Kardinal Marx über sexuellen Missbrauch: Erschütterung als Dauerzustand
Es reicht nicht, sich bei den Opfern zu entschuldigen. Die Kirche muss sich reformieren und Konsequenzen ziehen.
W ie oft kann ein Mensch erschüttert sein? Für Kardinal Reinhard Marx ist dies wohl ein Dauerzustand. So auch an diesem Donnerstag, als er das 1.900 Seiten starke Gutachten zu sexualisierter Gewalt im Erzbistum München und Freising kommentiert. Marx ist wieder erschüttert, wieder erschrocken, wieder betroffen. Wieder entschuldigt er sich bei den Opfern sexualisierter Gewalt, für Taten, die ihnen Vertreter der katholischen Kirche angetan haben. Marx übernimmt moralische Verantwortung dafür, dass er ihr Leid übersehen hat.
Eine Woche ist es her, dass die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ein Gutachten vorgestellt hat, in dem es Hinweise auf mehr als 200 Täter:innen gibt. Die Mehrheit sind katholische Priester, die über Jahre hinweg nahezu unbehelligt Kindern und Jugendlichen Gewalt antun konnten. Marx spricht von einem „Desaster“, von einer „dunklen Seite“, die Teil der Geschichte des Erzbistums sei. Auch das klingt nach Wiederholung.
Natürlich will Marx aufklären, innerhalb der Kirche gemeinsam mit den Betroffenen. Personelle Konsequenzen für sich sieht er nicht. Bereits 2021 hatte er seinen Rücktritt bei Papst Franziskus eingereicht. Dieser lehnte ab, Marx bleibt. Jetzt wartet er auf mehr Akten und Einschätzungen. Vor allem vom emeritierten Papst Benedikt. Dieser äußerte sich auf rund 80 Seiten im Gutachten. Marx lässt sich aber nicht zu einem Urteil über den Ex-Papst hinreißen und verweist darauf, dass ihm dazu die „fachliche Expertise“ fehle. Es bleibt der fahle Geschmack von Vertuschung, von der Ahnung, dass die Täter und diejenigen, die sie deckten, unantastbar bleiben.
„Es gibt keine Zukunft des Christentums in unserem Land, ohne eine erneuerte Kirche.“ Dies ist einer der wenigen Sätze des Kardinals, der von minimaler Selbsterkenntnis zeugt. Es brodelt in den Gemeinden. Wütend sind die, die aus Überzeugung seit Jahren für die Kirche arbeiten. Es geht um mehr als um Kirchenaustritte. Es geht um die Restglaubwürdigkeit einer Institution. Erschütterung rettet sie nicht, vielleicht ein Schuldeingeständnis mit juristischen und personellen Folgen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken