Krieg in der Ukraine: Die Ukraine nicht im Stich lassen
Die militärische Lage ist bitterernst für die Ukraine. Das geschundene Land braucht weiter Hilfe aus dem Westen – wie einst versprochen.
I n der Ukraine werden die Menschen die Weihnachtsfeiertage zum zweiten Mal im Hagel russischer Bomben begehen. Vielerorts werden dieses Mal auf öffentlichen Plätzen keine Weihnachtsbäume aufgestellt – ein Symbol dafür, dass es nichts zu feiern gibt. Zwar spricht sich, laut jüngsten Umfragen, immer noch eine deutliche Mehrheit der Ukrainer*innen für eine Fortsetzung des Krieges gegen den Aggressor Russland aus. Eine Kapitulation zu Moskaus Bedingungen ist keine Option. Doch dieser Umstand vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Stimmung kippen könnte.
Aus gutem Grund: Die Situation an der Front ist desolat. Die ukrainische Gegenoffensive, die mit immensen Verlusten in den Reihen der eigenen Armee einhergeht, ist bislang deutlich hinter den von Anfang an zu hoch gesteckten Erwartungen zurückgeblieben. Längst hat die Phase eines zermürbenden Stellungskrieges begonnen, in dem beide Seiten keine nennenswerten Geländegewinne zu erzielen imstande sind.
Hinzu kommt, dass die ausbleibenden militärischen Erfolge Kyjiws und mögliche Gründe dafür immer häufiger zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen werden. Präsident Wolodimir Selenski, zeitweilig schon fast in eine Art Heldenstatus erhoben, sieht sich mit massiven Anwürfen konfrontiert – kommen sie nun vom Oberkommandierenden der Streitkräfte Walerij Saluschnyj oder Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko.
Dieser Schlagabtausch in Zeiten eines existenzbedrohenden Krieges und öffentlich ausgetragen – normalerweise gilt das ungeschriebene Gesetz: abgerechnet wird hinterher – ist bemerkenswert. Zwar ist er wohl zuallererst Ausdruck der verzweifelten Gesamtlage, aber gleichzeitig ein Indiz dafür, welche Strecke die Ukraine auf ihrem Weg einer demokratischen Transformation bereits zurückgelegt hat.
Wahr ist jedoch auch: Wladimir Putin, bekanntermaßen in historischer Mission im „Kampf gegen den Faschismus“ unterwegs, reibt sich die Hände. Mit Zustimmungswerten von über 80 Prozent im Rücken – und das knapp drei Monate vor der Präsidentschaftswahl – scheint Russlands Staatschef vor Kraft kaum laufen zu können. „Menschenmaterial“, das an die Front und in den Tod geschickt werden kann, scheint noch ausreichend vorhanden. Die westlichen Sanktionen gegen Russland erzielen nicht den gewünschten Effekt, was wohl kaum nur mit deren erfolgreicher Umgehung dank der Hilfe einiger befreundeter Staaten zu erklären ist.
Die Wirtschaft des Landes scheint nicht merklich geschwächt. Die Hoffnung, zumindest Teile der russischen Zivilgesellschaft zu mobilisieren und gegen den Krieg auf die Straßen zu bringen, kann ebenfalls ad acta gelegt werden. Dem angeblich international isolierten Paria Putin wird der rote Teppich ausgerollt – so jüngst geschehen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Mit Genugtuung dürfte Putin eine weitere Entwicklung zur Kenntnis nehmen: Die Unterstützung der westlichen Verbündeten der Ukraine bröckelt. As long as it takes – war da mal was?
Orbán droht
Ungarns Regierungschef Viktor Orbán droht mit einem Veto, sollten die geplanten 50 Milliarden Euro Finanzhilfe für die Ukraine und deren EU-Beitritt beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel kommende Woche nicht von der Tagesordnung genommen werden. Die neue slowakische Regierung unter Robert Fico hat Waffenlieferungen an Kyjiw gestoppt.
SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht Deutschland zwar weiterhin fest an der Seite der Ukraine, räumt jedoch ein, dass die Rüstungsindustrie nicht mit der Produktion hinterherkomme. Last but not least: Das US-Engagement für das geschundene Land steht auf der Kippe, weil die Republikaner im Kongress ein Hilfspaket in Milliardenhöhe blockieren und so die Ukraine im Kampf um die Durchsetzung eigener innenpolitischer Interessen in Geiselhaft nehmen.
Moskaus Ziel hat sich nicht geändert
Sollten die US-Republikaner ihren Widerstand nicht aufgeben und Washington als wichtigster Unterstützer ausfallen, käme das für Kyjiw einer Katastrophe gleich. Denn an Moskaus Ziel, die Ukraine als Staat samt ihrer Identität ein für alle Mal auszulöschen, hat sich nichts geändert. Die Mittel dafür sind Folter, Tod, Verschleppung und Zwangsdeportationen – ein Blick in die russisch besetzten Gebiete genügt.
Die Ukraine im Stich zu lassen hieße, sie der genozidalen Politik des Kreml schutzlos auszuliefern – mit allen Konsequenzen. Doch damit hört es nicht auf. Wer sind die Nächsten? Georgien, die Republik Moldau oder gar die baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland? Die Fragen sind keine abstrakten Gedankenspiele, sondern könnten eines Tages bittere Realität werden. Frohes neues Jahr. Von wegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid