Hybris des Westens in Afghanistan: Null moralische Lufthoheit
Der Westen hat sein Recht verspielt, sich über die Taliban zu erheben. Wiedergutmachung ist angesagt, nicht erneute Großspurigkeit.
D ie Taliban beherrschen wieder Afghanistan – fast 25 Jahre, nachdem sie zum ersten Mal in Kabul einzogen und knapp 20 Jahre, nachdem sie infolge der Anschläge vom 11. September von der Macht vertrieben wurden. Es gibt nur sporadischen Widerstand, dafür aber eine allumfassende Angst bei jenen Afghan:innen, die für ein demokratisches Projekt die Hoffnung in den Westen gesetzt hatten.
Die Versprechen des Westens sind von Anfang an Lippenbekenntnisse gewesen. Die Hybris des Westens was so groß, dass die Möglichkeit einer Niederlage nie einkalkuliert wurde. Jetzt wird angesichts der desaströsen, weil höchst unvollständigen Evakuierung der afghanischen „Partner“ endgültig sichtbar, wie massiv das Scheitern des Westens ist – politisch und moralisch.
Jetzt läuft die Debatte, ob man mit den Taliban reden oder besser Druck ausüben, sie gar boykottieren und sanktionieren soll. Das wird oft von der noch offenen Antwort auf die Frage abhängig gemacht, ob das neue Regime in die repressiven Praktiken der ersten Taliban-Herrschaftszeit (1996–2001) zurückfallen wird oder gewisse, ebenfalls umstrittene Anzeichen von Mäßigung sich verfestigen werden.
Die Taliban haben in den letzten 25 Jahren vieles dafür getan, dass große Skepsis herrscht: Massaker, öffentliche Hinrichtungen, die fast totale Verbannung von Frauen aus dem öffentlichen Leben; später Anschläge mit einer hohen Zahl ziviler und anderer Opfer. Das setzte sich mit weiteren Gräueltaten während ihrer militärischen Offensive fort, an deren Ende die kampflose Übernahme der Hauptstadt Kabul stand.
Die neuen Massaker
Die inzwischen in Auflösung befindliche Afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) sowie Human Rights Watch (HRW) dokumentierten frühzeitig Talibanmassaker an gegnerischen Kombattanten, aber auch Unbeteiligten am 14. Juli in der Grenzstadt Spin Boldak bei Kandahar und bereits Anfang Juli im Distrikt Malestan, der von Angehörigen der Minderheit der schiitischen Hasara bewohnt wird.
Ebenfalls am 14. Juli veröffentlichte CNN ein Video, das zeigt, wie Taliban im Landesnorden afghanische Kommandosoldaten erschießen, die sich ihnen ergeben hatten. Jüngst legte die Talibanführung Frauen in Arbeit – mit Ausnahme jener im Gesundheitswesen – nahe, aus „Sicherheitsgründen“ bis auf Weiteres zu Hause zu bleiben. Wenn sich das verstetigt, wäre das ein Rückfall in böse alte Zeiten.
Die Regierungen des Westens aber sind längst nicht mehr in einer Position, sich über die Taliban zu erheben. Einige der am heftigsten kritisierten brutalsten Vorgehensweisen haben sich die Taliban von ihnen abgeschaut. Das reicht von der Doppelstrategie, gleichzeitig Krieg und Friedensgesprächen zu führen bis zu gezielten Tötungen ihrer vermeintlichen Feinde, etwa von Regierungsmitarbeitern.
Es war die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton, die die US-Strategie des „fighting and talking“ zur gleichen Zeit entwickelte. Das „decapitating“ (die Enthauptung) der Talibanführung bis auf die Distriktebene durch Drohnenschläge und nächtliche Kommandounternehmen nach dem Prinzip „kill or capture“ wurde als Aufstandsbekämpfungskonzept des US-Militärs entwickelt.
Taliban übernehmen Nato-Jargon
Auch die Bundeswehr und der BND lieferten Ziele für die euphemistisch „Gemeinsame Prioritätswirkungsliste“ (JPEL) genannten Zielliste der Nato-Truppen zu. Die Taliban übernahmen auch den Nato-Jargon für zivile Opfer: „Kollateralschaden“. Zudem verhinderte der Westen systematisch, dass Kriegsverbrechen früherer Kriegsphasen aufgearbeitet wurden, da die mutmaßlich Verantwortlichen zu ihren Hauptverbündeten im Kampf gegen die Taliban gehörten. Doppelte Standards verspielen Glaubwürdigkeit.
In diesem Klima fallen auch ungeprüfte Berichte auf fruchtbaren Boden, etwa ein UN-Report, der an die Medien geleakt wurde und demzufolge die Taliban „die Jagd auf alle Kollaborateure des früheren Regimes intensivieren“ und sie schlimmstenfalls „hinrichten werden“. In der Tat gibt es Anzeichen dafür, dass der Taliban-Geheimdienst nach vorbereiteten Listen potenzielle Gegner einschüchtert; in einigen Fällen berichteten Angehörige von Verhaftungen.
Die norwegische Zeitung Morgenbladet hat jetzt recherchiert, dass der Bericht von einem Ein-Mann-Institut stammt, das selbst renommiertesten Afghanistan-Forschern des Landes bisher unbekannt war und dessen Leiter sich bisher vor allem mit Umweltforschung befasste. Sie fanden seine weitreichenden Schlussfolgerungen durch die bisherige Faktenlage nicht gedeckt. UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet bestritt, dass sie den Bericht als Quelle verwendet habe.
Kriegsverbrechen zuverlässig dokumentieren
In dieselbe Kategorie gehört ein Bericht von Amnesty International vom 19. August über ein Massaker im Juli, in dem nicht erwähnt wird, dass AIHRC und HRW bereits darüber berichteten. Schon 2015 hatte die Organisation, einst Goldstandard für die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, auf der Grundlage vermeintlicher Augenzeugenberichte behauptet, die Taliban hätten bei der Eroberung der Stadt Kundus im dortigen Wohnheim Studentinnen vergewaltigt, was sich später als komplett falsch erwies. Will man die Taliban zur Rechenschaft für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen ziehen, müssen sie zuverlässig dokumentiert sein.
Im deutschen Fall entsteht der Eindruck, als ob die Bundesminister, die die Verantwortung für die letzte Episode des deutschen Anteils am Afghanistan-Desaster tragen, jetzt besonders forsch mit wohlfeilen Sanktionen, etwa dem Einfrieren von Entwicklungsgeldern, ihr eigenes Versagen zu kaschieren versuchen. Stattdessen sollten sie Kanäle zu den Taliban offen halten, um selbst kleinste Verbesserungen für die Millionen Menschen herauszuholen, die sie in Afghanistan zurücklassen. Wiedergutmachung ist angesagt, nicht erneute Großspurigkeit.
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