Deutscher Blick auf Israel und Palästina: Ungeteiltes Mitgefühl

Ist palästinensisches Leid weniger wert als anderes? Die deutsche Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen ist beängstigend.

Eine Frau steht in den TRümmern eines Hauses und wient

Eine Frau steht in den Trümmern eines Hauses, das durch israelischen Beschuss zerstört wurde Foto: Ibraheem Abu Mustafa/reuters

Der Schock über den Überfall der Hamas sitzt tief. Im Morgengrauen überwanden ihre Kämpfer die Grenzanlagen zum Gazastreifen und ermordeten über 1.300 Menschen – Soldaten und Zivilisten, darunter Hunderte Besucher eines Musikfestivals und Bewohner angrenzender Ortschaften. Ganze Familien sind unter den Opfern, viele Frauen, Kinder, sogar Babys. Knapp 200 Menschen nahmen die Terroristen als Geiseln und entführten sie in den Gazastreifen. Unter ihnen sind viele junge Menschen, die familiäre Verbindungen in alle Welt hatten. Es könnten Freunde oder Angehörige von uns sein – so denken und fühlen viele, auch ich.

Man muss das als Terror bezeichnen, denn er verbreitet Angst und Schrecken, und Massaker an Zivilisten sind ein Kriegsverbrechen. Auch wer der Meinung ist, Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen hätten das Recht, Widerstand zu leisten gegen ihre andauernde Unterdrückung, muss das anerkennen. Denn auch für Widerstand gelten die Regeln des Völkerrechts.

An Regeln halten müssen sich aber auch jene, die auf solchen Terror reagieren müssen. Regierungen müssen dabei die Verhältnismäßigkeit wahren. Zweifel sind angebracht, dass die israelische Regierung sich daran hält. Keine zwei Tage nach dem Angriff der Hamas kündigte der israelische Verteidigungsministers Joaw Galant eine vollständige Blockade des Gazastreifens an – „kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Gas“. Zur Begründung sagte er, sein Land kämpfe gegen „menschliche Tiere“. Das ist eine gefährliche Sprache, und die Totalblockade kommt einer kollektiven Bestrafung der Bevölkerung von Gaza gleich.

In der ersten Woche des Kriegs hat die israelische Armee nach eigenen Angaben mehr als 6.000 Bomben über Gaza abgeworfen, so viel wie noch nie in so kurzer Zeit, und unter anderem das zentrale Geschäftsviertel Rimal verwüstet. Dort hatten Einkaufszentren und Ministerien, die Büros internationaler Medien und Hilfsorganisationen ihren Sitz, nun gleicht die Gegend einer Mondlandschaft. Seit den israelischen Angriffen sind nach palästinensischen Angaben bis Donnerstag bereits mehr als 3.700 Menschen getötet worden, darunter viele Frauen und Kinder – mehr Menschen als nach dem letzten großen Gaza­krieg im Sommer 2014, der immerhin 50 Tage andauerte. Auch damals gab es eine Bodenoffensive, jetzt steht wieder eine bevor. Doch Israels Premier Netanjahu drohte, das sei erst der Anfang gewesen. Israels Reaktion auf den Angriff der Hamas werde „über Generationen nachhallen“.

Israel wirft der Hamas vor, Menschen als „Schutzschilde“ zu missbrauchen, sich inmitten der Zivilbevölkerung zu verstecken oder Waffen zu lagern. Das mag stimmen – es entbindet die israelische Armee aber nicht von ihrer Verantwortung, Zivilisten zu schonen. Stattdessen hat sie jetzt rund 1,1 Millionen Zivilisten aufgefordert, den Norden des Gazastreifens zu verlassen – eine Forderung, die UN-Generalsekretär Antonio Guterres als „extrem gefährlich“ bezeichnet hat.

Juden und Jüdinnen weltweit fühlen sich durch Bilder von ganzen Familien mit Kindern, die von den marodierenden Mörderbanden der Hamas ermordet wurden, an Pogrome und an den Völkermord durch die Deutschen erinnert, dem rund sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. Palästinenser fühlen sich angesichts der Bombardierung und der Aufrufe der israelischen Armee, ihre Heimat zu verlassen, an die Schrecken der Nakba erinnert, die gewaltsame Vertreibung und Flucht von rund 700.000 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen im Zuge der israelischen Staatsgründung 1947. Gegen Gefühle kann man schlecht argumentieren.

Wer glaubt, ohne die Hamas würde Frieden in Gaza herrschen, ist naiv oder kennt den Konflikt nicht

Es ist nachvollziehbar, dass viele Deutsche mit jüdischen Israelis und ihren jüdischen Nachbarn in Deutschland mitfühlen. Weniger verständlich ist, wie manche hierzulande die Gewalt gegen Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen relativieren oder rechtfertigen.

Und wie will die Bundesregierung glaubwürdig in anderen Konflikten auf das Völkerrecht pochen, wenn sie jetzt schulterzuckend reagiert, als seien die Menschen in Gaza an ihrem Schicksal irgendwie selbst schuld? Das ist ein politisches Versagen. Die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten verdienen unser ungeteiltes Mitgefühl und unsere Hilfe.

Knapp 200 israelische Geiseln sollen sich in den Händen der Hamas befinden. Sollte die israelische Armee mit den Bombardierungen fortfahren und im Gazastreifen einmarschieren, sind auch deren Leben bedroht.

Es braucht eine dauerhafte politische Lösung

Wer glaubt, ohne die Hamas würde Frieden in Gaza herrschen, ist naiv oder kennt die vergangenen 75 Jahre dieses Konflikts nicht. Sollte die Hamas „vernichtet“ werden, wie es jetzt heißt, wird eine andere Gruppe an ihre Stelle treten – jedenfalls solange sich nicht die Bedingungen ändern, die dazu geführt haben, dass so eine mörderische wie selbstmörderische Organisation überhaupt entstehen und sich im Gazastreifen etablieren konnte. Israel kann die Hamas militärisch schwächen, aber der Preis wird das Leben von tausenden Zivilisten sein. Der Glaube, das Problem damit zu beseitigen, wird sich wie schon so oft als Illusion erweisen. Es wird keine militärische Lösung geben.

Statt sich vorbehaltlos hinter Israels Regierung zu stellen, wäre es besser, die deutsche Regierung würde sich für einen Waffenstillstand und für eine dauerhafte politische Lösung einsetzen. Angesichts von Übergriffen auf Synagogen und antisemitischen Slogans auf deutschen Straßen ist es selbstverständlich, dass deutsche Politiker sich schützend vor Jüdinnen und Juden in Deutschland stellen und diese Straftaten verurteilen.

Doch ein Wort des Mitgefühls gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern hierzulande, die um die Menschen im Gazastreifen bangen und zugleich unter Pauschalverdacht geraten, würde auch nicht schaden und helfen, ihnen ihre Ängste zu nehmen.

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Daniel Bax ist Redakteur im Regieressort der taz. Er schreibt über Politik und Popkultur – inbesondere über die deutsche Innen- und Außenpolitik, die Migrations- und Kulturpolitik sowie über Nahost-Debatten und andere Kulturkämpfe, Muslime und andere Minderheiten sowie über die Linkspartei und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW). 2015 erschien sein Buch “Angst ums Abendland” über antimuslimischen Rassismus. 2018 folgte das Buch “Die Volksverführer. Warum Rechtspopulisten so erfolgreich sind.”

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