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Harvey Weinstein und #metooDie Justiz braucht ein Update

Valérie Catil
Kommentar von Valérie Catil

Harvey Weinstein soll am Mittwoch erneut vor Gericht. Was es bräuchte: Eine modernisierte Rechtsprechung für Fälle sexueller Gewalt.

Es braucht einen neuen Blick. Weinstein sieht zu Jessica Mann, die ein Statement nach der Urteilsverkündung abgibt, New York 2020 Foto: Jane Rosenberg/REUTERS

2 3 in New York, 16 in Los Angeles. Zu so vielen Jahren hatten die jeweiligen Gerichte Harvey Weinstein wegen Sexualdelikten verurteilt. Doch die 23 Jahre fallen nun erstmal weg. Eine einzige Stimme war es, die am vergangenen Freitag dafür sorgte, dass das New Yorker Urteil von 2020 aufgehoben wurde.

Viele halten das für einen Rückschritt für #MeToo, wo sein Strafverfahren die Bewegung doch ausgelöst hatte. Doch das ist es nicht. Vielmehr zeigt die Entscheidung, dass wir vor lauter gesellschaftlichem Fortschritt vergaßen, dafür zu sorgen, dass auch das Justizsystem mitzieht.

Mit einem Verhältnis von 4 zu 3 entschieden die Richter_innen des Berufungsgerichtes, zum Großteil Frauen, dass das ursprüngliche Urteil unrechtmäßig gewesen sei. Im Verfahren wurden Zeuginnen (z. B. Schauspielerin Lauren Young, Schauspielerin und Produzentin Dawn Dunning und Model Tarale Wolff) über ihre Missbrauchserfahrungen vernommen, obwohl diese Frauen eigentlich nicht Teil der Anklage waren.

Angeklagte dürfen aber nur nach den ihnen vorgeworfenen Taten beurteilt werden, die im Fall Weinstein aus den Vorwürfen zweier anderer Frauen bestanden: Produktionsassistentin Mimi Haleyi soll Weinstein 2006 zum Oralsex gezwungen und die heutige Friseurin Jessica Mann im Jahr 2013 vergewaltigt haben.

Muster der Manipulation

Die Aussagen der zusätzlichen Frauen dienten dazu, Muster der Manipulation im Verhalten Weinsteins festzustellen und so zu zeigen, dass es sich wie im Fall der Klägerinnen nicht um konsensuellen Sex handelte, wie die Verteidigung behauptete. Dass der ursprüngliche Richter des Prozesses James Burke zuließ, dass diese zusätzlichen Frauen vernommen wurden, soll ein Fehler gewesen sein. So sahen es nun auch die Richter_innen, nachdem Weinsteins Verteidiger in Berufung gegangen waren. Das New Yorker Berufungsgericht hat die Hoheit über alle anderen Gerichte New Yorks.

Aus verschiedenen Gründen bestand die Basis des Prozesses nur aus den Erfahrungen zweier Frauen. Andere mutmaßliche Opfer kamen aus anderen Staaten, erfuhren „nur“ sexuelle Belästigung, was so nicht strafbar ist. Oder ihr Fall war verjährt. Wiederum andere sahen sich aus psychischen Gründen nicht dazu imstande. Deshalb benötigte die Staatsanwaltschaft die zusätzlichen Zeuginnen. Die Präsenz von Zeug_innen, die über frühere schlechte Handlungen des Angeklagten Auskunft geben sollen, sogenannte „Molineux-Zeug_innen“, sollen beweisen, dass es sich um Verhaltensmuster handelt. Weinstein konnte dies aber, laut vier der sieben Richter_innen, nicht nachgewiesen werden.

Ist die Welt, in der wir seit dem Urteil am Freitag leben, nun wieder schlechter geworden? Anhänger der Rechtsprechung dürften sagen: Nein. Einer von Weinsteins Anwälten sagte nach dem gekippten Urteil: „Man kann jemanden nicht aufgrund seines gesamten Lebens verurteilen.“ Im Vakuum eines Gerichtsaals mag das gerecht erscheinen.

