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Debatte Lampedusa-UnglückSchlimmer als vor der Katastrophe

Michael Braun
Kommentar von Michael Braun

Vor fünf Jahren ertranken 368 Menschen im Mittelmeer. Danach wurde die italienische Rettungspolitik humaner – geblieben ist davon leider wenig.

Bootsflüchtlinge vor der libyschen Küste, August 2018 Foto: dpa

N ur wenige hundert Meter waren sie von der rettenden Küste Lampedusas entfernt, doch es half ihnen nicht: 368 Menschen – die meisten von ihnen Eritreer – ertranken im Morgengrauen des 3. Oktober 2013, als ihr von Libyen aus in See gestochenes Schiff kenterte. Die Katastrophe wurde zum Fanal für Italien, ja für Europa. Sie richtete den Blick auf das tagtägliche Flüchtlingsdrama, das sich im Mittelmeer abspielte und weiterhin abspielt. Endlich, so dachte man damals.

Medienteams aus aller Welt trafen seinerzeit auf Lampedusa ein. Voller Betroffenheit berichteten sie, ließen die Angehörigen der Toten, die Retter und die Helfer zu Wort kommen. Mit einem Mal verwandelten sich Zahlen in Schicksale. Durch die TV-Schaltungen und Artikel waren Flüchtlinge und Migranten mit einem Schlag nicht mehr anonym.

Es war eine Wende in der Wahrnehmung, die auch eine Änderung in der Politik einleitete. Nur wenige Tage später, am 11. Oktober 2013, ging zwischen Malta und Sizilien ein weiteres Schiff unter. Mehr als 250 syrische Flüchtlinge bezahlten mit dem Leben, dass Malta und Italien sich gegenseitig stundenlang die Verantwortung für den Rettungseinsatz zugeschoben hatten.

Doch danach wachte wenigstens Italiens Politik auf. Der damalige Ministerpräsident Enrico Letta ordnete – im Namen der Humanität – die Mission „Mare Nostrum“ an. Seitdem waren die Schiffe der Küstenwache, der Marine und der Finanzpolizei mit dem Auftrag unterwegs, Menschenleben zu retten und weitere Katastrophen zu verhindern. Die Abschottung Europas stand nicht mehr im Mittelpunkt.

Nur eine Episode

Und die EU zog nach, wenn auch halbherzig. Mit der Mission EuNavforMed übernahm sie ein Jahr später offiziell zwar vor allem den Kampf gegen Schleuser, faktisch aber retteten europäische Marineschiffe tausende Menschen vor der Küste Libyens, gemeinsam mit italienischen Einheiten sowie zahlreichen NGO-Schiffen. Und alle konnten bei ihren Einsätzen auf die Koordinierung der italienischen Küstenwache zählen.

Doch was als Umkehr in der Flüchtlingspolitik erschien, sollte sich als bloße Episode entpuppen. „Nie wieder eine Tragödie wie die von Lampedusa“, tönte noch Matteo Renzi, nachdem er im Februar 2014 die Regierungsgeschäfte in Rom übernommen hatte. Doch es war dann Renzi selbst, der den Kurswechsel zurück zur Politik der Abschottung vollzog. Renzi schloss mit Libyens Regierung sowie diversen Warlords gegen Millionen-Zahlungen Verträge, damit die Flüchtlinge nicht mehr in See stechen oder aber von der libyschen Küstenwache abgefangen werden.

Italiens neue Regierung aus Fünf Sternen und Lega hat diesen Kurs weiter radikalisiert – auch wenn sie ihn nicht erfunden hat. Italiens Häfen sind mittlerweile für Schiffe mit Migranten an Bord geschlossen, die NGOs wurden aus dem Feld gedrängt, die Küstenwache weigert sich, überhaupt noch Rettungseinsätze zu koordinieren. Das ist nicht bloß ein Zurück zu den Zeiten vor der Tragödie von Lampedusa, es ist weit mehr: Innenminister Matteo Salvini meint es ernst mit seinem Totalstopp für Flüchtlinge und Migranten, er will die „australische Lösung“.

Und die EU? Die mag sich aufregen über die Haushaltspläne der italienischen Regierung, doch gegenüber ihrer Politik der Totalabschottung lässt sie Einwände nicht laut werden. Man toleriert, dass das Todesrisiko im Mittelmeer dramatisch gestiegen ist, und dass von der libyschen Küstenwache aufgegriffene Flüchtlinge in Lager zurückgebracht werden, in denen Folter auf der Tagesordnung steht. Das ist die Realität – fünf Jahre nach Lampedusa.

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Michael Braun
Auslandskorrespondent Italien
Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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4 Kommentare

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  • 8G
    83492 (Profil gelöscht)

    "Sind 100 Tote schlimmer als einer? "



    Ja. Wegen der Opferzahlen ist ein Genozid schlimmer als ein rassistisch motivierter Mord.

    "Wofuer steht Europa, wenn der angeblich existente Sozialstaat vor Hilfsbeduerftigen "geschuetzt" wird?"



