FDP-Bürgermeister für Tempolimit: Voll am Limit
In Niedersachsen kämpft ein FDP-Bürgermeister für Tempo 30. Kann er seinen Parteikollegen, Verkehrsminister Volker Wissing, überzeugen?
U m zu verstehen, was das Problem mit der deutschen Verkehrspolitik ist, muss man in die Hocke gehen.
Christian Springfeld parkt seinen Wagen an einer Kreuzung, steigt aus und hockt sich an den Straßenrand. Ein kräftiger Mann in gebügeltem Hemd, aber jetzt hat er die Größe eines Sechsjährigen. Er schaut die Seitenstraße runter, norddeutscher Nieselregen, wenig Verkehr an diesem Vormittag. Hier um die Straßenecke steht eine Grundschule. Springfeld will deshalb, dass ein Zebrastreifen auf die Straße gemalt wird, in seiner Stadt.
Christian Springfeld ist der Bürgermeister. Aber über den Zebrastreifen entscheiden darf er nicht.
Springfeld hat sich eine Woche lang morgens an diese Straßenecke gehockt und gezählt, wie viele GrundschülerInnen die Straße überqueren. Das zuständige Amt hatte dafür keinen Mitarbeiter. Na gut, sagte er sich, muss ich das eben selbst machen. Springfeld hat seine Strichliste dann nach Hannover geschickt, ins Verkehrsministerium. Reicht nicht, die Strichliste, haben die gesagt.
Wenn die Kreuzung in einer Gefahrenzone liegen würde, sagte man ihm, wäre das etwas anderes – dann käme man über einen Zebrastreifen vielleicht ins Gespräch. „Wenn hier einer überfahren wird, können wir ja mal drüber nachdenken“, so fasst Springfeld die Antwort aus Hannover sinngemäß zusammen.
Es ist ein Teufelskreis: Je weniger Zebrastreifen, desto weniger Kinder, die zu Fuß zur Schule gehen. Desto mehr Elterntaxis. Desto weniger Gründe, einen Zebrastreifen zu bauen.
Das ist die Logik der Verkehrspolitik. Willkommen in Deutschland, willkommen in Springe.
Die Mittelstadt Springe, das sind eigentlich zwölf zusammengelegte Dörfer und Gemeinden. 30.000 EinwohnerInnen leben hier, auf einer Fläche größer als Leverkusen oder Würzburg. Dazwischen ist Platz – für Felder und Straßen. Niedersachsen zeigt sich hier in seiner ganzen norddeutschen Durchschnittlichkeit. Es gibt ein Gymnasium, ein altes Jagdschloss, bald einen Co-Working-Space. Und eine Bundesstraße, über die täglich Hunderte Lkws in die umliegenden Fabriken rumpeln.
Christian Springfeld ist seit 2016 Bürgermeister hier. Springfeld ist in der FDP. Viele haben ihn trotz, nicht wegen seiner Partei gewählt, sagt er. Und um alle Namenswitze gleich am Anfang abzuräumen: Springfeld sagt, dass es bei der Bürgermeisterwahl sicherlich nicht geschadet hat, dass er seine Stadt im Namen trägt.
Die Mehrheit der Deutschen lebt in Klein- und Mittelstädten wie Springe: Mit einem Regionalbahnhof, von dem man in die nächste Großstadt kommt. Mit Bussen, die zu selten fahren. Mit Autos vor jeder Haustür. Wenn es mit der Verkehrswende, ja mit dem guten Leben klappen soll in Deutschland, dann muss es auch in Springe klappen.
Und, klappt es?
Springfeld hat sich mit 800 weiteren BürgermeisterInnen zusammengeschlossen: Lebenswerte Städte, so heißt die Initiative. Zusammen stehen sie für 32 Millionen EinwohnerInnen, fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung also. Sie wollen selbst entscheiden, wie schnell in ihren Städten gefahren werden darf. Eigentlich eine ziemlich liberale Idee, diese Selbstbestimmung.
Nur: Auf vielen Straßen, insbesondere auf Durchfahrtsstraßen, auf denen schwere Transporter quer durch Ortschaften fahren, erlaubt die Straßenverkehrsordnung den BürgermeisterInnen nicht, selbst zu bestimmen. Denn sie würden gegen die goldene Regel des deutschen Straßenverkehrs verstoßen: Die Regelgeschwindigkeit ist 50 km/h, und Verkehrsfluss geht über alles. „Das ist nicht liberal“, sagt Springfeld.
Christian Springfeld will mehr Zebrastreifen, mehr Tempo-30-Zonen. Eine sichere und lebenswerte Stadt für seine BürgerInnen. Er kämpft mit der Straßenverkehrsordnung, die ihn als Bürgermeister einschränkt. Gegen Regeln, die weit weg von Springe, im Verkehrsministerium in Berlin, gemacht werden. Und damit kämpft er irgendwie auch gegen seine Partei, die FDP.
Springfeld kommt aus der Hocke wieder hoch, steigt wieder ins Auto, fährt weiter, eine Hand auf dem Lenkrad, die andere auf dem Schaltknüppel. Und wenn man hinter ihm auf der Rückbank sitzt und auf seinen Tacho schaut, sieht man, dass dort vorne zwar ein besonderer Liberaler, aber auch kein Engel sitzt. Springfeld fährt gern schnell, aber nur auf der Autobahn. 160 Km/h – „angenehme Reisegeschwindigkeit“, nennt er das.
„Sach ma’, bist du eigentlich in der richtigen Partei?“ Das habe ihn mal ein Parteikollege und Bundestagsabgeordneter gefragt. Manchmal fragt Springfeld sich das auch. Er hätte auch bei den Grünen landen können, sagt er, da schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Aber es ist anders gekommen. 2001 ist er in die Partei eingetreten, er war da ein junger Finanzbeamter. Vor allem, weil die FDP versprach, seine Arbeit, also die Steuer, zu vereinfachen. „Ich habe am eigenen Leib sehen können, dass der Staat ineffizient und bürokratisch ist.“
Jetzt, als Bürgermeister, hat er in seiner Partei einen Sonderstatus. „So viele Bürgermeister haben wir ja nu’ nicht“, sagt er. Nach seiner Wiederwahl im Herbst 2021 bekam er als Dank eine Urkunde von der FDP. Jetzt hat Springfeld das gute Gefühl, manche Äußerungen von Parteikollegen als „Quatsch“ bezeichnen zu können. „Ich bin kein guter Parteisoldat“, sagt er.
Verkehrsminister Volker Wissing hat Springfeld noch nie getroffen, noch nicht. Aber abends, wenn er nach einer späten Sitzung im Rathaus nach Hause kommt, liest er Zeitung und schaut Nachrichten. Und da hört und liest er dann, was sein Parteifreund über Verkehrspolitik im Allgemeinen und das Tempolimit im Speziellen zu sagen hat: „Autofahren ist Freiheit“, zum Beispiel.
Springfeld weiß, dass das stimmt, gerade auf dem Land. Aber er hat einen etwas komplexeren Freiheitsbegriff: „Meine Freiheit hört da auf, wo ich die Freiheit der anderen begrenze“, sagt Springfeld. Dass es kein Recht darauf gebe, schnell durch die Stadt zu fahren, nur um ein paar Sekunden Zeit zu sparen.
Seinen Dienstwagen hat Springfeld nach seiner Wahl zum Bürgermeister abgeschafft. Soll ich dich nicht fahren?, habe der Fahrer seines Vorgängers ihn gefragt. „Ist doch affig, wenn ich zum Schützenfest mit einem Fahrer komme“, sagt Springfeld. Für den Fahrer fand sich eine andere Aufgabe in der Stadtverwaltung. Den Wagen des Carsharing-Anbieters hat Springfeld nun zwischen 9 und 15 Uhr für sich, danach kann jeder Bürger den Kleinwagen des Bürgermeisters mieten.
Seine Partei ist Springfeld oft „nicht fortschrittlich genug“: „Meine FDP sind nicht die alten weißen Männer, die gern rasen“, sagt Springfeld, und bezeichnet sich selbst als „linken Flügel der FDP“. Warum er noch in der FDP sei? Springfeld zuckt mit den Schultern. Und es wird an diesem Tag in Springe nicht ganz klar, ob der Bürgermeister keine gute Antwort weiß. Oder ob sich die Frage für ihn nicht stellt, so wie andere sich nicht fragen, warum sie in der Kirche sind.
Springfeld erzählt dann doch noch eine Geschichte, die seine Parteipräferenz erklärt. Vergangenes Jahr stellten die Grünen in der Stadt einen Antrag: Eine autofreie Innenstadt forderten sie. Die Ladenbesitzer seien auf die Barrikaden gegangen, sie fürchteten, dass niemand mehr zum Einkaufen komme. „Das war politisch nicht geschickt“, sagt Springfeld, man hätte die Unternehmer doch einbinden müssen, gerade während der Pandemie, gerade auf dem Land, wo jeder mit dem Auto einkaufen fahre. Er musste schlichten, obwohl auch er weniger Verkehr in der Innenstadt will.
Springfeld will immer alle mitnehmen. In seiner Stadt ist er damit ganz erfolgreich. Aber klappt das auch bei Volker Wissing?
Springfeld hält jetzt an einem Tempo-30-Schild, für das er lange gekämpft hat. Wegen der Kita, die hier direkt an der Hauptstraße steht, wurde es ihm erlaubt, ausnahmsweise und nach vielen Bitten und Verhandlungen. Das Tempolimit gilt jetzt aber nur 30 Meter vor sowie hinter der Kita. Was dazu führt, dass viele Autos fast ungebremst weiterrasen. Es regnet, Springfeld stellt sich unter das Schild und witzelt mit dem Fotografen rum. „Unterm Foto steht dann: Seine Partei lässt ihn im Regen stehen.“
Springfeld und die 800 anderen BürgermeisterInnen wollen gar nicht flächendeckend und überall Tempo 30. Aber dort, wo es gefährlich ist, wo viele Menschen nah an der Straße wohnen. „Wenn ein, zwei Kilometer durch einen dicht bebauten Ort führen, kommt es doch nicht auf ein paar Sekunden an.“
Es gibt ein Wort, das bei näherem Hinsehen etwas arrogant daherkommt: Durchfahrtsstraße. Durchfahrtsstraßen sind die, auf denen man einen Ort möglichst schnell durchquert, nur sein Abgas und seinen Lärm dalässt. Springfeld will an diesen Straßen mitbestimmen, will den BürgerInnen ein leiseres, sicheres Leben ermöglichen.
Noch nie habe sich bei ihm ein Bürger beschwert, wenn in seiner Straße Tempo 30 eingeführt werde, sagt Springfeld. Im Gegenteil, Bürger beschwerten sich, warum es bei ihnen noch kein Tempo 30 gebe. Tatsächlich finden sich kaum Kritiker der Verkehrspolitik in Springe. Selbst der Lokalzeitung fällt auf Nachfrage nur ein Apotheker ein.
In Springe bekommt man den Eindruck, dass die Mehrheit in der Bevölkerung verkehrspolitisch womöglich längst weiter ist als die Bundesregierung, wenn man sie vor Ort nur machen ließe. Und dass die Berliner FDP, wie schon beim Tempolimit auf der Autobahn, im Namen einer angeblichen Mehrheit spricht, die es so eindeutig gar nicht gibt.
Springfeld ist jetzt bei Familie Decius angekommen, sie wohnen in einem unscheinbaren Häuschen an einer Durchfahrtsstraße. Wolfgang Decius ist Rentner, seine Frau Regina Schinkel ist 1945 hier geboren und aufgewachsen. Als Kind spielte sie auf der Straße, da fuhren keine Autos, „nur Panzer“, sagt sie. Heute sitzt sie hinter dreifach verglasten Fenstern, die sie nicht öffnen kann, wegen des Verkehrs. „Lärm macht krank“, sagt Wolfgang Decius.
Besonders schlimm ist es während der Rübensaison, wenn zwischen September und Januar die Lkws durch den Ort zur nahegelegenen Zuckerfabrik rauschen. Bis zu 200 sind es am Tag, schreibt die Lokalzeitung. Die Reifen der Laster haben tiefe Fahrrinnen in den Asphalt gedrückt.
Es ist ein typischer Bürgertermin, Springfeld muss beruflich auf vielen Sofas sitzen, Kaffeetassen austrinken, Hunde streicheln. Man merkt ihm an, wie er auf dem Polster nach vorne rutscht, wenn er ungeduldig wird. Für jeden Bürger sei sein eigenes Problem noch immer das Wichtigste, wird er später im Auto sagen.
Früher sei sie mit dem Fahrrad zum Einkaufen gefahren, erzählt Schinkel. Heute traut sie sich das nicht mehr, nimmt den SUV, der im Carport steht. Der Gehweg ist schmal, wenn ein Lkw vorbeifährt, spürt man den Luftzug.
Die Familie wünscht sich Tempo 30 vor ihrer Tür, wenigstens nachts. Ihr Bürgermeister will es auch. Aber er darf die Schilder nicht einfach aufstellen. Einmal war ein Mann von der Landesbehörde da, um die Lärmbelästigung zu messen. Aber weil die Häuser gegenüber etwas versetzt von der Straße stehen, wird Tempo 30 hier nicht erlaubt. Und jetzt?
Man könnte ein Bobbycar am Straßenrand aufstellen, sagt Decius, dann würden manche langsamer fahren. Alle wollen schnell fahren, aber niemand will ein Kind totfahren.
„Ich lad’ ihn einfach mal ein, den Wissing“, sagt Christian Springfeld und klatscht sich mit der Hand auf den Oberschenkel. „Wenn wir schon im gleichen Verein sind. Ich mach das einfach, verdammte Axt“, sagt er zu Decius und irgendwie auch zu sich selbst.
Vier Wochen später in Berlin-Mitte, ein ganz normaler viel zu heißer Montagnachmittag in der Klimakrise. Vor dem Verkehrsministerium rauscht der Verkehr vorbei, die Fahrradständer am Eingang des Ministeriums sind überfüllt, es ist der übliche Berliner Wahnsinn.
Aus dem Eingang tritt Christian Springfeld, er hat das Wappen seiner Stadt ans Revers seines Anzugs geheftet. Auf der Treppe bleibt Springfeld stehen und kratzt sich ratlos am Kopf. Zusammen mit zwei anderen Bürgermeistern aus der Initiative Lebenswerte Städte hatte er gerade einen Termin beim Minister, bei seinem Parteifreund Volker Wissing. Eineinhalb Stunden hatte der sich Zeit genommen.
Wissing ist Springfeld zuvorgekommen mit der Einladung, wobei, eigentlich war es Sandra Maischberger, die das Treffen arrangiert hat. Bei einem Interview hatte die Journalistin den Minister auf die Initiative angesprochen. Warum er sich mit der Letzten Generation treffe, nicht aber mit Bürgermeistern, die fast die Hälfte der Deutschen repräsentierten? Kurz darauf hatte Springfeld seinen Termin.
Und, wie war es beim Minister?
Es ist laut an der Straße, selbst ein im Reden geübter Bürgermeister muss die Stimme heben, um sich gegen den Lärm des Berliner Feierabendverkehrs durchzusetzen.
Wissing habe erklärt, dass es keine politische Mehrheit und auch keinen Auftrag im Koalitionsvertrag dafür gebe, von Tempo 50 als Regelgeschwindigkeit innerorts abzurücken. Im Übrigen sei er auch Minister derer, die mit dem Auto auf dem Weg zur Arbeit durch zehn Orte fahren müssten. In deren Freiheit dürfe man nicht über die Maßen eingreifen. Da ist er wieder, der Freiheitsbegriff, der die beiden Parteifreunde voneinander trennt.
Enttäuscht?
„Neeeeiin“, sagt Springfeld und zieht die Antwort lang, um etwas Zeit zu gewinnen. Er hat ein paar Politikersätze vorbereitet und klingt jetzt sehr nach Berlin: Wissing sei „offen“ gewesen, habe sich „Zeit genommen“. Enttäuscht sei er nicht, aber: „Ich hätte mich gern positiver überraschen lassen.“ Ansonsten bestünde Politik aus dem Bohren dicker Bretter, und steter Tropfen höhle den Stein. Immerhin habe Wissing in Aussicht gestellt, die Hürden für die Bürgermeister zu senken, hier und dort Tempo 30 einzuführen.
Dann muss Springfeld los, zurück nach Hause, nach Springe in Niedersachsen. Er hat keine Zeit zu verlieren. Wenn die Verkehrswende in Berlin nicht vorangeht, muss sie das eben in Springe tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?