piwik no script img

Diakonie-Vorstand über Entlastungen„Die soziale Zielgenauigkeit fehlt“

Finanzminister Lindner will Steuern für alle senken. Maria Loheide von der Diakonie fordert mehr Entlastungen für jene, die am Existenzminimum leben.

Nicht alle haben Schwein im Verteilungskampf Foto: Larry Washburn/Deepol/plainpicture
Tanja Tricarico
Interview von Tanja Tricarico

taz: 48 Millionen Menschen will Bundesfinanzminister Christian Lindner mit seinem Inflationsausgleichsgesetz entlasten. Klingt nach dem großen Wurf, oder?

Maria Loheide: Wir bemängeln, dass dem Paket insgesamt die soziale Zielgenauigkeit fehlt. Vor allen Dingen müssten die Menschen entlastet werden, die am Existenzminimum leben. Also diejenigen, die wenig Geld haben, die keine Einkommensteuer und auch sonst wenig Steuern zahlen.

Wer wird denn aus Ihrer Sicht nicht entlastet?

Ich habe zum Beispiel gerade mit einer Dame gesprochen, die eine kleine Rente hat, aber zu viel, um Wohngeld zu beantragen oder irgendwelche anderen Sozialleistungen. Das heißt, sie leidet am meisten unter der Inflation, unter den steigenden Energiepreisen und Lebensmittelpreisen. Sie fällt sozusagen bei allem raus, muss sich aber täglich enorm viel abknöpfen, kann sich keinen Urlaub mehr leisten, kein Theater und kein Kino mehr.

Wer profitiert noch nicht – außer den Menschen mit geringerer Rente?

Es sind tatsächlich die, die wenig verdienen oder ganz auf Sozialleistungen angewiesen sind. Eine neue Gruppe, die jetzt durch die steigende Inflation in Not gerät, sind diejenigen, die bislang gut zurechtkamen. Langsam aber sicher trifft es auch die, die im mittleren Bereich verdienen.

Wie hoch die Belastungen für die Bür­ge­r:in­nen im Herbst ­konkret werden, kann derzeit noch ­niemand genau sagen. Sicher ist, wer arm ist, den treffen ­gestiegene Lebenshaltungskosten stärker. Und dass diese steigen werden, ist klar. Hat die Bundesregierung das ausreichend im Blick?

Nein. Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass sie sich mehr mit den Menschen unterhält. Was jetzt die Lebensmittel kosten, das geht ins Portemonnaie. Und der große Batzen an höheren Energiekosten kommt ja erst noch.

Im Interview: Maria Loheide

ist seit 2012 Sozial­politischer Vorstand der Diakonie Deutschland und Vorstands­mitglied des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung. Sie ist ausgebildete Sozial­arbeiterin und Heilpädagogin.

Wären Einmalzahlungen für diese Gruppen sinnvoll, um etwa höhere Energiekosten ab­zufedern?

Nein, nicht wirklich. Was getan werden muss, ist, Menschen, die nahe am Existenzminimum leben, die Zugänge zu Wohngeld- und ­Energiezuschüssen zu erleichtern. Dafür müsste man die Bemessungsgrenzen verändern, nach denen jemand dazu berechtigt ist, Wohngeld zu empfangen.

Zusätzlich sollten bestimmte Leistungen für bestimmte Einkommensgruppen kostenlos oder vergünstigt zur Verfügung gestellt werden. Das schließt auch ­Kulturangebote ein oder Angebote, die in den Städten gelten. Auch das ist ein Teil der Existenzsicherung und der gesellschaftlichen Teilhabe. Zum anderen müssten die Regelsätze für Hartz IV oder für die Grundrente an die Inflation angepasst werden.

Viele Menschen werden sich in den kommenden Monaten einschränken müssen. Welche Schlüsse ziehen Sie für sich und Ihre Arbeit daraus?

Ich bin gegen Panikmache. Aber was wir in unseren Beratungsstellen merken, ist, dass die Menschen Ängste und Sorgen haben, dass sie teilweise verzweifelt sind und enttäuscht von der Politik. Und auch deswegen brauchen wir weniger Gießkanne, sondern zielgerichtete nachhaltige Entlastung. Ich persönlich brauche keine Energiepauschale, kriege aber trotzdem die 300 Euro an Unterstützung. Menschen, die Angst vor den hohen Heizkosten im Herbst haben, brauchen aber das Geld.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

19 Kommentare

 / 
  • Der Inflationsausgleich kann gar nicht sozial zielgenau sein, will und soll es auch gar nicht.



    Er soll die Situation vor der Inflation wieder herstellen.



    Wie kann man da etwas anderes erwarten...

  • Lindner fehlt ganz und gar nicht die Zielgenauigkeit.



    Im Gegenteil: Bei den sozial schwachen bleibt das Meiste hängen - das ist schliesslich seine Klientel !

