Editorial zum Dossier nach Hanau: Offene Grenzen

Eine Allianz aus Wutbürgern und rechten Ideologen hat 2015 die Grenzen geöffnet – für bis dahin nicht Sagbares

Zwei Teilnehmer eines Trauermarsches in Hanau recken Plakate in die Luft.

Nicht zur Tagesordnung übergehen: Trauermarsch in Hanau am 23. Februar Foto: Nicolas Armer/dpa

Rassisten und Rechtsextreme morden in Deutschland. Das hat nicht mit dem NSU angefangen und wird nicht in Hanau enden.

Sie morden in der Regel nicht ziellos. Der Terror richtet sich zuallererst und zuvörderst gegen diejenigen, die eine andere Hautfarbe haben oder andere Vorfahren als die selbsternannten Vollstrecker des völkischen Gedankens, andere religiöse Bindungen, vielleicht einen anderen Namen. Viele haben jetzt Angst, um sich, um ihre Freun­d:in­nen oder ihre Kinder, viele haben Wut.

Eine Woche nach den Morden von Hanau kommen in der taz Menschen zu Wort, die betroffen sind, die wütend sind, andere sind resigniert. Wir wollen, dass das gesehen wird, vielleicht sogar begriffen.

Auch gegen andere richtet sich der Terror. Politiker:innen wie Walter Lübcke, die dem Hass entgegentreten, Menschen und Institutionen, die seit Jahren gegen den stärker werdenden Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus kämpfen, Ak­ti­vis­t:innen von Fridays for Future, ungeachtet ihrer Herkunft oder Nachnamen, sie alle werden bedroht und sind reelle oder potenzielle Ziele. Die Bedrohungslage ist dabei indes nicht die gleiche. Es stehen nicht alle gleich im Fokus.

Offener und versteckter Rassismus

Jetzt wird mit altbekannten Rezepten jongliert, zu Recht. Jetzt drücken wir unser Entsetzen und unsere Trauer aus, zu Recht. Jetzt verweisen wir auf den offenen und versteckten Rassismus in Deutschland, zu Recht. Alles, was danach kommt, ist Ratlosigkeit. Dabei hätte man all das seit Jahren wissen können und handeln.

Wir wollen und wir können nach dem NSU, nach Kassel, nach Halle, nach Hanau nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir, die taz, können Rassismus, rassistischen Hass und Mord nicht als deutsche Norma­lität im Jahr 2020 hinnehmen. Wir brauchen jetzt Ideen, Taten, Gesetze, all das. Und eine gesellschaftliche Umkehr. Nicht weniger.

■ Editorial zum Dossier nach Hanau: Offene Grenzen

■ Hanau nach dem rechten Anschlag: Die Kinder dieser Stadt

■ Wut. Trauer. Mut: Elf Protokolle nach Hanau

■ Maßnahmen gegen rechten Terror: Was tun gegen den Hass?

■ Hanauer Traumapädagoge im Interview: „Manche erstarren, manche zittern“

■ Grüne in Hessen: Alle Akten auf den Tisch

Wir müssen über offene Grenzen reden. Nicht Angela Merkel hat 2015 die Grenzen geöffnet. Es war eine unheilvolle Allianz aus Wutbürgern und rechten Ideologen, die 2015 die Grenzen geöffnet hat, für bis dahin in Deutschland nicht Sagbares und nicht Denkbares.

Heute stehen wir an einer kritischen Schwelle. In Chemnitz war zum ersten Mal zu sehen, wie Wutbürger:innen und Rechtsextreme offen gemeinsam aufgetreten sind. Später marschierten sie Seit an Seit in Berlin. Diese Mischung ist zu einer Bedrohung seit Jahrzehnten nicht gekannten Ausmaßes herangewachsen. Ein Tobias Rathjen fühlt sich heute als legitimierter Vollstrecker einer Geisteshaltung, in der selbst die Nazisprüche eines Björn Höcke ihren Platz haben.

Wir wollen und wir können nach dem NSU, nach Kassel, nach Halle, nach Hanau nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir, die taz, können Rassismus, rassistischen Hass und Mord nicht als deutsche Norma­lität im Jahr 2020 hinnehmen. Wir brauchen jetzt Ideen, Taten, Gesetze, all das. Und eine gesellschaftliche Umkehr. Nicht weniger.

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taz-Chefredakteurin, Initiatorin der taz-Klima-Offensive und des taz Klimahubs. Ehemals US-Korrespondentin des Tagesspiegel in Washington.

Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias R. an drei verschiedenen Tatorten in der Hanauer Innenstadt neun Menschen:

Kaloyan Velkov, ermordet mit 33 Jahren.

Fatih Saraçoğlu, ermordet mit 34 Jahren.

Sedat Gürbüz, ermordet mit 30 Jahren.

Vili Viorel Păun, ermordet mit 22 Jahren.

Gökhan Gültekin, ermordet mit 37 Jahren.

Mercedes Kierpacz, ermordet mit 35 Jahren.

Ferhat Unvar, ermordet mit 22 Jahren.

Hamza Kurtović, ermordet mit 22 Jahren.

Said Nesar Hashemi, ermordet mit 21 Jahren.

Später ermordete der Attentäter seine Mutter Gabriele R., 72 Jahre alt.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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