Die Grünen nach der Europawahl: Das Ende einer Jugendbewegung
Nach der Europawahl sehen die Grünen alt aus. Besonders die Jugend ist ihnen abhandengekommen. Jetzt suchen Forschung und Partei nach Erklärungen.
E lias Baber ist einer von denen, über die sich die Grünen seit Tagen den Kopf zerbrechen. Eigentlich hätte der 20-Jährige, der in Heidelberg studiert, die Partei am letzten Sonntag wählen sollen: Großgeworden ist Baber mit der Klimabewegung, als er in der 9. Klasse war, lief er bei Fridays for Future mit. Drei Jahre später, bei seiner ersten Bundestagswahl, hat er der Partei auch noch seine Stimme gegeben. Jetzt hat sie ihn aber nicht mehr überzeugt. Bei der Europawahl hat er die Linke gewählt.
„Ich bin linker geworden und die Grünen sind nach rechts gerückt“, sagt er. „Ich kann nachvollziehen, dass man in der Regierung Kompromisse machen muss. Aber wenn man nur regiert, um rechte Politik zu machen, kann man es auch sein lassen.“ Die Bezahlkarte für Asylbewerber*innen, die Abschottungspolitik der EU, die Sparpolitik der Ampel, die verfehlten Klimaziele: „Dass die Grünen das alles mittragen, macht sie für mich unwählbar“, sagt Baber.
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Für die Grünen war die Europawahl insgesamt ein bitteres Erlebnis, sie erhielt nur 11,9 Prozent der Stimmen. Besonders ins Auge sticht aber ihr Ergebnis bei jungen Wähler*innen: Bei den Unter-25-Jährigen verloren die Grünen im Vergleich zur Wahl 2019 ganze 23 Prozentpunkte.
Das ist ein Schock für die Partei, auch wenn einige die Anzeichen schon vor dem Wahltag gesehen hatten. Begonnen hat der Prozess schon vor Jahren. Im Vergleich zur Europawahl 2019 hatten die Grünen unter den Jüngeren schon bei der Bundestagswahl 2021 über elf Prozentpunkte verloren.
Like a Rolling Stone
Bundestagsabgeordnete berichten, dass bei Besuchen von Schulklassen die Fragen zunehmend kritischer geworden seien. Nach Enthüllungen über die AfD und Demonstrationen für die Demokratie in diesem Jahr sind eher die Älteren in die Partei eingetreten, unter anderem eine Hundertjährige. Das ist ein Unterschied zu der letzten Eintrittswelle vor fünf Jahren, als eher junge Leute Mitglieder der Grünen wurden.
Die Tendenz hat die Grünen also nicht komplett kalt erwischt. Das Ausmaß schon. Ein bisschen geht es den Grünen wie den Rolling Stones, die sich selbst vielleicht noch heute als cool bezeichnen würden. Einige 60-Jährige teilen diesen Eindruck wohl auch noch. Trotzdem musste die Band irgendwann feststellen, dass die 16-Jährigen auf ihren Konzerten eher nicht mehr auftauchen.
Zu sicher war sich die Partei, bei den Jungen im Vorteil sein. So war es schließlich immer. Aktuell haben die Grünen noch dazu eine junge Parteivorsitzende und fast zwei Dutzend Abgeordnete unter 30. Und trotzdem: Was die jungen Wähler*innen wollen, haben die Grünen aus den Augen verloren.
Umso größer ist die Aufregung jetzt. In diversen Runden haben die Grünen in dieser Woche begonnen, das Wahlergebnis als Ganzes aufzuarbeiten. Vor allem an die Parteivorsitzenden ist die Erwartung jetzt groß, eine gründliche Analyse vorzulegen und Konsequenzen vorzuschlagen – schnell genug, um bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr wieder besser abzuschneiden. Eine einfache Aufgabe ist das aber nicht, allein schon, weil die Grünen laut Daten zur Wählerwanderung in fast alle Richtungen verloren haben.
Die Corona-Pandemie wirkt nach
Das Wahlverhalten der Jungwähler*innen ist besonders ausdifferenziert. Der Student Elias Baber, der mit der Klimabewegung groß wurde, steht nicht prototypisch für alle. Die stärksten Gewinne bei den Jüngeren hat die AfD zu verzeichnen, bei ihnen ist sie jetzt genauso beliebt wie in der Gesamtbevölkerung. Auch die CDU hat zugelegt.
