Harvey Weinstein und #metoo: Die Justiz braucht ein Update
Harvey Weinstein soll am Mittwoch erneut vor Gericht. Was es bräuchte: Eine modernisierte Rechtsprechung für Fälle sexueller Gewalt.
2 3 in New York, 16 in Los Angeles. Zu so vielen Jahren hatten die jeweiligen Gerichte Harvey Weinstein wegen Sexualdelikten verurteilt. Doch die 23 Jahre fallen nun erstmal weg. Eine einzige Stimme war es, die am vergangenen Freitag dafür sorgte, dass das New Yorker Urteil von 2020 aufgehoben wurde.
Viele halten das für einen Rückschritt für #MeToo, wo sein Strafverfahren die Bewegung doch ausgelöst hatte. Doch das ist es nicht. Vielmehr zeigt die Entscheidung, dass wir vor lauter gesellschaftlichem Fortschritt vergaßen, dafür zu sorgen, dass auch das Justizsystem mitzieht.
Mit einem Verhältnis von 4 zu 3 entschieden die Richter_innen des Berufungsgerichtes, zum Großteil Frauen, dass das ursprüngliche Urteil unrechtmäßig gewesen sei. Im Verfahren wurden Zeuginnen (z. B. Schauspielerin Lauren Young, Schauspielerin und Produzentin Dawn Dunning und Model Tarale Wolff) über ihre Missbrauchserfahrungen vernommen, obwohl diese Frauen eigentlich nicht Teil der Anklage waren.
Angeklagte dürfen aber nur nach den ihnen vorgeworfenen Taten beurteilt werden, die im Fall Weinstein aus den Vorwürfen zweier anderer Frauen bestanden: Produktionsassistentin Mimi Haleyi soll Weinstein 2006 zum Oralsex gezwungen und die heutige Friseurin Jessica Mann im Jahr 2013 vergewaltigt haben.
Muster der Manipulation
Die Aussagen der zusätzlichen Frauen dienten dazu, Muster der Manipulation im Verhalten Weinsteins festzustellen und so zu zeigen, dass es sich wie im Fall der Klägerinnen nicht um konsensuellen Sex handelte, wie die Verteidigung behauptete. Dass der ursprüngliche Richter des Prozesses James Burke zuließ, dass diese zusätzlichen Frauen vernommen wurden, soll ein Fehler gewesen sein. So sahen es nun auch die Richter_innen, nachdem Weinsteins Verteidiger in Berufung gegangen waren. Das New Yorker Berufungsgericht hat die Hoheit über alle anderen Gerichte New Yorks.
Aus verschiedenen Gründen bestand die Basis des Prozesses nur aus den Erfahrungen zweier Frauen. Andere mutmaßliche Opfer kamen aus anderen Staaten, erfuhren „nur“ sexuelle Belästigung, was so nicht strafbar ist. Oder ihr Fall war verjährt. Wiederum andere sahen sich aus psychischen Gründen nicht dazu imstande. Deshalb benötigte die Staatsanwaltschaft die zusätzlichen Zeuginnen. Die Präsenz von Zeug_innen, die über frühere schlechte Handlungen des Angeklagten Auskunft geben sollen, sogenannte „Molineux-Zeug_innen“, sollen beweisen, dass es sich um Verhaltensmuster handelt. Weinstein konnte dies aber, laut vier der sieben Richter_innen, nicht nachgewiesen werden.
Ist die Welt, in der wir seit dem Urteil am Freitag leben, nun wieder schlechter geworden? Anhänger der Rechtsprechung dürften sagen: Nein. Einer von Weinsteins Anwälten sagte nach dem gekippten Urteil: „Man kann jemanden nicht aufgrund seines gesamten Lebens verurteilen.“ Im Vakuum eines Gerichtsaals mag das gerecht erscheinen.
Gesetze müssen lebendig sein
Gesetze aber sind immer ein Einblick in die Zeit, in der wir gerade leben. Professor David Strauss von der University of Chicago schreibt, dass auch die Verfassung lebendig ist. „Eine unveränderliche Verfassung würde schlecht zu unserer Gesellschaft passen. Entweder würde sie ignoriert oder, schlimmer noch, sie wäre ein Hindernis, ein Relikt, das uns am Fortschritt hindert (…).“
Sicher, wer Gesetze, gar die Verfassungen ändern will, sollte mehr als ein Mal darüber schlafen. Doch nicht erst die jetzige Aufhebung des Weinstein-Urteils zeigt, dass die Justiz in Sachen sexueller Gewalt ein dringendes Update braucht.
In einer Stellungnahme kritisierten die drei unterlegenen Richter des Berufungsgerichts, dass ihre Kolleg_innen einen gefährlichen Trend fortsetzen würden: Schuldsprechungen in Fällen sexueller Gewalt aufzuheben. War der Weinstein-Fall vor nicht allzu langer Zeit noch ein Lichtblick, ein Meilenstein der Rechtsgeschichte, eine Hoffnung für Opfer von sexueller Gewalt, zeigt die Aufhebung jetzt, dass die rechtlichen Grundlagen dem Wandel dringend folgen müssen. Denn auch wenn #MeToo einen gesellschaftlichen Wandel mit sich brachte – wie viel ist der Wert, wenn es an solch entscheidenden Stellen wie der Verurteilung scheitert?
Kalifornisches Urteil wird auch angefochten
Ob das New Yorker Verfahren erneut aufgenommen wird, muss nun die Staatsanwaltschaft entscheiden. Expert_innen halten das für eher unwahrscheinlich. Und weil die Ausgangssituation ohnehin schon unübersichtlich war (lediglich zwei der Opfer waren Teil der Klage und die hatten zudem zu anderen Zeitpunkten auch konsensuellen Sex mit Weinstein gehabt), werden seine Chancen vermutlich nicht schlecht stehen, sollte das Verfahren erneut aufgenommen werden. Genau deswegen hatte die Staatsanwaltschaft ursprünglich überhaupt erst das Risiko auf sich genommen, die Molineux-Zeuginnen zu vernehmen.
Eine grundlegende Veränderung ist jetzt gefragt. Das Recht muss sich der Realität anpassen. Sonst dürfen die Steven Tylers, Kobe Bryants, Till Lindemanns, Russel Brands, P. Diddys, Prinz Andrews, Kevin Spaceys, Jaime Foxxs, Louis C.Ks und deren Gleichen in alle Ewigkeit mit weißen Westen und süffisantem Lächeln durch die Welt marschieren. Vielleicht auch Weinstein. Denn selbst wenn die 16 Jahre in Los Angeles noch stehen, auch die möchten seine Anwält_innen kommenden Monat anfechten. In diesem Prozess gab es ebenfalls Molineux-Zeuginnen.
Allerdings sehe das Kalifornische Gesetz deren Aussagen als beweiskräftiger an, als es in New York der Fall ist, wie Gloria Allred, eine Anwältin der drei Frauen im Kalifornischen Prozess, der New York Times sagte. Mit dabei im Weinstein-Team für die kommende Anfechtung: Jennifer Bonjean, die Anwältin, die auch Bill Cosby erfolgreich aus dem Gefängnis verhalf.
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