Gefährliche Coronaproteste: Eine rechte Massenbewegung
Immer noch werden die „Spaziergänge“ verharmlost, dabei ist das Bündnis mit den Rechten brandgefährlich. Es braucht Gegenwehr. Ein Wochenkommentar.
M an muss sich einmal vor Augen führen, was derzeit passiert: Eine Massenbewegung, die sich vornehmlich gegen Coronamaßnahmen und eine mögliche Impfpflicht richtet, hat bundesweit die Straßen erobert, mit zunehmender Dynamik auch in Berlin. Angesichts der Vielzahl an Demonstrationen ist ein Überblick kaum mehr möglich. 4.000 Demonstrant*innen bei etwa einem Dutzend Aufzügen waren es am Montag in Berlin, landesweit dürften es deutlich mehr als 100.000 Teilnehmer*innen sein. Woche für Woche.
Sie alle ignorieren das Infektionsgeschehen, laufen ohne Masken und Abstand, stellen also ein Risiko für sich und andere dar. Nicht überall sind die Aufmärsche gewaltvoll, doch es vergeht kein Wochenende und kein Montag ohne dass Polizeiketten durchbrochen, Medienvertreterinnen oder Gegenprotestierende angegangen werden.
In den Kanälen, überwiegend auf Telegram, die zu den Protesten aufrufen, findet sich keine abwägende Kritik oder rationale Argumentation. Stattdessen wird die gesamte Klaviatur an Verschwörungserzählungen und antidemokratischer Hetze bespielt. Die Pandemie? Von der Pharmalobby erfunden. Die Regierung? Gehört bestenfalls vor ein Tribunal gestellt. Die Antifa? Gekaufte antideutsche Pfizer-Jugend. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Das Grundrauschen der Bewegung ist jenes der extremen Rechten; deren Kader auf allen Ebenen, oftmals in federführenden Positionen mitmischen. Bürgerliche und gar alternative Milieus reihen sich in Aufzüge ein, die von der NS-verherrlichenden Partei Der 3. Weg organisiert werden oder freuen sich über den vermummten Block, der ihnen die Straße frei boxt. Sie informieren sich mit von Nazi-Netzwerken entwickelten Online-Tools über die Proteste und laufen Bannern der Identitäten Bewegung hinterher. Nazis sehen sie dabei keine, schließlich demonstrieren sie für „Frieden und Freiheit“ – während ihre Nebenmänner sie dafür benutzen, genau diese Werte abzuschaffen.
Pegida bundesweit
Die demonstrierende Mitte macht sich nicht nur gemein mit extrem rechten Positionen, sondern teilt und verstärkt diese. Die Massenbewegung auf Deutschlands Straßen ist eine rechte, angesichts immer gewaltvollerer Phantasien teilweise eine faschistische. Die extreme Rechte hat ihren Resonanzraum in einem Maße erweitert, wie sie es sich selbst nicht zu träumen wagte. Was einst das überwiegend lokale Phänomen Pegida war, ist heute ein bundesweites Problem.
Es besteht wenig Grund zur Hoffnung, dass sich diese Gefahr in Wohlgefallen auflöst, sollte der Bundestag doch keine Impfpflicht beschließen und die Pandemie vielleicht irgendwann überwunden sein. Die Netzwerke sind geknüpft, Menschen in den Sog von Fehlinformationen gezogen und andere Themen, um Ängste und Wut zu kanalisieren mehr als genug vorhanden. Wer erst mal überzeugt ist, dass Regierung und Medien sowieso systematisch lügen, wird sich auch für Proteste gegen Klimaschutzmaßnahmen, die ebenso als Angriff auf die persönliche Freiheit fehlinterpretiert werden können, mobilisieren lassen.
Problem nicht erkannt
Die nicht im Wahn von „Alternativmedien“ abgedriftete demokratische Zivilgesellschaft und auch große Teile der Linken sind bislang nicht in der Lage, das Problem in seiner Dramatik zu erfassen. Scheinbar ungefährliche Bürger*innen mit Kerzen und Lichterketten lösen nicht dieselben Reflexe und Ängste aus wie stramme Klischee-Rechte. Der Anti-Regierungs-Impuls der Demonstrationen erweckt weniger moralische Empörung als ginge es gegen Migrant*innen und Geflüchtete. Hinzu kommt: Das eigene Unbehagen über eine nicht enden wollende Pandemie und Impfungen, die keinen absoluten Schutz bieten, stimmt mit dem Impuls vieler der Demonstrierenden überein.
Doch in der Stille der schweigenden – geimpften – Mehrheit wächst das Gefühl von Stärke und Macht der lauten Minderheit. Wo lauter Widerspruch ausbleibt, ist man sich der eigenen Theorien noch sicherer. Und wo jede Demo ungestört laufen kann, wird deren Dynamik noch weiter zunehmen. Die Polizei ist entweder nicht willens oder nicht in der Lage, dem Einhalt zu gebieten. Linke Gegenproteste werden zwar mehr, aber bleiben meist klein. Es braucht eine Reaktion der Mehrheit, die sich die Straßen nimmt; die es für die Coronaproteste ungemütlicher macht und damit zumindest deren Mitläufer*innen demobilisiert. Kurzfristig.
Langfristig braucht es viel mehr: Politische Angebote für jene, die sich mitunter auch zurecht von den Regierenden und großen Medien nicht ernst genommen fühlen, Aufklärung über rechte Strukturen, ihre Ziele und Mittel, die Vermittlung von Medienkompetenz. Das Knüpfen von gesellschaftlicher Solidarität. Bleibt all das aus, werden sich immer mehr Menschen in obskure, rechte Theorien und Verschwörungen verlieren. Verlieren wird die Gesellschaft dann als ganzes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind