Kipping und Lauterbach zur Sozialreform: „Hartz IV ist ein Gespenst“
Katja Kipping (Linke) und Karl Lauterbach (SPD) sind sich einig: sie wollen Hartz IV abschaffen, Reiche stärker besteuern und Neiddebatten beenden.
taz: Herr Lauterbach, „die Hartz-Reformen sind linke Reformen.“ Wer hat das gesagt?
Karl Lauterbach: Ich 2005. Damals war ich einer der wenigen Linken, die die Reformen befürwortet haben. Jetzt befürworte ich die komplette Abkehr von Hartz IV.
Woher der Sinneswandel?
Lauterbach: Eine Medizin, die ihre Wirkung getan hat, muss man absetzen. Sonst produziert sie nur noch Nebenwirkungen. Damals waren die Reformen nötig, jetzt sind sie schädlich.
Aha. Warum?
Lauterbach: Wegen Hartz IV ist in den Nullerjahren in Deutschland die Arbeitslosigkeit extrem zurückgegangen – bei Ungelernten um 50 Prozent stärker als bei Qualifizierten. Das lag auch an dem Druck. Heute ist die Lage anders. Hartz IV hat vor zehn Jahren die Löhne im unteren Bereich gesenkt. Deshalb ist die Arbeitslosigkeit gesunken. Aber heute sind die Löhne in diesen Bereichen eher zu niedrig.
Und wenn die Arbeitslosigkeit steigt, dann ist Hartz IV wieder ein probates Mittel?
Lauterbach: Nein, wir haben mittelfristig und demografiebedingt einen Mangel an Arbeitskräften. Massenarbeitslosigkeit ist heute eher ein hypothetisches Problem. Selbst wenn es dazu käme, bedeutete das nicht, dass wir Hartz IV wieder einführen.
Die 42-Jährige ist seit 2012 Co-Vorsitzende der Linkspartei. Von 1999 bis 2005 war sie für die PDS im sächischen Landtag, seit 2005 ist sie im Bundestag. Kipping tritt für ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle ein.
Frau Kipping, halten sie die Wandlung des Sozialdemokraten Lauterbach für glaubwürdig?
Katja Kipping: Ich freue mich immer über Erkenntnisfortschritte. Endlich kommt Bewegung in die Debatte. Dabei darf es aber nicht bleiben. Momentan fehlen uns noch die Mehrheiten im Bundestag, um Hartz IV durch soziale Garantien oder durch eine sanktionsfreie Mindestsicherung zu ersetzen. Aber ich hätte da auch einen nach vorne weisenden Vorschlag.
Nämlich?
Kipping: Ich möchte eine Enquetekommission einzurichten. Dafür reichen 25 Prozent im Bundestag. Wenn Linke, Grüne und zumindest ein Teil der SPD-Fraktion im Parlament eine Enquetekommission „Alternativen zu Hartz IV“ einrichten, kann man dort vom Bürgergeld über die Garantiesicherung bis hin zum Grundeinkommen die Alternativen diskutieren. Das könnte am Ende eine Basis für einen Politikwechsel sein – wenn wir eine Mehrheit für eine Regierung der sozialen Vernunft erreichen.
Unterstützt die SPD diese Idee?
Lauterbach: Wir debattieren in der SPD derzeit. Ich will eine vollkommene Abkehr von Hartz IV, aber es gibt auch zurückhaltendere Positionen. Bevor wir gemeinsam mit anderen Fraktionen eine Enquetekommission fordern, müssen wir erst unsere Position artikulieren.
Also nein?
Lauterbach: Ich finde den Vorschlag nicht unattraktiv. Aber das Wichtigste für die SPD ist, dass wir für uns Klarheit schaffen.
Der 55-Jährige ist seit 2013 Vizevorsitzender der SPD-Fraktion und Gesundheitsexperte. Er war CDU-Mitglied und ist 2001 SPD-Genosse. Er tritt für eine Bürgerversicherung und die Zweiklassen-Medizin ein.
Das kann noch dauern …
Lauterbach: Nein. Wir werden diese Diskussion in den nächsten zwei Monaten abschließen.
Wirklich? Manche SPDler wollen Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger abschaffen. Andere wollen auf keinen Fall Leute alimentieren, die nicht arbeiten wollen.
Lauterbach: Nein, so tief ist die Spaltung nicht. Ich glaube, dass Sanktionen als demütigend und willkürlich empfunden werden – und für den Arbeitsmarkt nichts bringen. Ich hoffe, dass dies auch die Position der SPD wird.
Karl Lauterbach
Frau Kipping, warum ist Sanktionsfreiheit so wichtig?
Kipping: Weil es ein Grundrecht auf soziokulturelle Teilhabe gibt, das nicht beschnitten werden darf – und dass man sich nicht durch Leistungsbereitschaft verdienen muss. WählerInnen müssen ja auch nicht erst fünf kluge Bücher lesen, um wählen zu dürfen. Grundrechte existieren, ohne dass man sie verdienen muss. Außerdem zeigen Studien, dass Sanktionen Isolation fördern. Sie wirken demotivierend. Oder sie führen dazu, dass Menschen bereit sind, schlechte Löhne in Kauf zu nehmen.
Aber wie verkaufen Sie die Abschaffung der Sanktionen der Verkäuferin oder dem Busfahrer, die mit 1.300 oder 1.800 Euro netto verdienen – und mit ihren Steuern Hartz IV bezahlen?
Kipping: Das ist ein populistisches Argument. Es ist Augenwischerei, der Verkäuferin einzureden, sie hätte einen Euro mehr am Monatsende, wenn es Hartz-IV-Betroffenen noch schlechter geht. In der Regel ist es ja anders herum. Niedrige Sozialleistungen ziehen die Löhne nach unten.
Lauterbach: Einverstanden. Man darf die schlecht bezahlte arbeitende Bevölkerung nicht gegen Arbeitlose ausspielen. Und nicht den Eindruck erwecken, dass Hartz IV-Empfänger nicht arbeiten wollten.
Wie bitte? SPD-Kanzler Schröder sagte damals, es gebe kein Recht auf Faulheit.
Lauterbach: Ich kenne in meinem Wahlkreis keinen Arbeitnehmer, der wenig verdient und neidisch auf Arbeitslose ist. Das ist eine Fata Morgana der Rechten. Und ja: Auch in meiner Partei haben sich damals viele ins Bockshorn jagen lassen.
Kipping: In der Hochzeit des Neoliberalismus war das Feindbild der faule Arbeitslose. Heute ist es der Flüchtling. Eine wichtige Aufgabe progressiver Politik ist es, nicht in Neiddebatten einzusteigen, die verletzbarere Gruppen gegen andere verletzbarere Gruppen ausspielt. Stattdessen brauchen wir ein neues Wir-Gefühl.
Manche Studie belegt, dass Arbeitslose sich schneller Jobs suchen, wenn sie mit Sanktionen rechnen müssen.
Lauterbach: In Süddeutschland, wo es teilweise Vollbeschäftigung gibt, liegt der Anteil der Hartz-IV-Empfänger bei einem Prozent der Bevölkerung. In dieser Lage haben Sanktionen keine positiven Wirkungen mehr. Dafür schüren sie Ängste auch bei jenen, die Jobs haben. Hartz IV ist ein Gespenst. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit betroffen zu sein minimal ist, hat jeder Angst, dass erst Einkommen und Vermögen weg sind, danach wird kontrolliert wie viele Zahnbürsten im Bad stehen.
Katja Kipping
Frau Kipping, das sind eigentlich Ihre Argumente, oder?
Kipping: Das stört mich nicht. Das zeigt, dass links wirkt. Ich habe mich seit langem für die Abschaffung des Hartz-IV-Sanktionssystems engagiert – und oft gehört: Kalter Kaffee, das interessiert doch keinen mehr. Dabei betrifft die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes über sieben Millionen Menschen in diesem Land.
Herr Lauterbach, wie viel Geld sollen Hartz IV Empfänger nach Willen der SPD bekommen?
Lauterbach: Um den Willen der SPD geht es gerade nicht. Der Regelsatz darf nicht Objekt eines Überbietungswettbewerbs sein, sondern wird nach Bedarf ermittelt. Wir müssen uns die Berechnungsgrundlagen der Sozialverbände genau anschauen.
Kipping: Ich verstehe ja, dass sich die SPD noch nicht festlegen möchte. Aber man kann nicht so tun, als wären die Zahlen unklar. Wenn man nur die offensichtlichen Tricks aus der jetzigen Methode, den Bedarf zu bestimmen weg lässt, müsste der Regelsatz bei 580 Euro liegen.
Welche Tricks?
Kipping: Bei der Berechnung der Regelsätze werden alle Ausgaben für Übernachtungskosten oder selbst für einen Campingurlaub abgezogen, genauso wie Weihnachtsbaum, Blumen, Grabschmuck, Hundefutter, Reinigungskosten oder die Tasse Kaffee unterwegs. Hartz IV Beziehenden stehe das nicht zu. Korrekte Berechnungsgrundlagen für Regelsätze liegen auf dem Tisch. Sie sollten nicht so tun, als ob es im Sozialministerium einen Erkenntnismangel gibt.
Lauterbach: Das tue ich nicht. Ich kenne die unterschiedlichen Berechnungsmethoden. Aber es ist für die Debatte in der SPD nicht hilfreich, zwei radikale Schritte zu gehen – Sanktionen weg und höhere Regelsätze – und zudem die Detaildiskussion zu führen, wie hoch der Regelsatz sein soll. Mit der jetzigen Berechnung liegen wir falsch. Das räume ich ein.
Warum diskutiert die SPD erst jetzt das Ende von Hartz IV? Hat das etwas mit den Wahlniederlagen in Hessen und Bayern zu tun?
Lauterbach: Nein, das wäre zu einfach. Wir arbeiten in der SPD ernsthaft ernsthaft daran, uns programmatisch neu aufzustellen. Seit Monaten, bis in die Unterbezirke hinein.
Karl Lauterbach
Kipping: Nicht nur bei Facebook-Diskussionen merke ich eine unglaubliche Skepsis gegenüber der SPD: „Das meinen die doch eh nicht ernst.“ Ich mache mir diese Kritik nicht zu eigen. Aber: Auf die Ankündigungen muss etwas folgen. Wenn nur ein neuer Name dabei herauskommt, wäre das fatal. Auch für die SPD.
Lauterbach: Davor warne ich auch. Ein Etikettenschwindel wäre fatal.
Wo sehen Sie sonst noch Verbesserungsbedarf, Frau Kipping?
Kipping: Ein Punkt, der im Alltag für viel Ärger sorgt, ist die Definition der Bedarfsgemeinschaft. Beispiel: Eine Alleinerziehende, die Hartz IV bekommt, zieht mit ihrem neuen Partner zusammen, der gerade so über der Bemessungsgrenze liegt. Der wird vom Amt sofort in die Haftung genommen für die neuen Kinder. Das führt zu viel Frust.
Lauterbach: Kinder leiden besonders unter Hartz IV. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie dauerhaft stigmatisiert sind. Deshalb wirbt Andrea Nahles für eine Kindergrundsicherung.
Kipping: Die Konzentration von armen Kindern in bestimmten Stadtvierteln ist ein großes Problem. Schuld sind die explodierenden Mieten, aber auch die Art, wie die Kosten der Unterkunft geregelt sind. Dann kommen noch Geflüchtete hinzu. In Grundschulen treffen Kinder reicher Eltern kaum noch auf die armer Eltern.
Lauterbach: Dazu ist die Forschungslage interessant. Kinder aus benachteiligten Familien profitieren am stärksten, wenn zwei Dinge gegeben sind: Ganztagsunterricht und die soziale Durchmischung. Das nutzt Kindern mehr als die Qualität der Lehrer.
Kipping: (lacht) Ich sehe schon die Überschrift vor mir: „Die Qualität der Lehrer ist egal“
Lauterbach: Es ist nicht ganz falsch. Schlaue Kinder als Mitschüler helfen meist mehr als schlaue Lehrer.
Sozialstaatsreformen sind teuer. Warum traut sich die SPD nicht, die Erbschaftsteuer zu erhöhen oder die Vermögenssteuer einzuführen?
Katja Kipping
Lauterbach: Ich befürworte seit mindestens zehn Jahren eine massiv erhöhte Erbschaftsteuer. Dass der Steuersatz sinkt, je mehr man erbt, ist ein Skandal. Und ich bin auch für eine Vermögenssteuer.
Bei der SPD-Spitze vermissen wir diese Leidenschaft.
Lauterbach: Mag sein. Aber ich bin jetzt hier gerade Ihr Interviewpartner.
Aber in der SPD sind Sie schon noch?
Lauterbach: Ich bin auch Teil der SPD-Spitze und nehme für mich in Anspruch, eigene Meinungen zu vertreten. Eine Sozialstaatsreform käme nicht ohne Steuererhöhungen für Gutverdiener aus, allein deshalb, weil sie sonst nicht akzeptiert würde. Wir könnten nicht nur im Bundeshaushalt umverteilen.
Kipping: Es müsste klar sein, dass eben nicht die Verkäuferin zahlt. Sie müsste durch eine Steuerreform entlastet werden, ebenso der Facharbeiter mit mittlerem Einkommen. Wir sagen allerdings ehrlich, dass Leute, die viel verdienen – Singles ab 7.000 Euro im Monat – stärker belastet würden.
Leute, die lange gearbeitet haben, bekommen nur ein Jahr lang Arbeitslosengeld – und stürzen dann ins Hartz IV-Niveau. Wie kann man das ändern, Herr Lauterbach?
Lauterbach: Dieser Fall ins Bodenlose, der Übergang vom Arbeitslosengeld I zu Hartz IV, macht Angst. Meine Prognose ist: Die Angst wird noch zunehmen. Wir werden erleben, wie gut verdienende Berufsgruppen durch die Digitalisierung überflüssig werden. Denken Sie an den Ingenieur, der Diesel-Motoren entwickelt. Deshalb muss das Damoklesschwert aus meiner Sicht weg. Mein Vorschlag wäre: Das Arbeitslosengeld I ist das einzige Arbeitslosengeld, das wir benötigen. Aber es muss mit einer Weiterbildung verbunden werden.
Die SPD stellt den Arbeitsminister. Anders als die Linkspartei wird sie daran gemessen, was sie umsetzt. Unschön, oder?
Lauterbach: Die SPD hat versprochen, sich neu aufzustellen. Das steht eben im Spannungsverhältnis zur Regierungsarbeit. FDP und Konservative nutzen das gegen uns. Sie warnen, dass wir ein rot-rot-grünes Bündnis vorbereiten. Das hielte ich übrigens für richtig.
Späte Erkenntnis …
Lauterbach: Ich werbe dafür seit Jahren Es wäre das einzige progressive Bündnis, das eine umfassende Sozialstaatsreform verwirklichen könnte.
Kipping: Wenn man diese Veränderung will, muss man sich gegen Hetzkampagnen immunisieren. Gegenwind müssen wir aushalten – und am Ende andere Mehrheiten erstreiten.
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