  • Aha. Ist das jetzt die Diakonie, die noch letztes Jahr zusammen mit der Caritas einen allgemeinen Tarifvertrag und Mindestlohn in der Pflegebranche verhindert hat?

    Auf Lindner zeigen ist schon richtig. Es ist aber auch sehr einfach. Und ziemlich bigott, sich jetzt als Beschützer der Leute am Existenzminium aufzuspielen. Da sind nämlich jede Menge Menschen dabei, die mit dem Tarifvertrag jetzt nicht am Existenzminimum leben würden.

  • "Es sind tatsächlich die, die wenig verdienen oder ganz auf Sozialleistungen angewiesen sind [...]"

    Das ist ja auch nicht Lindners Klientel.

  • Die Kritik ist mager. Es gibt allenfalls unterschiedliche Prioritäten bei der Geldverteilung.

    Worum sich die Regierung natürlich kümmern muss, ist, dass die Ukraine-Krise machbar ist. Hier fehlt mir die Zuversicht von Frau Merkel in der Flüchlingskrise ("Wir schaffen das").

    Mir sind die populistischen Stimmen der Debatte zu laut. Da wird gar von Ausbeutung der Armen dieser Welt gejammert, wenn der Oberarzt kein 9€ Ticket bekommt. Es ist eine völlig überdrehte Debatte, die prioritätenlos jeden gleich mitnehmen will.

  • "Vor allen Dingen müssten die Menschen entlastet werden, die am Existenzminimum leben"

    Das ist doch blauäugig. Durch eine Entlastung wg. der Inflation stehen Menschen, die zuvor am Existenzminimum standen immer noch am Existenzminimum.

    Maßnahmen gegen Inflation können deshalb nie Maßnahmen gegen Armut sein. Dafür braucht es gesonderte gezielte Maßnahmen.

    • @Rudolf Fissner:

      Es hat niemand behauptet, dass ein Inflationsausgleich vor allem für die unteren Einkommensgruppen diese vor Armut bewahren würde. Natürlich ändert sich dadurch für diese gegenüber den letzten Jahren, vor der großen Inflation, nichts zum Positiven. Aber wenigstens würde dadurch die derzeitige rapide Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse wenigstens etwas abgemildert. Sozusagen ein absolut notwendiges Minimalprogramm gegen den weiteren Absturz dieser Bevölkerungsgruppen.

  • "Das gab es auch noch nicht so oft, dass ein Regierungsvorhaben mehr Beifall aus der (CDU)-Opposition bekommt als von den Koalitionspartnern, wo es offen und laut Kritik gibt."



    www.nd-aktuell.de/...-steckenpferd.html

    Da kommt der böse Verdacht auf (auch angesichts dessen, daß die Anschlußperspektive des 9€-Tickets als gescheitert gelten muß), daß Scholz auf mögliche Neuwahlen und dabei auf den neu-alten Koalitionspartner Union setzt.

  • Angst ist der Tod der Demokratie!

    Unserem kapitalistische alten System mangelt es an Integration und Flexibilität. Das Starre und die mangelnde Teilhabe weiter Kreise der Eliten und Beamten infolge mangelnder Integrationswillig und Fähigkeit reflektiert im Verharren von Besitzständen. Genau daraus resultiert auch die Politik des Finanzministers.

    Die Schwarze Null ist dafür symptomatisch und passt überhaupt nicht in die moderne Welt des 21ten Jahrhundert, wie auch Harz IV und eigentlich die Rente.







    Wen der Finanzminister als Leistungsträger betrachtet, das ist genau wie er die Begründung für die Ablehnung der Verlängerung des neun Euro Tickets begründet: Man könne es sich nicht leisten und die Autofahrer auf dem Lande würden sonst das Ticket der Städter subventionieren.



    Er hat es halt gerade umgedreht.







    Zurechtgerückt zahlt der Bürger die Kosten der Kollateralschäden, jene Kollateralschäden welche den Autoherstellern und Nutzern erlaubt wird sie nicht in ihrer Kalkulation berücksichtigen zu müssen. Und wer in diesem Lande Leistungsträger ist und wer nicht, das zeigt sich am Resultat einer zerstörten Erde, steigender Armut und permanenter Kriege.

    Diese



    "Leistungsträger" haben unserer Welt an den Rand des Kollabierens gebracht. Es gibt keinen Russischen Panzer in dem nicht Deutsche Technik steckt. Oder umgekehrt: ohne Deutsche Technik würde augenblicklich keine Russischer Panzer laufen.



    Schon interessant wenn diese "Leistungsträger" von guten Zeiten reden, die infolge der Ereignisse eben jetzt mal ein Wende erfahren.



    Würde sagen: sehr viele kannten diese "guten Zeiten" gar nicht. Ein ganz ernüchternder Einblick in die sozialen Landschaft der Republik, mit armen Rentnern und mit den niedrigsten Renten in Europa, mit wachsendem Armutsproletariat, verbreiteter Kinderarmut und den höchsten Energiekosten und Mieten in Europa.



