Demografie, Rente und Fachkräftemangel: Im Jahr 2035 sehen wir alt aus
Wieso wird jetzt über die Rente mit 70 diskutiert? Und wo sind all die Fachkräfte hin? Ein demografischer Ausblick gibt die Antwort auf diese Fragen.
Für die Krise des Rentensystems wird häufig die gestiegene Lebenswartung in Deutschland als Ursache genannt. Ohne Zweifel ist es auf Dauer problematisch, wenn die Menschen immer länger leben, sich ansonsten aber gar nichts ändert. Auch in Deutschland wird das absehbar zum Problem, aber so richtig zum Tragen kommt das erst ab dem Jahr 2050. Bis dahin hat die Bundesrepublik zwei wesentlich gravierendere Entwicklungen zu meistern: Babyboom und Geburtenrückgang gleichzeitig.
Das kann man in einem Gutachten nachlesen, das der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums vor einem Jahr vorgelegt hat. Zwar steige die Lebenserwartung kontinuierlich. Die erste Phase des demografischen Wandels sei aber „vom schnellen Anstieg des Altersquotienten aufgrund von Babyboom und Pillenknick dominiert, deren Wirkung etwa im Jahr 2035 kulminiert.“
Babyboom und Pillenknick? Das klingt nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Aber die Phänomene gab es ja auch nicht gleichzeitig, sondern um Jahrzehnte versetzt. Zunächst gab es einen Babyboom in den 60er-Jahren mit in der Spitze mehr als 1,3 Millionen Geburten im Jahr 1964. Später gab es gleich zweifach einen Geburtenknick. Zunächst hatte sich die Zahl der Geburten bis Mitte der 70er Jahre auf unter 800.000 nahezu halbiert. Nach einem kurzzeitigen Anstieg sank sie in Folge des Mauerfalls vor allem im Osten, bis sie im Jahr 2011 mit 662.685 den bisher niedrigsten Stand erreichte.
12,9 Millionen frische Rentner:innen
Im Zusammenspiel türmen sich die sehr verschiedenen Wellen zu einem gigantischen Problem auf. Die vielen in den 60er Jahren geborenen Babyboomer gehen in den nächsten zehn Jahren in Rente. Dadurch steigt nicht nur die Zahl der Menschen über 65 deutlich. Gleichzeitig fallen die geburtenstarken Jahrgänge auch als Arbeitskräfte weg. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 Prozent der aktuell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen.
Das wäre kein Problem, wenn es gleichviele Jüngere gäbe. Aber Ersatz ist nicht in Sicht. Denn in 10 Jahren gehen die Mitte der 70er Geborenen auf die 60 zu. Dann wird es gerade mal noch gut 900.000 58-Jährige geben. Heute sind es rund 400.000 mehr. Zudem wird es deutlich weniger 20 bis 35-Jährige geben als heute, weil dann die besonders geburtenarmen Jahrgänge aus den Nullerjahren nachrücken.
Besonders anschaulich wird das anhand einer interaktiven Alterspyramide des statistischen Bundesamtes. Aktuell sind 22 Prozent aller Menschen in der Bundesrepublik älter als 65 Jahre. Im Jahr 2035 werden es 28 Prozent sein. Der Anteil der 20- bis 64-Jährigen sinkt hingegen im gleichen Maße – von aktuell 59 auf 53 Prozent.
Die Relation zwischen diesen beiden Altersgruppen verändert sich also dramatisch. Das zeigt sehr eindrücklich der Wert des Altersquotienten, also wie viele Rentner:innen es pro 100 Menschen im „Arbeitsalter“ (zwischen 20 und 64 Jahren) gibt. Vor 20 Jahren lag der Altersquotient bei 28 und vor zehn Jahren kamen noch 34 Menschen im Rentenalter auf 100 Erwerbsfähige. Mittlerweile liegt der Wert aber bei 38 und der Trend setzt sich voraussichtlich weiter fort.
Geht es so weiter, dann steigt dieser Altersquotient bis ins Jahr 2035 von 38 auf 53. Für das Rentensystem ist das fatal. Dabei ist es durch die Entwicklungen der letzten Jahre schon gestresst.
Also doch länger arbeiten?
Um dem entgegenzuwirken, wird das Renteneintrittsalter auch schon schrittweise erhöht, bis zum Jahr 2035 auf dann 67 Jahre für alle. Weil die Menschen dann länger arbeiten müssen und später in Rente gehen, steigt der Altenquotient nicht ganz so dramatisch. Er wird – wenn sich nichts weiter ändert – im Jahr 2035 bei 46 liegen – und danach weiter steigen.
Was man tun kann, um die Relation zwischen Alten und Arbeitenden in etwa auf heutigen Niveau zu halten, kann man leicht mit der Alterspyramide des Statistikamtes herausfinden. Schiebt man den Balken des Renteneintrittsalters auf 70 hoch, bleibt der Altenquotient bis zum Jahr 2035 stabil.
Hat der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall also recht, wenn er die Rente mit 70 fordert? Ja. Zumindest, wenn sich an anderen Faktoren nichts ändert. Allerdings wird ein späterer Renteneintritt Abschläge für alle bedeuten, die es zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht bis 70 schaffen. Klar ist aber: es ist höchste Zeit über neue Modelle zu reden, etwa darüber ob und wie ein differenziertes Renteneinstiegsalter gerechter sein kann.