Auf der anderen Seite haben bei den 18- bis 24-Jährigen die Kleinstparteien stark abgeschnitten, darunter solche wie Volt, die teilweise mit grünen Inhalten werben. Die Lage sei zu unübersichtlich, um die Ursachen schon jetzt definitiv benennen zu können, heißt es aus vielen Teilen der Partei. Erste Erkläransätze kursieren aber bereits, und zum Teil helfen sie auch, die Verluste in anderen Altersgruppen zu verstehen.
Fraktionschefin Katharina Dröge, Die Grünen
Dienstagabend in einem Berliner Club: Zwei Tage nach der Wahlniederlage veranstaltet die Bundestagsfraktion ihr Sommerfest. Im Außenbereich begrüßt Fraktionschefin Katharina Dröge die Gäste, in ihrer Ansprache kommt sie an der Europawahl nicht vorbei. Auf einen Aspekt, so die 39-Jährige, haben „wir als Erwachsene“ nicht genug geachtet: Wie die Corona-Pandemie bei den Jungen nachwirkt.
„In den Jahren, in denen man rausgehen will, Party machen, sich verlieben und nicht zu viel mit den Eltern zu tun haben, saßen die zu Hause auf dem Sofa“, sagt Dröge und fügt hinzu: „Wir haben den Moment verpasst, um als Gesellschaft Danke zu sagen und vielleicht auch mal um Entschuldigung zu bitten.“
So oder ähnlich ist das in diesen Tagen in vielen Gesprächen mit Grünen zu hören. Oft ist die Erklärung aber noch unvollständig: Wie kommt es genau, dass heute nicht die Grünen wählt, wer vor vier Jahren im Homeschooling saß? Zumindest im Bund saß die Partei damals ja noch nicht in der Regierung.
Einen Erkläransatz liefert die Studie „Jugend in Deutschland 2024“, für die zu Jahresbeginn bundesweit rund 2000 junge Menschen befragt wurden. Nach der Veröffentlichung im April gab es Kritik wegen methodischer Schwächen, trotzdem hatten die Autoren die Zuwächse für die AfD und die Verluste für die Grünen relativ gut vorhergesagt.
Auch um die Folgen der Pandemie geht es in der Studie. Den Jungen habe es extrem zu schaffen gemacht, so stark die Kontrolle über ihren Alltag zu verlieren. Und entgegen der Erwartung sei ihre innere Anspannung auch Jahre später noch sehr hoch. Die Vermutung der Autoren: Die Pandemie-Erfahrung verstärke die Wahrnehmung neuer Krisen wie Krieg und Inflation, an denen der Einzelne ebenfalls nichts ändern könne. „Hierdurch wird, so ist anzunehmen, das Ohnmachtsgefühl immer wieder aktiviert, das den jungen Menschen im (Unter-)Bewusstsein geblieben ist“, heißt es in der Studie.
Inflation ist die größte Sorge
Umfragen vom Wahltag zeigen, dass soziale Gerechtigkeit diesmal zu den entscheidenden Themen gehörte. Dieser Bereich hat auch bei den Jüngeren an Bedeutung gewonnen. Laut der Studie aus dem April ist ihnen der Klimawandel zwar immer noch wichtig, er wird aber von den neuen Krisen überlagert. Die Inflation bereitet ihnen die größte Sorge, auch die Lage auf dem Wohnungsmarkt steht weit vorne. Das ist kein Wunder, denn die Jüngeren haben tendenziell ein geringes Einkommen, ziehen häufig um und profitieren nicht von alten günstigen Mietverträgen.
Die Grüne Jugend hatte für diese Verschiebung ein besseres Gespür, denn während die Gesamtpartei ihren Wahlkampf unter das Motto „Demokratie verteidigen“ stellte, entschied sich die Jugendorganisation für eine eigene Kampagne unter dem Slogan „Kein Bock auf Krise“. Wer mit einer Krise nach der anderen groß wird, so der Gedanke, für den ist es keine Verheißung, den Status quo zu bewahren.