    Deutschland ist reich, die Mehrzahl der Bürger nicht. Das wäre dann auch schon ein Grund für die Angst welche die Demokratie zersetzt.

  • Soziale Zielgenauigkeit hat bei der FDP schon immer gefehlt.



    Da ist Hr. Lindner nicht der erste in seiner Partei.



    Aber bei so viel lebensfremder Blase, kann sein Gesetzentwurf nur lebensfremd und zielungenau sein.



    Da hilft auch kein Eid, Unheil vom Volke abzuhalten - wenn kein Verständnis für die Lebensumstände vorhanden ist, kann es halt nix werden; oder waren doch zwei Finger gekreuzt, als der Eid abgelegt wurde, Hr. Lindner ?

  • "Entlastungen für jene, die am Existenzminimum leben"



    Meines Wissens haben Menschen die am Existenzminimum leben keine "Belastungen" durch Steuern und Abgaben auf ihre Einkünfte(!). Also kann man sie da auch nicht entlasten.



    Bei dem Entlastungspaket geht es aber um die Lohn- und Einkommenssteuer und nicht um soziale Zahlungen jeglicher Art.

  • RS
    Ria Sauter

    Die Rentner/innen fallen mal wieder durch das Raster.



    Diejenigen, die wenig Rente haben, aber keinerlei Recht auf irgendetwas, werden in die Armut stürzen.



    Die Rente müsste angehoben werden, jetzt sofort.



    Ich mache mir sehr grosse Sorgen, wie ich das stemmen soll. Wie die Wohnung halten



    Ich bin mit diesen Sorgen in.meinem Viertel nicht allein



    Die Menschen sind verzweifelt, insbesondere die Älteren.



    Wir können an der Situation nichts ändern. Hinzu kommt in meiner Stadt ein Aufnahmestopp der Tafel.



    Die Versorgung der Menschen aus der Ukraine hat dort zum Kollaps geführt.

    • @Ria Sauter:

      Blüm: "Die Renten sind sicher"



      Hätte man ihn ausreden lassen, er wollte bestimmt sagen "Die Renten sind sicher...nicht lange ausreichend".



      Ja Frau Flieder, die Rentner der unteren Rentenklassen werden die neuen Armen vom morgen sein.



      Daran sind aber nicht schon wieder die "Besserverdiener" schuld, sondern die Regierungen der letzten 40 Jahre, welche das Problem einfach nur vor sich hergeschoben haben.

    • @Ria Sauter:

      Die Renten werden in Zukunft eher schrumpfen als steigen. Wenn die Rentner jetzt nur nicht mehr, aber noch nicht weniger erhalten, ist es schon gut. Diese Wahrheit rückt leider immer näher.

      • RS
        Ria Sauter
        @Taztui:

        Aha. Was folgt daraus? Wir nehmen das so hin.

        • @Ria Sauter:

          Keine Ahnung. Oder doch: Vielleicht bringen wir die Beitragszahler dazu, dass sie 40% statt bisher knapp 20% ihres Einkommens für die Rentner rausrücken. Dazu eine Verdoppelung des Bundeszuschusses von jetzt 25% des Haushalts auf vielleicht 50% und schon können wir die aktuellen Renten verdoppeln. So recht?

  • Äähh...

    ...verstehe ich das jetzt richtig...soll das die Antwort auf die Gaspreisexplosion sein.??

    ..kann eigentlich nicht sein oder...?

    Falls doch und sollte es dabei bleiben, wird im Winter nicht nur der Gaspreis explodieren..

    Aber gut...sollte Hr. Lindner weiterhin verkennen, welche Sprengkraft in dem Thema liegt (und im Grunde reichen da schon die steigenden Lebensmittelpreise), dann könnte es passieren, daß die FDP in absehbarer Zeit endgültig von der Landkarte verschwindet..

    Ich wünsche viel Vergnügen...

  • Bei dem geplanten Inflationsausgleichsgesetz geht es nicht um Entlastungen, sondern um die Vermeidung von zusätzlichen steuerlichen Belastungen durch die Inflation. Das ist ein entscheidender Unterschied und das hat auch nix mit der Gießkanne zu tun.

    Wenn man so entscheidende Unterschiede nicht erkennt, dann sollte man nicht Vorstand von irgendwas werden. Die aktuelle Diskussion zeigt deutlich, dass Steuerrecht stärker in den Schulen gelehrt werden sollte.

  • Ein Freund von mir, Frührentner der vorher halbwegs über die Runden kam, hat angefangen Blutplasma zu spenden weil es dafür Geld gibt. Ohne kommt er nicht mehr klar und spendet so oft wie es nur geht. Er hat panische Angst davor sich eine Infektionskrankheit einzufangen weil er dann, bis er genesen ist gesperrt wird. Sowas geht Leuten wie Lindner am Allerwertesten vorbei. Traurig.