definieren wir Ziele, suchen dafür Partner und organisieren Mehrheiten für die nächsten Schritte“, sagte Habeck 2019 in der FAZ. Je nach Thema könnten sich die Mitstreiter unterscheiden, die Gesellschaft sei schließlich komplex geworden. Mal seien es die Arbeitgeberverbände, mal die Zivilgesellschaft, mal beide.
Das ist inzwischen auch nicht mehr so einfach. Die Grünen haben ihre Netzwerke zwar ausgebaut. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) begleitete die Haushaltsverhandlungen im Sommer mit einem Forderungskatalog, den auch jeder linke Grüne unterschrieben hätte: ein 400-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz. Und als Robert Habeck vor Kurzem ein Stahlwerk in Niedersachsen besuchte, das seine Produktion klimafreundlich umrüstet, wären sie ihm da fast um den Hals gefallen. Die Regierung hatte einen Teil des Umbaus bezahlt.
Wenn es beim Regieren konkret wird, bleiben Interessengegensätze aber nicht aus. Die Autohersteller konnte Habeck beim Krisengipfel in dieser Woche nur mit der Ankündigung besänftigen, sich für die Lockerung von EU-Klimaauflagen einzusetzen. So ein Entgegenkommen verärgert auf der anderen Seite Bündnispartner von einst – in diesem Fall sind es die Umweltverbände, bei der Kindergrundsicherung die Sozialverbände, in der Asylpolitik die Flüchtlingsorganisationen.
Realos auf entscheidenden Führungsposten
Dass am Mittwoch der gesamte Vorstand der Grünen Jugend ankündigte, aus der Partei auszutreten und ein neues Projekt zu starten, könnte weitere Brücken in diese Richtung zerstören: Den Kontakt zu linken Bewegungen hielt am Ende vor allem die Jugendorganisation. Und wie viele Mitglieder den Abtrünnigen folgen, ist zwar noch nicht absehbar. Alleine gehen sie aber sicher nicht.
„Ich möchte Vorsitzender für die gesamte Partei sein, ich kandidiere unabhängig von Flügeln.“ Das schrieb Habeck, als er sich 2017 für den Parteivorsitz bewarb, und das klappte ja auch: Zusammen mit Annalena Baerbock bildete er zwar eine Realodoppelspitze. Um die ganze Partei mitzunehmen, setzte das Duo aber auf verhältnismäßig linke Inhalte.
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Seitdem die Grünen regieren, sind die Realos auf den entscheidenden Führungsposten in Partei, Fraktion und Kabinett wieder in der Überzahl. Die Gegenseite mitzunehmen funktionierte aber nur bedingt. Die Bruchlinie zwischen den Flügeln wird dadurch wieder sichtbarer. Es gab in letzter Zeit keinen Parteitag, an dem das Regierungshandeln nicht von links angefochten wurde. Am Ende war der Aufstand jedes Mal vergeblich. Deswegen konnte es überhaupt erst zum Exodus der Grünen Jugend kommen.
Die Austritte kann man natürlich abtun, wie viele in der Partei es machen: Die jungen Leute hätten eben zu lang im Marx-Lesekreis gesessen. Aber über die letzten Jahre hat sich doch etwas verändert. „Wir müssen uns die Offenheit bewahren, über die soziale Marktwirtschaft hinauszudenken“, hieß es 2019 seitens der Parteijugend – von der damaligen Vorsitzenden Ricarda Lang.
Danach erfolgte deren Weg vom Antikapitalismus in Richtung Mitte recht rasant. Als Parteichefin hielt sie eigene Überzeugungen zurück, bemühte sich um den Ausgleich, forderte einmal sogar in einem gemeinsamen Beitrag mit Winfried Kretschmann schnellere Abschiebungen. Unabhängig von der Frage, ob das zu viel der Geschmeidigkeit war: Vor fünf Jahren fiel es der Partei leichter als heute, das Potenzial am linken Rand zu integrieren.
Habeck will als Merkel+ in den Wahlkampf ziehen
Und in weiteren fünf Jahren? Wie viel dann weggebrochen sein wird, wie sich Gesellschaft und Parteiensystem entwickeln und welche Rolle die Grünen dabei spielen werden, ist offen. In der Strategiedebatte, die jetzt läuft, wird auch darüber nachgedacht.
Habeck, vereinfacht gesagt, will als eine Art Merkel+ in den Wahlkampf ziehen, wie man in seinem Gastbeitrag im Rolling Stone nachlesen konnte (siehe dazu auch die Kolumne auf Seite 6). Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass das funktionieren kann. Das letzte Umfragehoch der Grünen ist immerhin erst zwei Jahre her, und damals gab es auch schon Krise, Krieg und Kompromisse. Es könnte aber auch schiefgehen: Wenn der Kurs auf der rechten Seite nicht mehr richtig zündet und auf der linken zu viel verloren geht, enden die Grünen als mittige Nischenpartei neben CDU und SPD. Links bliebe immerhin Platz für eine neue Kraft – oder aber es verschiebt sich einfach das gesamte Parteiensystem nach rechts.
Das Gegenmodell vieler linker Grüner: nicht die reine Lehre, nicht aufs alte Kernklientel zurückziehen, sondern anders wachsen – mithilfe von Verteilungsfragen. Im Kern ist das über die Flügel hinaus anschlussfähig. Robert Habeck selbst sprach 2019 noch vom „Anspruch auf soziale Sicherheit im Wandel“.
Aber wie radikal darf es sein? Die steilsten Forderungen enthält ein Positionspapier des Europaabgeordneten Rasmus Andresen, veröffentlicht am Mittwoch, kurz nach der Rücktrittsankündigung. Darin stehen 400 Milliarden Euro für die Infrastruktur, wie beim BDI. Und: 16 Euro Mindestlohn, bundesweite Mietpreisbremse, Vermögensteuer für Superreiche.
Die Milieus der Mitte und die der Prekären, vom Abstieg bedroht oder betroffen, werden für die Grünen erreichbar – die einen wieder, die anderen erstmals. Könnte klappen. Wenn nicht, könnte aber so ein Kurs auch wieder in die Nische führen. Und zwar in die linke. Das wäre aber auch nur der zweitschlechteste Fall. Immerhin wäre die Nische dann wieder besetzt.
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