Hanau nach dem rechten Anschlag: Die Kinder dieser Stadt
Eine Woche nach dem rassistischen Terror werden die Opfer zu Grabe getragen. Eine Mutter fordert, nicht zur Tagesordnung überzugehen.
Mit unbeholfener Handschrift haben zwei Jungen auf einem grünen Zettel notiert: „Wir trauern mit den Angehörigen der Opfer“. Verwandte und Freunde haben Porträts aufgestellt: Junge Menschen gucken selbstbewusst und freundlich in die Kamera. Auf vielen Plakaten stehen ihre Namen. „Diese Namen sind wichtiger als seine!“ Nicht an den Täter, sondern an die Opfer und ihre Familien wollen die Menschen erinnern.
Passanten halten inne, manche kommen, um neue Blumen und Botschaften abzulegen. „Wir halten zusammen!“, steht da, aber es gibt auch Zeichen des Zorns: „Es reicht!!!“, liest man und: „Ich bete, dass es nicht heute Hass ist und morgen zum zweiten Mal Auschwitz sein wird.“
Hanau lebt im Ausnahmezustand. Am Sonntag versammelten sich auf dem Markt mehr als zehntausend Menschen, um anschließend in einem langen Demonstrationszug zu den Tatorten am Heumarkt und im Ortsteil Kesselstadt zu ziehen. Am Montag trafen sich mehr als Tausend Menschen, um mit ihren Imamen das Totengebet für drei der Opfer zu teilen. Ihre Särge waren in türkische Fahnen gehüllt. Auch Vertreter der türkischen Regierung kamen zu Wort.
„Eine furchtbare Inszenierung“, findet Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland. „Die Türkei instrumentalisiert die Opfer für politische Zwecke“, sagt er. Auch die ausgegebene Parole: „Islamhass ist die Mutter aller Probleme!“ findet er falsch. „Die Menschen sind nicht wegen ihres Glaubens gestorben, sondern weil der rassistische Täter sie als Nichtdeutsche treffen wollte,“ sagt Tanriverdi der taz.
Die Kanzlerin hat sich angekündigt
Am Freitag wird hier das Totengebet für die beiden letzten Opfer gesprochen. Am 4. März ist eine gemeinsame Gedenkfeier geplant, zu der sich der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin angemeldet haben.
Am Dienstag begleitet der kurdische Gemeindevertreter die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, zu den Tatorten. Vor der Shishabar Midnight am Heumarkt legt die Grünenpolitikerin Blumen nieder. „Wir haben ein Problem mit Rassismus und Rechtsterrorismus,“ sagt Roth und räumt ein: „Das große Problem ist kleingeredet worden. Rassismus darf nicht zur Normalität verkommen.“ Sie leitet daraus eine Verpflichtung zum Kampf gegen Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus ab.
Der Heumarkt, dieser erste Tatort, an dem am vergangenen Mittwoch fünf Menschen erschossen wurden, ist längst Gedenkstätte geworden. In der Bar starb Miteigentümer Sedat G., 30, den seine Freunde als friedlichen und freundlichen Zeitgenossen beschreiben. Auch hier ein Blumenmeer und Botschaften der Liebe und des Mitgefühls.
Mehr als Tausend Freunde und Angehörige haben sich am Mittwoch bei der Beisetzung in seinem Wohnort Dietzenbach versammelt. Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky hielt eine Trauerrede, wie am Vortag bei den ersten Beerdigungen in Offenbach und auf dem Hanauer Hauptfriedhof.
Am Montag wurde Mercedes K. in der Gruft ihrer Familie in Offenbach beigesetzt. Die deutsche Staatsbürgerin aus der Minderheit der Roma hinterlässt einen Sohn und eine Tochter. Sie hatte einen Job in dem Kiosk, der mit der Arena-Bar am Kurt-Schumacher-Platz verbunden ist, dem zweiten Tatort.
Am vergangenen Mittwoch hatte sie eigentlich frei. Doch weil sie dort für ihre Kinder noch eine Pizza kaufen wollte, traf sie auf ihren Mörder. Im Hausflur des in die Jahre gekommenen neunstöckigen Wohnhauses sind Blumen abgelegt. Immer wieder halten PassantInnen inne und teilen Gedanken und Trauer.
Rosa T-Shirt, schwarze Schiebermütze
Dort starb auch Ferhat Unvar. Seine Familie hatte am Mittwoch zu einer Trauerfeier in die Sporthalle der benachbarten Heinrich-Heine-Schule eingeladen. Die Halle war bis auf den letzten Platz besetzt. An der Wand die Botschaft der Föderation der Demokratischen Gesellschaft Kurdistan: „Dem Faschismus und Rassismus keinen Fußbreit Raum geben!“ Fast alle im Raum hatten sich das Bild des 23-Jährigen ans Revers geheftet, Ferhat im rosa T-Shirt und mit einer schwarzen Schiebermütze. Er hatte gerade seine Ausbildung als Anlagentechniker abgeschlossen und große Pläne.
Freunde des ermordeten Ferhat Unvar
Der Imam aus Kassel – Hanau hat keine kurdische Moschee – erklärte der Trauergemeinde den islamischen Ritus der Bestattung. Auf die Reporterfrage, was genau er denn sagt, wissen Ferhats Freunde an unserem Tisch keine Antwort. „Wir können kein Kurdisch. Wir sind alle hier geboren. Wir gehören alle hierher!“, versichern sie.