Gesetze müssen lebendig sein

Gesetze aber sind immer ein Einblick in die Zeit, in der wir gerade leben. Professor David Strauss von der University of Chicago schreibt, dass auch die Verfassung lebendig ist. „Eine unveränderliche Verfassung würde schlecht zu unserer Gesellschaft passen. Entweder würde sie ignoriert oder, schlimmer noch, sie wäre ein Hindernis, ein Relikt, das uns am Fortschritt hindert (…).“

Sicher, wer Gesetze, gar die Verfassungen ändern will, sollte mehr als ein Mal darüber schlafen. Doch nicht erst die jetzige Aufhebung des Weinstein-Urteils zeigt, dass die Justiz in Sachen sexueller Gewalt ein dringendes Update braucht.

In einer Stellungnahme kritisierten die drei unterlegenen Richter des Berufungsgerichts, dass ihre Kolleg_innen einen gefährlichen Trend fortsetzen würden: Schuldsprechungen in Fällen sexueller Gewalt aufzuheben. War der Weinstein-Fall vor nicht allzu langer Zeit noch ein Lichtblick, ein Meilenstein der Rechtsgeschichte, eine Hoffnung für Opfer von sexueller Gewalt, zeigt die Aufhebung jetzt, dass die rechtlichen Grundlagen dem Wandel dringend folgen müssen. Denn auch wenn #MeToo einen gesellschaftlichen Wandel mit sich brachte – wie viel ist der Wert, wenn es an solch entscheidenden Stellen wie der Verurteilung scheitert?

Kalifornisches Urteil wird auch angefochten

Ob das New Yorker Verfahren erneut aufgenommen wird, muss nun die Staatsanwaltschaft entscheiden. Expert_innen halten das für eher unwahrscheinlich. Und weil die Ausgangssituation ohnehin schon unübersichtlich war (lediglich zwei der Opfer waren Teil der Klage und die hatten zudem zu anderen Zeitpunkten auch konsensuellen Sex mit Weinstein gehabt), werden seine Chancen vermutlich nicht schlecht stehen, sollte das Verfahren erneut aufgenommen werden. Genau deswegen hatte die Staatsanwaltschaft ursprünglich überhaupt erst das Risiko auf sich genommen, die Molineux-Zeuginnen zu vernehmen.

Eine grundlegende Veränderung ist jetzt gefragt. Das Recht muss sich der Realität anpassen. Sonst dürfen die Steven Tylers, Kobe Bryants, Till Lindemanns, Russel Brands, P. Diddys, Prinz Andrews, Kevin Spaceys, Jaime Foxxs, Louis C.Ks und deren Gleichen in alle Ewigkeit mit weißen Westen und süffisantem Lächeln durch die Welt marschieren. Vielleicht auch Weinstein. Denn selbst wenn die 16 Jahre in Los Angeles noch stehen, auch die möchten seine Anwält_innen kommenden Monat anfechten. In diesem Prozess gab es ebenfalls Molineux-Zeuginnen.

Allerdings sehe das Kalifornische Gesetz deren Aussagen als beweiskräftiger an, als es in New York der Fall ist, wie Gloria Allred, eine Anwältin der drei Frauen im Kalifornischen Prozess, der New York Times sagte. Mit dabei im Weinstein-Team für die kommende Anfechtung: Jennifer Bonjean, die Anwältin, die auch Bill Cosby erfolgreich aus dem Gefängnis verhalf.

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Valérie Catil
Gesellschaftsredakteurin
Redakteurin bei taz zwei, dem Ressort für Gesellschaft und Medien. Studierte Philosophie und Französisch in Berlin. Seit 2023 bei der taz.
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13 Kommentare

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  • Das Rechtssystem in den USA ist - na sagen wir mal, etwas merkwürdig. Aber damit müssen wir uns in Deutschland nicht ausführlich beschäftigen. Ist Sache der Amerikaner.

    In D besteht wohl eher das Problem, dass Gesetze sehr mild angewendet werden. Zumindest lassen das die Fälle, die es in die Presse schaffen, vermuten. Hier müsste ein Umdenken einsetzen.

    "Modernisierungen" die die Unschuldsvermutung untergraben oder gar abschaffen, sind jedenfalls nicht der richtige Weg. Sie würden unser Rechtssystem weit zurückwerfen.

  • Nur widerlich

  • Ok - versuch‘s mal zum Gewaber.

    Ollen Cato vorweg a 🥱 & a 🥱 -



    Halte #metoo - mit den RAn Plotte von Plottnitz & Claudia Burgsmüller für modernen Pranger •



    Den im Verfahren angezogenen case -



    en.wikipedia.org/w...People_v._Molineux - exakt! einzuordnen einschl.



    der Bedeutung für andere Verfahren und speziell hier - bin ich mangels ausreichender Kenntnis des usaStrProR & Englischkenntnisse 🤐 But



    Auf “nicht zur Anklage gehörender Zeuge“ kippte dess auf -



    “Also: Der Zeuge D r a h t i g. - hat ausgesagt, angegeben, bekundet. c) Nicht erwähnt werden dürfen Sachverhalte, die nicht Gegenstand der Anklage sind, weil.…“



    oberlandesgericht-....de/download/66973



    Auf Seite. 46 dieses Kochbuchs - steht‘s dann genauer ==> Verfahrenseinstellung



    Nach § 170 Abs 2 StPO? oder nach §§ 154 ff StPO!



    Und damit - wie mein StrfRGewährsRA



    & von mir vermutet - vorsichtig formuliert “Man kann es als Ausfluss der Unschuldsvermutung verstehen. Letztlich trifft es aber wohl nicht das Weinsteinproblem? Gab es da eine Art 170 Abs.2? Oder eher 154 oder 153? Ggf dürften entsprechende Vorwürfe im dt Verfahren eingeführt werden, müssten aber m. E. gerichtlich geklärt werden, sollten sie indiziell oder im Strafmaß berücksichtigt werden.“

    kurz - Genau das aber dürfte auch der DrehundAngelpunkt bei Weinstein sein!

    unterm——— Reminiszenz —



    Aus dem richtigen Leben: a friend of mine hatte Grund die Einstellung in den öffentlichen Dienst wg einer Trunkenheitsfahrt & eines § 170 II StPO eingestellten “schlüpfrigen“ Verfahrens - die Schwärzung im polizeilichen Führungszeugnis abwarten.



    Bass erstaunt aber sah er sodann eben diese Akten beim Personaler auf dem Schreibtisch! Der hatte die Schwärzung gegens Licht gehalten!



    ????? - “Das ist reine Fürsorge, um Sie ggf gegen Erpressungen u drgl zu schützen!“ 🤥🤥🤥🤥



    Dumm gelaufen! Denn. “Ich darf um Unterbrechung bitten!“ & Däh => Erlaß - 🚫 -



    “Und falls ich nicht eingestellt werde!



    Haben Sie ein Problem! Wirsing!“

  • Ich verstehe die Intention der Autorin letztlich nicht. Welche Gesetzesänderung schwebt ihr denn vor? Zumal die Erwähnung von Kevin Spacey mindestens unredlich ist, blieb doch nach Jahren Verfahren am Ende nichts übrig (oder irr ich mich da jetzt? Ich verfolg diese Sachen nicht so...). Und so ist das in einem Rechtsstaat - da muss man etwas beweisen. Kann man etwas nicht beweisen, kann auch keine Verurteilung folgen. Sollen man jetzt die Beweispflicht abschaffen... Verurteilungen auf Grund von Beschuldigungen? Oder soll die Justiz bei Formalfehlern bei Sexualdelikten "fünfe gerade sein lassen"? Ich versteh das Dilemma, aber ich fürchte dem wird man mit Gesetzesänderungen nicht beikommen. Die Autorin sollte auch mal darüber nachdenken, dass die Gesetze die im Falle von Weinstein jetzt greifen, ja nicht nur solche Leute schützen, sie schützen ja auch Frauen davor Opfer eines formal verkehrt geführten Prozesses zu werden.



    Mir geht das zu sehr in Richtung Beweislastumkehr. Und das hielte ich für den falschen Weg.

  • Einerseits sollte Recht nicht allzu arg vom Geldbeutel des Angeklagten für Winkeladvokaten abhängig sein.

    Andererseits ist Recht genau dann Recht, wenn es sich regelgemäß-berechenbar fair verhält: in dubio pro reo gehört dazu, und ja, in der Tat, dass man keine Charakter aburteilt, sondern konkrete Taten. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein.



    @Cerberus spitzte daher das Thema nachvollziehbar zu. Wir können alle, was Weinstein vermutlich tat, ablehnen, um selbst für ihn ein korrektes Verfahren wollen zu müssen.

  • Und was genau soll das Update sein? Aufgabe der Unschuldsvermutung?



    Motto: Wer angeklagt wird, der wird auch verurteilt?



    Keine Möglichkeit mehr, ein Urteil überprüfen zu lassen?



    Urteil "nach Gefühlter Schuld"?



    Keine anwaltliche Vertretung mehr?



    Lassen wir die taz-Community abstimmen?



    Das "Gesunde Volksempfinden" wieder mal in den Mittelpunkt stellen?

  • "Eine grundlegende Veränderung ist jetzt gefragt. Das Recht muss sich der Realität anpassen."



    Große Worte. Irgendwelche konkreten Dinge, die angepasst werden sollten?



    Welche Realität genau ist so, dass die Gesetze nicht mehr passen? In welcher Hinsicht?

  • Was die Verfasserin scheinbar begehrt, war unter dem Begriff "gesundes Volksempfinden" fast zwölf Jahre lang Grundsatz deutscher Rechtsprechung. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.

    • @Cerberus:

      Die Autorin sagt nicht, welche Lösung, sie sich vorstellt. Das ist schade, aber das "gesunde Volksempfinden" ist alleine eine Interpretation ihrerseits. Das grundlegende Problem, dass Sexualstraftäter meistens ungestraft davon kommen mit der Nazikeule zu erledigen, ist aber bestimmt auch kein Beitrag zu den Problemen des Rechtsstaates bei Sexualdelikten.

      • @ecox lucius:

        Das ist das Problem, wenn man Anpassungen fordert, aber nicht sagt welche: Leute lesen das und denken sich aus, wie diese Anpassungen aussehen könnten. Und das KANN halt ganz schön hässlich werden, wenn man das Problem wirklich bis zur möglichen Lösung zu Ende denkt.

    • @Cerberus:

      Danach klingt es ein bisschen, ja. Schade dass die Verfasserin hier nicht konkreter wird.



      Geht man von der günstigsten Lesart aus möchte die Verfasserin vielleicht nur die Molineaux Regeln anpassen, und dafür gibt es im im Text verlinkten Urteil durchaus vernünftige Argumente. Ebenso dagegen, siehe die Merheitsmeinung, aber keine der beiden Positionen ist auch nur ansatzweise mit NS-Rechtsprechung vergleichbar.

  • Ein "Verhaltensmuster" kann für die konkret vorgeworfene Straftat maximal ein Indiz sein. Gerade Marginalisierte, die ja vielleicht schon Erfahrung mit einer Kriminalisierung durch die Mehrheitsgesellschaft gemacht haben, sollten da sehr, sehr vorsichtig sein was sie fordern. Denn klar ist natürlich, dass eine Änderung der Beweisregeln nicht nur für die Fälle gelten wurden, wo es echte oder vermeintliche "Schweine" sind denen der Prozess gemacht wird. Und, nur am Rande, vom gesellschaftlichen Wandel, der schnell in die eine oder andere Richtung gehen kann, würde ich die Frage von schuldig oder unschuldig, 23 Jahre Knast oder Freispruch, nur sehr ungern abhängig machen.

  • Das juristische Problem besteht doch eher darin, dass die Staatsanwaltschaft nicht im Fall der anderen Zeug_innen Anklage erheben konnte (wegen Verjährung, Unzuständigkeit etc.), oder verstehe ich das falsch?

    Dann sollte man aber vielleicht genau das ändern, bevor man wesentliche Rechtsgrundlagen über Bord wirft?

    Was die Autor_in in dem Kommentar fordert ist, wenn ich das richtig verstehe, im Wesentlichen, dass es z.B. bei verurteilten Straftätern keine handfesten Beweise mehr brauchen soll um sie immer und immer wieder verurteilen zu können? Weil: "Wir wissen ja schon, dieser Mensch ist zu sowas in der Lage, also wird er's auch in diesem Fall getan haben."

    Wie kommt man auf solche Ideen?