Arbeitsmarktforscher zu Renteneintritt: „Wirft Gerechtigkeitsfragen auf“

Sollten Menschen in stark belasteten Jobs früher in Rente gehen dürfen als andere? So einfach ist es nicht, sagt Arbeitsmarktforscher Martin Brussig.

Der Kopf eines alten Mannes mit Schwimmbrille lugt aus blauem Wasser

Ab wann ist das Arbeitsleben zu Ende und endlich Zeit fürs Freibad? Foto: Julian Stratenschulte

taz: Herr Brussig, Arbeiter und Arbeiterinnen haben eine geringere Lebenserwartung als höhere Angestellte und Beamte – und bekommen deswegen insgesamt weniger Rente. Sie sind zudem oft in Jobs tätig, in denen man gar nicht bis 67 oder länger arbeiten kann. In der Politik wird aber ein höheres Renteneintrittsalter diskutiert. Könnte man denn differenzieren, für welche Berufe das gelten soll?

Martin Brussig: Das ist schwierig. Man kann sich Berufe als Belastungsbündel vorstellen. Da gibt es viele Risikofaktoren für eine hohe Belastung. Schwere körperliche Tätigkeiten, hoher Nervenstress, Termindruck, Schichtarbeit, Fremdbestimmung, das sind alles Belastungsfaktoren. Aber es gibt auch Kompensationen – etwa dann, wenn man sich die Arbeit und die Belastung einteilen kann, wenn die Arbeitsbedingungen im Betrieb gut sind. Es ist also schwer, pauschale Aussagen zu treffen.

Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.

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In der Politik wird immer der Dachdecker genannt, der nicht bis zum Alter von 67 Jahren arbeiten kann oder die Pflegerin, die es in ihrer Tätigkeit nicht bis zur Rente schafft.

Auch da muss man die Arbeitsbedingungen betrachten. Ein Dachdecker, der nur noch ab und zu auf Dächer steigen muss, weil er im Betrieb viel Kalkulation oder Buchhaltung macht, kann länger im Beruf tätig sein. Eine Pflegerin, die vielleicht in einem kleinen ambulanten Unternehmen in Teilzeit tätig ist, kann sich die Arbeit womöglich besser einteilen und länger durchhalten als eine Kollegin in Vollzeit in einem großen Heim. Es wäre schwierig, bestimmten Berufen pauschal einen früheren Renteneintritt zu erlauben als den anderen. Es würde auch neue Gerechtigkeitsfragen aufwerfen gegenüber den anderen Berufstätigkeiten.

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Sie haben mal dazu geforscht, welche Berufe in welchem Alter verlassen werden.

Ja, das bezog sich auf das Austrittsalter aus den Berufen. Beim Hoch- und Tiefbau war das ein durchschnittliches Austrittsalter von 58 Jahren, also früh. Es kann aber gut sein, dass etwa jemand aus dem Baugewerbe mit 58 Jahren den Beruf verlässt und dann noch eine Tätigkeit im Wachschutz aufnimmt. Die Gesundheitsberufe hatten ein Austrittsalter von ungefähr 61 Jahren. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Rentenbeginn, da sind noch einige Jahre zu überbrücken, entweder durch eine andere Tätigkeit oder durch Arbeitslosigkeit.

ist Arbeitsmarktforscher am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen

An den Erwerbsminderungsrenten könnte man doch sehen, wer früher ausscheiden muss, weil er oder sie es nicht mehr schafft.

Bei den Erwerbsminderungsrenten wird nur erhoben, was der letzte Beruf vor der Erwerbsminderungsrente war. Wenn beispielsweise eine Frau 30 Jahre in der Pflege gearbeitet hat, dann dort aufhörte und noch einige Zeit in der Gastronomie tätig war, bevor sie eine Erwerbsminderungsrente bekam, dann gilt sie als ehemalige Beschäftigte in der Gastronomie. Es ist enorm schwierig, Berufsangaben zu langen Erwerbsbiographien zu bekommen, die bräuchten wir aber für Analysen.

Man könnte trotzdem politische Entscheidungen treffen, die sich an den vorliegenden Statistiken über die Belastungen und über die Lebenserwartungen orientieren.

Die Daten zu den Austrittsrisiken aus Berufen und zur Lebenserwartung könnten in die Diskussion über den Rentenbeginn mit einfließen, aber letztlich wäre es immer eine politische Entscheidung. Außerdem: Wenn man sagen würde, in bestimmten Berufen sind die Belastungen so hoch, wir erlauben pauschal eine frühere Verrentung, dann könnten die Bemühungen nachlassen, dort die Arbeitsgestaltungen zu verbessern. Es gilt aber das Prinzip: Reha vor Rente. Man müsste also auch bei den belasteten Berufen erst alles unternehmen, um die Arbeitsmöglichkeiten zu erhalten. Wie man das sozialpolitisch gebaut bekäme, erweist sich als schwierig. Nötig ist es allemal.

Welche Lösungen für einen differenzierten Rentenzugang stellen Sie sich vor?

Es wird immer Menschen geben, die nicht bis zum Beginn der Regelaltersrente arbeiten können. Da könnte ich mir vorstellen, dass man für Menschen, die einen bestimmten belasteten Beruf über eine sehr lange Zeit ausgeübt haben, ab einer Altersgrenze von zum Beispiel 60 oder 63 Jahren einen erleichterten Zugang zur Erwerbsminderungsrente schafft. Das würde sich etwas anlehnen an die frühere Berufsunfähigkeitsrente, die so heute nicht mehr existiert. Dann würde man sagen, Dachdecker und 60 Jahre alt, das reicht, wenn es nicht mehr geht. Aber einen Dachdecker, der mit 50 Jahren aufhören muss, den würde man dabei unterstützen, in einen anderen Beruf zu gehen.

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