Sogar Realos fragen sich, was anders laufen muss
Phil Sieben, Sprecher der Grünen Jugend in Sachsen, erinnert sich an ein Gespräch zum Auftakt der Wahlkampagne. Zwei junge Pflegekräfte hätten an seinem Stand über prekäre Arbeitsbedingungen geklagt und resigniert hinzugefügt, dass sich „eh nichts ändert“. Er habe gefragt: „Aber müssen wir das als normal ansehen, dass die Bedingungen so sind? Wenn der politische Wille da wäre, müssten sie das nicht hinnehmen“. Am Ende des Gesprächs habe er die Pflegekräfte überzeugt, sich in Zukunft politisch zu engagieren. Das Gespräch habe ihnen Zuversicht geschenkt.
Seit Sonntag stehen soziale Fragen auch in der übrigen Partei höher im Kurs. Nicht nur im linken Flügel, sondern auch unter Realos macht man sich nach der Wahl Gedanken darüber, was in Zukunft anders laufen muss. Wie sehr sich die Grünen sozialpolitisch anstrengen sollten, ist aber weiterhin nicht Konsens. Und die Umsetzung ist in der Ampel wie so oft nicht einfach: Schon die minimale Erhöhung des Bafög, die der Bundestag diesen Donnerstag beschlossen hat, war nur nach Druck aus den eigenen Reihen im Bundestag möglich.
Aktuell laufen die Verhandlungen über den nächsten Bundeshaushalt, die für das neue soziale Gewissen der Grünen direkt zum Praxistest werden: Verhindern sie am Ende zusammen mit der SPD die massiven Sparvorhaben von FDP-Finanzminister Christian Lindner? Auf der Kippe stehen auch Ausgaben für Projekte wie den Bundesfreiwilligendienst – Geld, das direkt bei jungen Menschen ankommt. Oder eben nicht.
Regieren tut den Grünen weh
In Ländern wie den Niederlanden und Dänemark haben die grünen Parteien bei der Europawahl zugelegt. Dort sitzen sie aber auch in der Opposition. Und weil die Grünen in Deutschland stark an die progressiven Kleinparteien verloren haben, liegt die Vermutung nahe, dass die Kompromisse in der Koalition, nicht nur beim Haushalt, zu Kosten der Kernwähler*innen gehen.
Emilia Fester, 26, ist 2021 als jüngste Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. „Viele Junge hatten große Hoffnung in unsere Regierungsbeteiligung gesetzt, die dann durch unzufriedenstellende Kompromisse enttäuscht wurden“, sagt sie. Die junge Abgeordnete hätten sich in solchen Momenten immer wieder bemerkbar gemacht, zum Beispiel in der Asylpolitik. „Ich fände es richtig, jetzt in der Ampel öfters klare Kante zu zeigen. Wir müssen aber auch besser erklären, dass wir in der Verantwortung stehen und um Kompromisse nicht immer herumkommen.“
Kilian Hampel, Politikwissenschaftler
Realo-Grüne verweisen allerdings auf die Verluste der Grünen in Richtung CDU/CSU, die zum Teil ebenfalls auf die Jungen zurückgehen: Sie halten es für problematischer, von Wähler*innen der Mitte als kompromisslos wahrgenommen zu werden – auch in der Asylpolitik. Und es gibt in der Partei eine große Scheu davor, Konflikte in der Ampel öffentlich auszutragen – das würden die Wähler*innen nicht schätzen.
Ein Grundproblem der Grünen im Jahr 2024 wird daran deutlich: In ihren Hochzeiten ist es ihnen gelungen, sowohl ihr Kernklientel zu mobilisieren als auch neue Wählerschichten anzusprechen. Als Regierungspartei in Krisenzeiten funktioniert im Moment nichts von beidem so richtig. Klar für einen der beiden Pole will sich die Partei aber nicht entscheiden und die zündende Idee dafür, wie beides zugleich gehen könnte, fehlt bisher.
Für junge Menschen, auch das zeigen Studien, sind soziale Medien die wichtigste Nachrichtenquelle. Wer dort nicht auftaucht, wird kaum wahrgenommen. Laut Kilian Hampel, einem der Autoren der Jugendstudie aus dem April, diskutieren Jugendliche zwar viel über politische Themen. Die Parteien seien ihnen aber oft zu weit weg. „Um sie zu erreichen, muss man sie kommunikativ an die Hand zu nehmen, sie einfach und direkt ansprechen. Die populistischen Parteien schafften das bisher besser als die etablierten“, sagt der Politikwissenschaftler. Die AfD hat das schon lange verstanden und erreicht in den Sozialen Medien täglich Millionen Menschen.
Soziale Medien verstärken stereotype Rollenbilder
Über die Grünen dagegen dominiert gerade auf TikTok Hetze. So behauptet dort ein junger Mann vor blauem Hintergrund: „Linksgrüne Eliten wollen uns ihr Weltbild aufdrücken“. Dann wird der Politikchef des rechten Nachrichtenportals Nius eingeblendet, der vor den öffentlich-rechtlich Medien warnt. Belege für seine Behauptungen liefert er nicht.
Nius hat fast 150.000 Follower und über 7 Millionen Likes. Gerade junge Männer könnten von einer gezielten Ansprache profitieren, sagt Studienautor Kilian Hampel. Durch die sozialen Medien würden stereotype Rollenbilder verstärkt, was insbesondere konservative junge Männer anspreche. Andere Parteien sollten sich dessen bewusst sein.
Erst kurz vor der Europawahl haben die Grünen angefangen, die Plattform zu bespielen. Sie haben Personal hineingesteckt und eigene Formate entwickelt. „Deutschlandtour – wie Hafti“, sagte zum Beispiel Parteichef Omid Nouripour zum Start seiner Wahlkampftour im Mai. Damit spielte er auf Haftbefehl an, einem beliebten Rapper. Die TikToks der grünen Außenministerin Annalena Baerbock und dem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck zur Europawahl wurden jeweils fast 200.000 Mal angesehen. Auf Augenhöhe mit der AfD sind die Grünen nach zwei Monaten natürlich nicht.
Manche Grüne berichten auch davon, dass sich an den Wahlkampfständen gezeigt habe, dass unter den Jüngeren die Situation in Gaza ein großes Thema sei. Von den Grünen und Außenministerin Baerbock wünschten sich viele von ihnen mehr Kritik an der israelischen Regierung.
Es ist nicht alles verloren
„Unsere Aufgabe als bündnisgrüne Partei ist es, der Verantwortung gerecht zu werden, einerseits unverrückbar an der Seite Israels zu stehen und andererseits auch immer für Menschenrechte einzustehen“, sagt der Abgeordnete Kassem Taher Saleh, 31. Wo sich das scheinbar widerspricht, müssten beide Aspekte miteinander in Einklang gebracht werden. „Dieser Verantwortung werden wir gerade nicht gerecht. Das Leid in Gaza ist für jeden sichtbar, der hinschaut. Das merken die Menschen und geben uns nicht mehr ihre Stimme.“
Das Problem sehen auch andere in der Partei. Eine einfache Lösung liegt aber auch hier nicht auf der Hand. Die Außenministerin ist über die letzten Monate schon mehr und mehr auf Distanz zur israelischen Regierung gegangen.
Zumindest mit einem können sich die Grünen trösten: Es ist nicht alles verloren. Laut Politikwissenschaftler Hampel sind Europawahlen ein Experimentierfeld, auch, weil es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt. Der Erfolg der Kleinparteien muss sich also bei der Bundestagswahl nicht wiederholen. Auch insgesamt ist laut Hampels Studie das Wahlverhalten der Jungen „sehr volatil“. Das heißt: Mit der richtigen Ansprache können sie auch schnell wieder von anderen Parteien überzeugt werden.
Sogar Elias Baber, der Student aus Heidelberg, könnte sich vorstellen, in Zukunft wieder die Grünen zu wählen. Bevor es so weit kommt, müsste aber viel passieren. „Die Grünen sollten es machen wie die FDP und bei einem Thema wie der Bezahlkarte keine Angst davor haben, im Zweifel die Koalition platzen zu lassen. Die Ampel-Politik ist so scheiße, dass es bei einem Regierungswechsel auch nicht viel zu verlieren gibt“, sagt er.
Aber da ist es mit den Grünen so eine Sache: Bevor sie eine Regierung verlassen, müssen sie noch einige Wahlen verlieren.
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