Krieg in der Ukraine: Kein Frieden mit Putin
Wer glaubt, Moskau gäbe sich mit den bisherigen Gebietsvorstößen zufrieden, hat nicht kapiert, wer der Chef im Kreml ist. Und was Putin am Ende will.
![Wladimir Putin sitzt an einem Tisch Wladimir Putin sitzt an einem Tisch](https://taz.de/picture/7370607/14/37070531-1.jpeg)
S eit über 1.000 Tagen tobt nun der Krieg in der Ukraine und rückt in der Öffentlichkeit mehr und mehr in Vergessenheit. Bezeichnend ist, welche Themen in Deutschland die Debatte dominieren: Es sind nicht die persönlichen Tragödien so vieler Ukrainer*innen, nicht die täglich steigende Zahl von Toten und Verletzten, flächendeckende Bombardements und die Aussicht darauf, angesichts einer fortschreitenden Zerstörung der kritischen Infrastruktur bei Minusgraden zu erfrieren.
Vielmehr geht es – wieder einmal – um Waffen. Die jüngst von einigen als „Abschiedsgeschenk“ titulierte Freigabe von ATACMS-Raketen für Angriffe auf russisches Territorium durch den scheidenden US-Präsidenten Joe Biden, die Lieferung international geächteter Antipersonenminen sowie den Einsatz britischer Storm-Shadow-Raketen.
Werden diese Waffen jetzt zum „Gamechanger“ und damit endgültig „rote Linien“ überschritten? Droht eine weitere Eskalation? Wird Kanzler Olaf Scholz, derzeit im Wahlkampf und erklärter Gegner von deutschen Alleingängen, jetzt doch noch sein kategorisches Nein zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern überdenken? Stehen die bisherigen westlichen Verbündeten wirklich fest an der Seite der Ukraine, solange es notwendig ist?
Ist das gebetsmühlenartig vorgetragene Credo, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen und die Ukraine ihn nicht verlieren, noch Richtschnur politischen Handelns? Viele dieser Fragen beschäftigen uns seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 und harren bis heute einer Antwort. Aus gutem Grund. Denn die Zahl der Unbekannten, um diese komplizierten Gleichungen zu lösen, wächst stetig.
Putin bleibt sich treu
Und wir sollten in den vergangenen 1.000 Tagen dieses Grauens mitten in Europa gelernt haben, auch das Unvorstellbare zumindest zu denken. Dem zum Trotz gibt es sie: die Schlaufüchse, die uns weismachen wollen, sie wüssten, wie dieser Krieg zu beenden sei. Da geht allen voran Sahra Wagenknecht. Waffenlieferungen an Kyjiw einstellen und ab an den Verhandlungstisch, lautet ihre Forderung. Schließlich müsse das sinnlose Sterben endlich ein Ende haben. Wer möchte sich der Forderung nicht gleich anschließen.
Im Falle Wagenknechts zielt sie jedoch auf die eigene politische Dividende, ohne jede Empathie für die Ukrainier*innen. Hier lohnt sich ein Blick auf den Aggressor in Moskau. An Wladimir Putins Position hat sich seit Kriegsbeginn nichts geändert. Nur seine anfänglichen Auslöschungs- und Entnazifizierungsfantasien mit Blick auf die Ukraine sind derzeit seltener zu vernehmen. Moskaus Vorbedingungen für Verhandlungen sind unverrückbar.
Der Mindesteinsatz für Kyjiw, um zu Kreuze kriechen zu dürfen, ist die Anerkennung der aktuellen „territorialen Realitäten“, sprich: der Verzicht auf rund ein Fünftel des eigenen Landes. Dass Russland sich mächtig genug wähnt, um allen diesen Preis diktieren zu können, musste Olaf Scholz unlängst auch nach dem Telefonat mit Putin einsehen. Eine bittere Erkenntnis. Trotzdem ist es immer schön, mal miteinander zu sprechen.
Tatsächlich geht es längst nicht mehr nur um die Ukraine. So rüstet Moskau auch verbal weiter in Richtung „kollektiven Westen“ auf. Bidens ATACMS-Entscheidung quittierte der Kreml mit Drohgebärden. Die Anspielungen auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen waren unüberhörbar. Dazu passt auch die Atomdoktrin, die der starke Mann in Moskau diese Woche unterzeichnete. Die ist übrigens nicht neu – genauso wenig wie entsprechende Tiraden von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.
Kein Zeichen der Stärke
Doch ist das ein Zeichen der Stärke, wie auch der Umstand, dass über 10.000 nordkoreanische Soldaten jetzt an der Seite Russlands kämpfen? Kaum. Und Wolodymyr Selenskyj? Den Machtwechsel im Weißen Haus, mit allen Unwägbarkeiten, vor Augen und militärisch am Limit, gibt sich der ukrainische Präsident verhandlungsbereit. Weil er muss. Von temporären Abtretungen völkerrechtswidrig russisch besetzter Gebiete ist da die Rede. Dabei weiß niemand besser als Selenskyj, was das bedeutet.
Dort schafft Russland Fakten: Repressionen, Gewalt, Deportationen, Zwangsumerziehung – das ganze Programm. Mit all dem könnte sich der Westen allenfalls abfinden, wenn doch nur die Waffen endlich schweigen würden. Aber wäre es wirklich so?
Der Angriff auf die Ukraine ist noch nicht das Ende. Georgien, die Republik Moldau, vielleicht Estland oder Lettland? Wer steht als Nächstes auf Putins Liste? Zumindest eine Erkenntnis sollte sich in den gut 1.000 Tagen durchgesetzt haben: Naivität, Wunschdenken und Illusionen im Umgang mit Russland – diese Zeiten sind endgültig vorbei.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Erpressungs-Diplomatie
Wenn der Golf von Mexiko von der Landkarte verschwindet
80 Jahre nach der Bombardierung
Neonazidemo läuft durch Dresden
Zwei Todesopfer nach Anschlag in München
Schwer verletzte Mutter und Kind gestorben