    Die Existenz ist nicht nur "angeblich". In Deutschland ist seine bedingungslose Leistungsausschüttung an jeden, der sich im Staatsgebiet aufhält *derGrund warum dieses Land als Migrationsziel attraktiver als andere Länder Europas ist.

    Die Existenz eines Sozialstaates ist an Bedingungen geknüpft. Ein hinreichend kleines Verhältnis von Leistungsempfängern zu Leistungserbringern ist eine davon. Und diese gerät durch die aktuelle Migration in Gefahr.

    "Warum werden Banken gerettet"



    Die Begründung ist, dass im Falle einer Nichtrettung die Konsequenzen für alle noch schlimmer wären. Glaubensfrage.

    "Der tag, an dem Europa sich wieder daran erinnern wird, warum man einst die Menschenwuerde als Basis aller politischen Entscheidungen nahm"



    Die Menschenwürde war nie alleinige Basis politischer Entscheidungen. Es gibt Situationen, in denen werden elementare Menschenrechte Einzelner geopfert um das System zu retten. Von Soldaten wird z.B. erwartet, den Kopf hinzuhalten wenn "unsere Freiheit auch am Hindukusch verteidigt wird".

    Ich denke auch, Sie überfordern dieses Land, wenn Sie ihm die Durchsetzung der Menschenrechte für alle Menschen der Welt aufbürden. Es gibt auch die Verantwortung jedes Einzelnen, sich für seine Interessen selber einzusetzen.

    "also nur weiter so. man kann sich alles schoenreden."



    So wie ich Ihren Beitrag verstehe, möchten Sie alle aufnehmen, die kommen wollen. Ich denke, Sie machen sich Illusionen wenn Sie glauben, dass das ohne tiefgreifende Verwerfungen bis hin zu großflächigem Verlust der staatlichen Ordnung (Chemnitz in bundesweit) funktionieren kann.

    "die frage ist nur, ob es nach dem naechsten grossen krieg ..."



    Hier noch ein Link, der Ihnen die Angst vor dem Nuklearkrieg etwas nimmt: www.cser.ac.uk/

    • 8G
      83492 (Profil gelöscht)
      @83492 (Profil gelöscht):

      War als Antwort an taz.de/!ku45940/ gedacht.

      @taz : Bitte repariert doch Eure Forensoftware. Früher war alles besser, ehrlich :-)

  • Das Risiko pro Überfahrt ist zwar stark gestiegen, aber zur Wahrheit gehört auch, dass die absolute Todesrate deutlich gefallen ist, da es sehr viel weniger Überfahrten gibt.

    • @Suki Matsuki:

      Sind 100 Tote schlimmer als einer? Hilft es dem Einen/der Einen, wenn die anderen 99 nicht sterben?



      Was gibt es in Europa zu schuetzen, dass wichtiger als die Leben der Menschen sind, die vor Elend und Not fliehen, die zu einem grossen Teil durch EU-Politik verursacht werden. Wofuer steht Europa, wenn der angeblich existente Sozialstaat vor Hilfsbeduerftigen "geschuetzt" wird?



      Warum werden Banken gerettet, Betrueger subventioniert (Umtauschpraemien, Abwrackpraemien...), aber fuer die Armen ist kein Geld da. Sind es denn keine Menschen, fuer die der Humanismus gelten muesste? Was unterscheidet unsere Ausbeutungssysteme noch von denen unserer Ahnen, wenn wir zur Barbarei zurueckkehren? Warum sind die, denen es nicht am schlechtesten geht wieder der Meinung, sie koennten niemals zu denen gehoeren, denen es am schlechtesten geht und deshalb braeuchten diese keine Rechte? Weil man dann selbst etwas weniger profitiert, als wenn man die aus Knochen und Elend gebauten Pfruende der kapitalistischen Produktionsweise dann selbst etwas weniger ausnutzen kann?

      Der tag, an dem Europa sich wieder daran erinnern wird, warum man einst die Menschenwuerde als Basis aller politischen Entscheidungen nahm, ist mMn naeher als die meisten denken. Sehr lange werden sich die Spannungen zwischen anspruch und wirklichkeit auch hierzulande nicht mehr kitten lassen, nicht nur global. denn sie werden immer und immer staerker, weil niemand, der es koennte, versucht etwas zu aendern. (Anspruch = Menschenwuerde, -Rechte; Realitaet = H4, kein Kohleausstieg, Menschen saufen ab und Bonzen bereichern sich an Kriegen (Jemen...))



      Und bald sind die Spannungen dann so gross, dass es wieder heisst: alle gegen alle. und unsere Kinder haben dann eine strahlende zukunft vor sich. die frage ist nur, ob es nach dem naechsten grossen krieg menschen ueberhaupt noch moeglich sein wird, auf der erde so etwas wie 'zivilisation' zu schaffen.

      also nur weiter so. man kann sich alles schoenreden.