Es könnten sich in den kommenden Jahren aber auch noch nicht vorhersehbare Änderungen ergeben. Zum Beispiel stoppte der ansonsten kontinuierliche Anstieg der Lebenserwartung zuletzt – aufgrund der Coronapandemie. Das zeigt aber nur, dass die Prognosen immer mit einem Unsicherheitsfaktor versehen sind. Der ist auch bei anderen Faktoren gegeben. Eine annähernde Vollbeschäftigung wie aktuell erlaubt es etwa, deutlich mehr Rentner:innen zu finanzieren, ohne dass das System überspannt wird.
Und was ist mit Frankreich?
Ein Blick in andere Länder hingegen hilft nur bedingt weiter. So wird von Kritiker:innen gern auf Frankreich verwiesen. Auch dort hatte die Regierung das Renteneinstiegsalter erhöhen wollen – von 62 auf 64. Was hierzulande als geradezu traumhaft gilt, wurde dort mit wochenlangen Protesten gekippt.
Aber wie kann sich Frankreich das leisten? Auch hier hilft ein Blick auf die Demografie. Unser Nachbar hat eine komplett andere Alterspyramide. Die Jahrgänge sind nahezu gleichmäßig groß. Es ist weder ein Babyboom in den 60ern, noch ein deutlicher Geburtsknick in den 70ern oder 90ern erkennen. Es gibt dementsprechend weder eine Bugwelle an Alten, die im kommenden Jahrzehnt in die Rente drängt, noch eine Lücke an Jüngeren. Das ist auch die Folge einer Politik, die kinderreiche Familien finanziell und durch weitreichende Betreuungsangebote förderte.
Ganz anders sieht es etwa in Spanien aus. Dort setzte eine gesellschaftliche Liberalisierung erst mit dem Ende der Franco-Diktatur ab 1975 ein. Die Pille wurde dort erst 1978 legalisiert. Die Zahl der Geburten sank in den ersten zehn Jahren nach Ende der Diktatur um ein Drittel, bis 1995 um fast die Hälfte. Da die geburtenstarken Jahrgänge nun auch schon 45 und älter sind, steht dem spanischen Rentensystem auch ein demografischer Schock bevor, wenn auch rund zehn Jahre später als hierzulande.
Der demografische Schockt trifft Deutschland auch noch am anderen Ende der Alterspyramide – und dürfte entscheidend für den aktuell in vielen Branchen beklagten Fachkräftemangel sein. Gemeinhin wird viel darüber berichtet, dass einige Branchen in der Corona-Pandemie entlassenes Personal nicht wieder zurückgewinnen können. Das spielt sicherlich eine Rolle. Viel dramatischer ist aber auch hier die demografische Entwicklung.
Wo sind all die Fachkräfte hin?
Was das heißt, wird ersichtlich, wenn man die Bevölkerung in Altersgruppen von jeweils 5 Jahren teilt. Im Jahr 2021 gab es rund 5,7 Millionen 30- bis 34-Jährige. Aber nur noch 4,7 Millionen 25- bis 29-Jährige, also eine Million weniger. Die noch jüngeren Jahrgänge sind noch etwas dünner besetzt. Mit anderen Worten: es fehlt der Nachwuchs.
So ist es kein Wunder, dass es Branchen wie der Gastronomie, in der traditionell viele junge Menschen als Teilzeitkraft in Nebenjobs etwa parallel zum Studium tätig sind, Schwierigkeiten haben Personal zu finden. Es ist – leicht zugespitzt gesagt – einfach niemand mehr da.
Handwerksbetriebe, die ihren Nachwuchs über Azubis im Teenageralter rekrutieren, mussten schon vor Jahren erfahren, dass ihre Stellen schwierig zu besetzen sind. Nicht, weil die Nullerjahrgänge, wie oft beklagt wird, nichts mehr auf dem Kasten haben, sondern weil sie mengenmäßig nicht so viel zu bieten haben. Aktuell können vier von zehn Betrieben nicht alle Ausbildungsplätze besetzen.
Daher bekommen nun auch Arbeitgeber:innen, die auf akademischen Nachwuchs angewiesen sind, Probleme. Denn nun sind die Mittzwanziger, die üblicherweise ihr Studium beenden, Mangelware geworden.
Mitarbeiter werden ein knappes Gut
Das hätte man mit Blick auf entsprechende Statistiken auch schon vor einigen Jahren erkennen können. Aber solche Zusammenhänge sind auch nicht leicht zu verstehen. Personalmanager sind jedenfalls gut beraten, wenn sie erkennen, dass Mitarbeiter in den kommenden Jahren weniger ein Kostenfaktor in den Bilanzen, als ein äußerst knappes Gut sind, das man schonend behandeln sollte, damit es nicht abhandenkommt.
Denn Ersatz ist auch in der nächsten Generation nicht zu erwarten – im Gegenteil: die Zahl der Abiturienten ist von 297.000 im Jahr 2016 auf 247.000 im Jahr 2020 gesunken. Ein Rückgang um ein Sechstel in nur vier Jahren.
Um die Menge der Menschen im Alter zwischen 20 und Renteneintritt bis zum Jahr 2052 nur einigermaßen auf heutigen Level zu halten, müsste man in der Alterspyramide des statistischen Bundesamtes schon die Geburtenraten und den Wanderungssaldo auf „hoch“ setzen. In einer statistischen Grafik geht das per Knopfdruck. In der Realität ist eine Umsetzung aber nicht in Sicht.
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