Corona und Risikokonsum in Tübingen: Homo palmericus
Tübingens OB Boris Palmer prahlt mit seiner Corona-Modellstadt. Doch dort zeigt sich lediglich sein rechtsliberales Menschenbild.
D ie Schwaben sind ein stolzes Volk. Das kann man derzeit an Boris Palmer beobachten: Auf seinem Facebook-Account teilte Tübingens Oberbürgermeister ein Bild vom belebten Rathausplatz und einen Artikel, der zwei Menschen zeigt, die sich mit Weizenbier zuprosten.
Es sind Bilder des Alltags, die aktuell so erstaunen, weil sie für die meisten Menschen mitten in der dritten Welle alles andere als Alltag sind. Die Bilder sind Ausdruck jenes schwäbischen Stolzes, der sich auch im Landesspruch artikuliert: ‚Mir kennet älles außer Hochdeitsch‘ – und in Tübinga kennet sie jetzt au Normalität!
Nun ist es aber so, dass auch in Tübingen, wo man derzeit gegen einen negativen Coronatest einkaufen und gastronomisch speisen kann, die Infektionszahlen steigen: Zuletzt hat sich die Inzidenz innerhalb weniger Tage fast verdoppelt, am Mittwoch lag sie bei 89,6, im Landkreis Tübingen am Donnerstag bei über 131.
Palmer äußerte sich dazu bei einem Onlinetalk: Dass die Zahlen hochgingen, heiße nicht, dass man in Tübingen schlecht sei, denn sie gingen ja auch woanders hoch. Das Tübinger Modell stehe aber trotzdem unter Druck.
Schuld sind immer die Anderen
Und daran liegt es wohl, dass Palmer für das drohende Ende seines Modellprojekts schon mal vorsorglich die Schuldigen nannte: Die erhöhte Inzidenz gehe auch auf einen Ausbruch in einer Erstaufnahmestelle für Geflüchtete zurück. Außerdem beklagte er sich über junge Menschen, die abends in der Stadt Party machten.
Hier zeigt sich der Geist des Tübinger Sonderwegs: Saufen und speisen sollen nur jene, die sich das bei der örtlichen Gastronomie leisten können; wer dies auf altstädtischen Treppen tut, der sabotiert die Freiheit der Anständigen. Um diese Externalisierung der Verantwortung abzusichern, nennt man dann noch die Flüchtlinge. Während woanders durchgehalten wird, bekommen konsumfreudige Tübinger ihr exklusives Ticket in die Freiheit im Sinne des Bürgermeisters. Die Widersprüche dieses Freiheitsverständnisses löst man mit Verweis auf die anderen auf.
Dieser Palmer’sche Rechtsliberalismus, zu dem auch der aktuelle Aufruf gegen vermeintliche Cancel Culture passt, braucht Projektionsflächen für den Fall, dass er an der Coronarealität scheitert. Und irgendwie müssen die Tübinger ja auch damit klarkommen, dass das Virus nicht vor ihren Vorgärten Halt macht – auch wenn sie dort in schwäbischer Penibilität eine sichere Zone für ihren hart verdienten Konsum geschaffen zu haben meinen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen