Den Haag zum Gazakrieg: Netanjahu droht Haftbefehl
Den Haags Chefankläger beantragt Haftbefehle gegen Israels Premier und Verteidigungsminister sowie drei Hamas-Führer. Entscheiden muss das Gericht.
Anklagen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Artikel 7 und 8 des Rom-Statuts des IStGH) richten sich gegen den Gaza-Chef der Hamas, Jihia al-Sinwar, den Auslandschef Ismail Hanijeh sowie gegen Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif. In einer veröffentlichten Erklärung legte Khan dar, seine Ermittlungen legten die Verantwortlichkeit der drei genannten für Vernichtung, Mord, Geiselnahme, Vergewaltigung, Folter, unmenschliche Handlungen und Vergehen gegen die Menschenwürde nahe. Er bezog sich damit sowohl auf den Überfall von Hamas-Terroristen auf israelische Zivilist*innen am 7. Oktober als auch auf den Umgang mit den zunächst 245 Geiseln. Die Situation, sagte Khan, dauere bis heute an.
Auch Israels Regierungschef Netanjahu und Verteidigungsminister Galant wirft Khan Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Insbesondere betont Khan, die Aushungerung von Zivilbevölkerung als Kriegswaffe, wie sie seit dem 8. Oktober 2023 mit der nahezu vollständigen Abriegelung des Gazastreifens und dem Abdrehen von Wasser- und Elektrizitätsversorgung erfolgt sei, sei ein Kriegsverbrechen, genauso wie vorsätzliche Angriffe auf Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen.
Energischer Protest aus Israel
Sollte die Vorverfahrenskammer tatsächlich die Haftbefehle ausstellen, wären damit alle 124 Vertragsstaaten des IStGH verpflichtet, die gesuchten Personen festzunehmen und an Den Haag zu überstellen, sollten sie dazu die Möglichkeit haben. Auslandsreisen in Vertragsstaaten – wie etwa Deutschland und fast die restliche EU, nicht allerdings die USA – wären Netanjahu und Galant damit nur noch unter hohem Risiko möglich. Israel selbst ist nicht Vertragsstaat des IStGH, die Palästinensische Autonomiebehörde hingegen seit 2015 schon. Im unwahrscheinlichen Fall also, dass der in Doha lebende Hamas-Chef Ismail Hanijeh einmal in Ramallah auftauchen sollte, müssten palästinensische Sicherheitskräfte ihn festnehmen und ausliefern.
Aus Israel kam am Montag sofort energischer Protest gegen die Entscheidung des Chefanklägers. Benny Gantz, Minister im Kriegskabinett, nannte die Beantragung der Haftbefehle „ein Verbrechen von historischem Ausmaß“. Es sei eine „tiefe Verzerrung der Gerechtigkeit und ein eklatanter moralischer Bankrott“, wenn der Ankläger Parallelen zwischen den Führern eines demokratischen Staates, der sich gegen den Terror verteidigt, und den „Führern einer blutrünstigen Terrororganisation“ zieht.
Der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir bezeichnete den Gerichtshof als „antisemitisch“, der ebenfalls rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich sprach von „Nazi-Propaganda“. Außenminister Israel Katz kündigte an, er werde mit seinen Amtskollegen in führenden Staaten sprechen, damit diese sich gegen die Entscheidung des Chefanklägers wenden „und mitteilen, dass sie auch im Fall von Haftbefehlen diese nicht gegen die Anführer des Staates Israel umsetzen werden“.
Weder aus der Bundesrepublik noch aus den USA, den beiden engsten Verbündeten Israels, gab es zunächst offizielle Reaktionen. In den USA hatten schon vor Wochen republikanische Senatoren gewarnt, sollte Khan Haftbefehle gegen israelische Regierungsmitglieder beantragen, würden sie sich für Sanktionen gegen ihn und andere Mitarbeiter der Anklagebehörde starkmachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau