EU, Großbritannien und der Brexit: So kann's gehen
Der Streit um den Brexit ist lösbar, wenn man sich auf die Sachfragen konzentriert und an die Menschen denkt. Ein Vorschlag zur Güte.
V ergesst Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg und all die versammelten Eitelkeiten Westminsters. Beim Brexit geht es um Menschen, und die brauchen jetzt Klarheit.
Eine weitere Verschiebung um drei Monate, wie das britische Parlament sie will, verlängert die Unklarheit. Ein Bruch ohne Deal, wie ihn Johnson im Spiel halten will, schafft Klarheit, vernichtet aber Vertrauen und wäre ein Eingeständnis des Unvermögens.
Dieses Unvermögen besteht in der Weigerung, öffentlich anzuerkennen, dass sich die Interessen Großbritanniens und die der EU weitgehend decken. Und dass daher, auch ohne sämtliche offenen Fragen zu regeln, Vereinbarungen möglich sind – Vereinbarungen, die der Brexit-Deal, den die EU im vergangenen Jahr mit London aushandelte, bereits enthält.
Zum Beispiel die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und der Briten in EU-Staaten: Beide Seiten beteuern, dass sich für Betroffene nichts ändern soll, und gewährleisten das bereits. Dennoch bleibt Unsicherheit über die Zukunft. Eine Klärung wäre problemlos, träten die relevanten Teile des bestehenden Deals separat in Kraft.
Sinnvolle Vorbereitungen
Zum Beispiel die sicherheitspolitische Zusammenarbeit. In Fragen der Verteidigung, der Außenpolitik und der Terrorbekämpfung liegen London und Brüssel auf einer Linie.
Zum Beispiel der Personen- und Güterverkehr. Niemand will lange Wartezeiten und Formalitäten an Grenzposten. Reibungslose Handelsketten liegen im Interesse aller. Die Vorbereitungen auf beiden Seiten für den Fall eines No-Deal-Brexits sind weit fortgeschritten, und es wäre jetzt sinnvoll, sie aufeinander abzustimmen.
Komplizierter ist die Frage der offenen finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens gegenüber der EU. Diese sind zwar im Brexit-Deal geregelt, sind aber ohne dessen Inkrafttreten nicht einklagbar. Gegenüber einem scheidenden Mitgliedstaat, der netto knapp eine Milliarde Euro pro Monat an EU-Beiträgen zahlt, müsste Brüssel ein Interesse an Kontinuität haben.
Als größter Stolperstein gilt die innerirische Grenze. Am sogenannten Nordirland-Backstop ist der vorliegende Brexit-Deal bislang im britischen Parlament gescheitert. Anders als oft dargestellt, liegt das Problem dabei nicht in der Garantie einer offenen Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland – die britische Seite hat sich dazu verpflichtet, egal was sonst passiert.
Knackpunkt ist, dass der Backstop Großbritannien in der EU-Zollunion behält und damit London die außenhandelspolitische Souveränität gegenüber Drittstaaten raubt – und das so lange, bis ein neues Abkommen an die Stelle des Backstop tritt. Jedes EU-Land kann ein Nachfolgeabkommen blockieren, solange Großbritannien nicht auch bei anderen Dingen einlenkt. So hat Frankreich den Zugang zu britischen Fischereigewässern ins Gespräch gebracht. Die Möglichkeit sachfremder Erpressung macht den Backstop für London inakzeptabel. Er muss auf die Grenzfrage beschränkt bleiben.
Die Grenzfrage ist lösbar. Der Warenverkehr zwischen Nordirland und der Repubik Irland ist überschaubar, seine Akteure sind bekannt, die Warenflüsse werden erfasst. Angepasste Regelungen wären einfach: Die meisten Geschäftsleute sind auf beiden Seiten der Grenze tätig, die Hälfte des Handels findet im Agrarbereich statt – einem Bereich, den die EU auch intern lückenlos kontrolliert. Die offizielle britische Alternative Arrangements Commission hat detaillierte Vorschläge zum Grenzregime vorgelegt. Sie sind eine Gesprächsgrundlage.
Schon im vorliegenden Deal gilt der Backstop erst ab 2021, und das kann verlängert werden. Die EU könnte nun folgendes Angebot an Großbritannien machen: Der Deal tritt am 31. Oktober in Kraft – ohne Backstop. Der Backstop wird ausgeklammert, die irische Grenzfrage klärt die neue EU-Kommission mit der neuen britischen Regierung.
Das wäre ein Akt der Staatskunst. Die EU sollte dazu in der Lage sein.
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