Ihre Namen wollen sie nicht sagen, nicht nach dem, was sie in Medien lesen mussten. „Da heißt es, das war ein Einzelfall und der Täter war krank,“ ereifert sich ihr Wortführer. „Doch das war ein Rassist und Terrorist, mit Ausländern hat das alles nichts zu tun. Wir leben jetzt zwar mit Angst, aber wir lassen uns nicht vertreiben, wir halten zusammen!“, fügt er entschlossen hinzu.
Hanau hat den Fastnachtszug abgesagt. Trotzdem waren in der Stadt auch an diesem Tag maskierte Menschen unterwegs.
„Ich kann nicht verstehen, wie man nach dem, was geschehen ist, einfach feiern und fröhlich sein kann“, sagt einer der drei: „Ich habe deshalb heute schon ein paar ‚Freunde‘ im Internet gelöscht.“
„Ein liebenswerter Hanauer Bub“
Bei der Beerdigung auf dem Hauptfriedhof wendet sich Oberbürgermeister Kaminsky gegen die Erzählung von einer angeblich fremdenfeindlichen Tat, „weil die Opfer für uns keine Fremden waren; alle Ermordeten waren Kinder unserer Stadt“, stellt Kaminsky klar. „Ferhat war ein liebenswerter Hanauer Bub!“ Kaminski kündigt an, dass die Stadt auf dem Friedhof eine Gedenkstätte errichten wird, „für alle Zeit, zum Gedenken an die schreckliche Tat und an alle neun Ermordeten.“
Ferhat Unvars Mutter, Serpin Temiz, findet die Kraft, Worte an die Trauergemeinde zu richten, die seitdem häufig zitiert werden. „Ich habe Angst“, sagte sie und fügt hinzu: „Ich hoffe, dass nicht eine andere Mutter erleben muss, was ich durchgemacht habe.“ Sie appellierte an die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, nicht zur Tagesordnung überzugehen: „Den Worten müssen Taten folgen!“
Doch welche? Zu dieser Frage hat Response, die Beratungsstelle für Opfer von rechter und rassistischer Gewalt, am Dienstagabend zu einer Diskussion in die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt eingeladen. Response-Leiterin Olivia Sarma wendet sich gegen die ständig wiederholte Floskel, „es war ein Anschlag auf uns alle!“ Die Morde von Hanau seien „Botschaftstaten“, die Opfer seien nicht individuell ausgewählt, sondern stellvertretend angegriffen worden, als „nichtdeutsch“, als „anders“ markiert. Alle Menschen, die als nichtdeutsch wahrgenommen werden, würden so massiv verunsichert. Deshalb sei es wichtig, darüber zu reden; weder am Arbeitsplatz noch in der Schule dürfe die Mehrheitsgesellschaft zur Tagesordnung übergehen.
Wenig zuversichtlich gibt sich Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der eine Opferfamilie im NSU-Prozess vertreten hat. „Antisemitismus, Islamphobie und Rassismus sind fest in der deutschen Gesellschaft verankert“, sagt er. Nicht nur die AfD, sondern auch Politiker von CDU und CSU nennt er als Urheber rassistischer Einstellungen, etwa wenn sie Shishabars, die Rückzugsräume migrantischer Jugendlicher, unter Generalverdacht stellten oder wenn der Innenminister den Zuzug in die Sozialsysteme „mit der letzten Patrone“ zu verhindern versprach.
„Aus Wut kann Energie werden!“
Walid Malik, Islam- und Rassismusexperte, stellt nüchtern fest: „Wir können nicht damit rechnen, dass uns die Mehrheitsgesellschaft schützt.“ Er fordert einen Rassismusbeauftragten des Bundes, unabhängige Beschwerdestellen bei der Polizei und in der Wirtschaft. „Aus Wut kann Energie werden!“, gibt er den von Rassismus bedrohten Menschen noch mit auf den Weg und: „Lasst uns aufeinander aufpassen!“
Am Schluss der Veranstaltung wird der Aufruf „fortschrittlicher migrantischer“ Organisationen zu einem Generalstreik gegen den Rassismus verlesen, der für den 8. Mai geplant ist. Davon solle ein starkes Signal ausgehen.
Wir wollen und wir können nach dem NSU, nach Kassel, nach Halle, nach Hanau nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir, die taz, können Rassismus, rassistischen Hass und Mord nicht als deutsche Normalität im Jahr 2020 hinnehmen. Wir brauchen jetzt Ideen, Taten, Gesetze, all das. Und eine gesellschaftliche Umkehr. Nicht weniger.
In Hanau ist die Ersthilfe angelaufen. Die Stadt hat ein Bürgertelefon geschaltet und Opferbeauftragte eingesetzt. Es sind zwei Ärztinnen und als Koordinator der parteilose Stadtverordnete Robert Erkan, ein ausgebildeter Mediator. Die Stadt übernimmt die Kosten für die Bestattungen der Opfer, für die Überführungen und Flüge, sie stellt Sonderbusse bei den Trauerfeiern.
Am Dienstag kamen im Gebäude der Staatsanwaltschaft Hanau mit dem Opferbeauftragten der Bundesregierung, Edgar Franke, erstmals VertreterInnen von Behörden, Hilfsorganisationen und Religionsgemeinschaften zu einem runden Tisch zusammen, um in einem Netzwerk die Hilfe für Angehörige und traumatisierte Tatzeugen zu koordinieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sturz des Assad-Regimes
Freut euch über Syrien!
Krieg in Nahost
Israels Dilemma nach Assads Sturz
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Weihnachten und Einsamkeit
Die neue Volkskrankheit
USA nach Trump-Wiederwahl
Das Diversity-Drama