Italiens Schuldenstreit mit der EU: Wir machen Schulden, basta!
Warum braucht es eine rechtspopulistische Regierung, um gegen das Spardiktat aus Brüssel aufzumucken?
In dieser Situation steckt ein veritables Dilemma. Es geht nicht um eine neue Euro-Krise. Sondern darum, dass es ausgerechnet erklärte Europafeinde sind, die in ihrem Land eine neue Sozialpolitik durchsetzen wollen – was offenbar nicht mit, sondern nur gegen die EU geht.
Der Reihe nach. Der zentrale Punkt im Konflikt der Italiener mit Brüssel ist die Neuverschuldung von 2,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die das Land 2019 anpeilt. Zwar erlaubt der Vertrag von Maastricht drei Prozent, eine Hürde, die viele Staaten oft gerissen haben. Aber der während der Eurokrise geschlossene Fiskalpakt verpflichtet die Euroländer zu weit mehr: Wer beim Gesamtschuldenstand über 60 Prozent liegt, muss Schulden abbauen. Italien hat 130 Prozent.
Die Koalition in Rom zwischen der 5-Sterne-Bewegung unter Luigi Di Maio und der Lega unter Matteo Salvini wollen trotzdem weg vom Sparkurs. Versprach die Vorgängerregierung Brüssel noch eine Neuverschuldung von 0,8 Prozent, will die Koalition jetzt einen expansiven Haushalt: Weg von der Austerität, um Wachstum zu ermöglichen. Schon im Wahlkampf hatten sowohl die Fünf Sterne als auch die Lega immer wieder deutlich gemacht, wie wenig sie von der EU und dem Fiskalpakt halten.
Um diesen Eindruck zu zerstreuen, ließ Salvini schon Ende Mai 2018 zur Regierungsbildung in großen Lettern auf der Fassade des Parteisitzes in Mailand den Slogan „Basta Euro!“ überpinseln. Der Freund von Marine Le Pen steht trotzdem in Verdacht, die EU und den Euro sprengen zu wollen. Seine Ansagen Richtung EU sind oft herablassend, manchmal verachtend. Er spreche „nur mit nüchternen Leuten“, sagte Salvini oft und bezeichnete EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker damit als Trunkenbold.
In der Haut des parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Contes möchte man dieser Tage also nicht stecken. Am Mittwoch und Donnerstag lief er mit der immer gleichen Botschaft durch Brüssel, wo er sich zum EU-Gipfel aufhielt: Seine Regierung habe einen „schönen Haushalt“ vorgelegt, und über den werde es natürlich einen „konstruktiven Dialog“ mit der EU-Kommission geben.
Der sah dann so aus: EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici überreichte in Rom einen blauen Mahnbrief, in dem er auf „beispiellose“ Abweichungen von den Haushaltsregeln der EU hinweist. Angesichts der Schuldenquote des Landes sei eine „explosive Lage“ entstanden, warnte Moscovici weiter. Auch die deutschen Abgeordneten im Europaparlament schäumten. „Mit diesem Haushaltsentwurf strecken Salvini und Di Maio Europa die Zunge raus“, schimpfte der CSU-Finanzexperte Markus Ferber. Das sei ein „Affront“, auf den die Kommission sofort reagieren müsse. Noch weiter ging der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold. Er hatte bereits Ende September ein Defizitverfahren gegen Italien gefordert – da lag der Budgetentwurf noch nicht einmal vor.
Gleichzeitig sprach sich Giegold jedoch auch für eine Reform des Stabilitätspakts aus, der zu prozyklisch ausgerichtet sei. „Verschuldete Länder haben kaum Chancen, durch Investitionen ihre Wirtschaft wiederzubeleben“, kritisierte Giegold. Mit dem Bruch der Regeln habe Italien dieser überfälligen Reform aber einen „Bärendienst erwiesen“, so der grüne Finanzexperte.
Das gebeutelte Land
Damit verwies er auch auf die realen Probleme Italiens, mit der die römische Regierung umgehen muss. Und das findet sogar bei den Gewerkschaften Anerkennung. Susanna Camusso, Vorsitzende des größten Gewerkschaftsbunds, CGIL, sieht gleich in drei Maßnahmen eine neue „soziale Dimension“: im Grundeinkommen, in der Senkung des Renteneintrittsalters und in der Aufrechterhaltung sozialer Puffer wie dem Kurzarbeitergeld, das in vielen Fällen auslaufen sollte.
So ist das „Bürgereinkommen“, das ab März 2019 gewährt werden soll, eine universelle Grundsicherung für alle, die über weniger als 780 Euro im Monat verfügen. Wer arbeitet und weniger verdient, bekommt eine Aufstockung, wer gar nichts hat, erhält den vollen Betrag – muss aber dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Und auch arme Rentner sollen in Zukunft die „Bürgerrente“ in gleicher Höhe erhalten.
Von bis zu 6,5 Millionen Anspruchsberechtigten ist die Rede. Fünf Millionen Menschen in Italien leben in absoluter Armut, die Hälfte von ihnen lebt im Süden. Viele dieser Menschen fielen bisher durch alle sozialen Netze. Entgegen der allgemeinen deutschen Wahrnehmung ist Italien kein Sozialstaatsparadies: Die Pro-Kopf-Ausgaben der öffentlichen Hand sind seit 1991 kaum gestiegen, sie liegen mit 12.966 Euro pro Jahr niedriger als in Deutschland (15.418 Euro) oder Frankreich (18.027 Euro).
Kein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Die öffentlichen Investitionen etwa in Straßen, Schienen oder Schulden haben sich seit 2010 fast halbiert. Ausgaben für Gesundheit und Bildung gehen permanent zurück – die Regierungen haben beispielsweise die Unterstützung für Studierende aus Familien mit niedrigem Einkommen zusammengestrichen.
Die Beispiele zeigen, dass sich die letzten Regierungen in Rom weitgehend an die Vorgaben aus Brüssel gehalten haben und trotzdem blieb das Wachstum hinter dem EU-Schnitt zurück. Der Schuldenberg ist nach jahrelanger Austeritätspolitik nicht geschrumpft, er verharrt auf gefährlich hohem Niveau.
All das erwähnt die EU-Kommission aber nicht. Gravierend hinzu kommt, dass die realen Löhne in Italien seit der Jahrtausendwende fast stagnieren – wo die Leute wenig Geld in der Tasche haben, wächst die Wirtschaft auch nicht.
Auch die Rentenreform der Regierung in Rom lässt sich sozial rechtfertigen. Sie korrigiert eine Reform von 2011, als das Rentenalter auf 67 Jahre angehoben wurde. In Zukunft sollen alle mit mehr als 38 Beitragsjahren im Alter von 62 in Rente gehen können. So würden auch, erklärte Di Maio, Arbeitsplätze für Jüngere frei.
Wer ist hier sozial?
Für die EU steht im Budgetstreit mit Italien also viel auf dem Spiel. Da geht es zum einen um die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspakts für den Euro. Zum anderen geht es um die Frage, wie die EU endlich wegkommt vom Image sozialer Kälte. Die EU-Kommission hat versprochen, eine „Säule sozialer Grundrechte“ aufzubauen und sozialpolitische Aspekte bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik stärker zu berücksichtigen.
Sozialreformen kosten nicht nur, sie schaffen oft auch Kaufkraft und damit Nachfrage und Wachstum, außerdem sorgen sie für politische Stabilität, was auch gut für die Wirtschaft ist. Das könnte künftig bei der Überwachung von Haushaltsdisziplin stärker berücksichtigt werden. Im Streit mit Italien geht Moscovici jedoch mit keinem Wort darauf ein. Soziale Sicherheit und Stabilität spielen immer noch eine Nebenrolle.
Beim EU-Gipfel am Donnerstag bekam die Kommission dafür Rückendeckung. Vor allem die Niederlande und Österreich forderten ein hartes Durchgreifen gegen die „Schuldensünder“. Auch Deutschland gehört wie schon in der Griechenlandkrise 2015 zu den Hardlinern.
Doch diesmal agiert die Bundesregierung lieber geräuschlos hinter den Kulissen. Grund dürfte die Sorge sein, dass das ohnehin schlechte Image Deutschlands in Italien noch mehr leiden könnte, wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt.
Ganz andere Töne kommen aus dem Wirtschafts- und Sozialausschuss in Brüssel, der die EU-Kommission berät. Die Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe, Gabriele Bischoff, fordert die EU-Behörde auf, im Streit über das italienische Budget auch sozialpolitische Aspekte zu berücksichtigen. „Die Fünf-Sterne-Bewegung begründet die neuen Schulden auch mit der Einführung einer Grundsicherung“, sagte sie im Gespräch mit der taz. Die EU-Kommission dürfe darüber nicht einfach hinweggehen. „Das ist ein wichtiger Test für die soziale Säule“, so die SPD-Politikerin.
Martin Schirdewan, der für Die Linke im EU-Parlament sitzt, kritisiert, dass nationale Regierungen wegen des Fiskalpakts keinen Spielraum für Sozialreformen haben. Dadurch würden Regierungen wie die in Rom erst an die Macht gespült. „Rechtspopulistische Sozialreformen richten sich immer an die Teile der Gesellschaft, die ins Bild der Parteien passen“, sagt er. Migranten und andere Minderheiten würden dagegen ausgeschlossen. Sozialpolitik könne man das kaum nennen.
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