CDU-Chef Friedrich Merz: Friedrich der Mittelgroße
Joachim-Friedrich Martin Josef Merz könnte bald Kanzler von Deutschland werden. Wissen wir, wer da kommt?
N onverbal hat sich schon was getan. Friedrich Merz lächelt immer öfter, lacht sogar, vor allem im Fernsehen. Die Coaching-Cracks sagen: Der hat an seiner Mimik gearbeitet, wirke nun nahbarer, weniger arrogant, fast schon freundlich. Nicht mehr so hard-core Deutsche Leitkultur.
Vielleicht ist es auch nur das aktuelle Grauen. In Zeiten von Trump kommt selbst ein Merz recht charmant daher. Wie eine Reminiszenz an Zeiten, als es noch Argumente und Tatsachen gab und einen Mini-Konsens: Dass es sich nicht schickt, nur zu lügen, zu drohen und einfach zuzuschlagen.
Manchmal guckt Merz jetzt in die Kamera, als wolle er sagen: Ja, ich bin von gestern, aber das ist doch prima!
Ein Fanal
Zur Mittagszeit ist Gedenkstunde. Im Bundestag spricht an diesem 29. Januar Roman Schwarzman, 88, ein Ukrainer aus Berschad – vom Überleben im Faschismus, vom Ghettoalltag mit Läusen, Schmerzen und Erniedrigung, von Hunger, Folter und „endlosen Gräben voller Leichen“. Auch von russischen Raketeneinschlägen zuhause in Odessa, heute. Es ist der 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. „Wir müssen erneut alles daransetzen“, sagt Schwarzman, „die Barbarei in die Schranken zu weisen.“ Es sei unsere Pflicht, „eine Zukunft aufzubauen, in der Menschlichkeit und Gerechtigkeit keine leeren Worte sind.“
Kurz nach 13 Uhr an diesem 29. Januar räumen die Ehrengäste, der Bundespräsident und das Streichertrio den Saal. Der Steinway vor der Regierungsbank wird auf die Seite gewuchtet, entbeint und fortgeschoben. Es ist, als würde der große, lichte Raum noch einmal durchatmen vor dem nächsten Akt.
Der Mann, der ausgerechnet heute Geschichte schreiben, ein Fanal setzen will, heißt Friedrich Merz – CDU-Parteichef, Fraktionschef der Christenunion und Kanzlerkandidat mit allerbesten Aussichten. Seine Union kommt in Umfragen derzeit stärker daher als Rot und Grün vereint. Er führt einen Wahlkampf in Schwarz-Rot-Gold, mit Substantiven wie Mut, Leistung, Sicherheit, Stabilität und Stolz. Der Sound des Wiederaufbaus. Mit Slogans, die ein vermeintlich besseres Gestern aufrufen. „Stabilität statt Chaos“, steht auf den Plakaten, „Fleiß muss man wieder im Geldbeutel spüren“ oder: „Recht und Ordnung wieder durchsetzen“. Das Wörtchen „wieder“ beamt uns zurück in eine schöne, heile CDU-Idylle, die es so nie gab. Alles so 50er – als habe der Kandidat sie an seinem inneren Nierentisch entworfen. Merz, der Wirtschaftswunder-Wiedergänger.
Doch heute möchte er Muskeln zeigen, die Gunst der Stunde nutzen – diese akute, drückende Stimmung der Angst. Im Bundestag stellt Merz einen Fünf-Punkte-Plan für eine noch rigorosere Migrationspolitik zur Abstimmung. Das Asylrecht wird in Deutschland seit über 30 Jahren verschärft. Für Merz aber scheint der Moment gekommen, auch endlich mal jenen vermeintlichen „Volkswillen“ anzuzapfen, mit dem sich AfD und FPÖ und Typen wie Wilders, Orbán, Trump und Co so erfolgreich den Tank füllen. Ihm sei gleichgültig, wer zustimmt, hat er laut erklärt. Die FDP ist dabei. Die AfD will dem Anti-Asyl-Paket zur Mehrheit verhelfen. „Eine richtige Entscheidung“, beschwichtigt Merz auf allen Kanälen, „wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen.“
Im Kern geht es am 29. Januar darum, ob das deutsche Bürgertum erstmals nach knapp 92 Jahren wieder mit Rechtsextremisten ins Bett geht. Am 23. März 1933 hatten Deutschnationale, das katholische Zentrum, die Bayernpartei und sämtliche bürgerlichen Kleinstparteien für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt und die Demokratie beerdigt. 444 Stimmen, abgegeben unter den Augen der SA. Nur 94 SPD-Stimmen standen dagegen. Die Kommunisten waren bereits verhaftet oder auf der Flucht.
Bereits am 30. Januar 1933 hatte sich der ehemalige Zentrumspolitiker Franz von Papen Adolf Hitler als Vizekanzler angedient. Viel Hybris und Naivität waren im Spiel. Großbürger, Industrielle, Junker und Militärs glaubten tatsächlich, die Nazis „in die Ecke drücken“ und im „Zaum halten“ zu können – so redete man damals in diesen Kreisen, quasi vom Reiterdenkmal herab. Papen konterte den Vorwurf, Hitler den Steigbügel gehalten zu haben, mit dem Satz: „Sie irren sich. Wir haben ihn uns engagiert.“
Chimären
Auch Merz ist katholisch und erzkonservativ, aber kein Antidemokrat, kein Papen und auch kein Idiot. Fraglich ist, wo seine Talente liegen. Wie weit ihn im Ernstfall seine politischen Instinkte tragen. Und ob er Volker Ullrichs „Schicksalsstunden einer Demokratie“ gelesen hat: „Selten ist ein politisches Projekt so rasch als Chimäre enthüllt worden wie das Konzept der Konservativen zur ‚Zähmung‘ der Nationalsozialisten.“
Empfohlener externer Inhalt
Olaf Scholz bezieht sich in der Debatte direkt auf Schwarzmans Mahnungen, spricht über „das Recht auf Asyl, das Schutz vor Gewalt, Krieg und Terror bietet“. Es sei „die unmittelbare Antwort auch auf das Grauen der NS-Herrschaft.“ Kommt dann zum Verbrechen von Aschaffenburg und den Schmerz und der Verunsicherung danach. Auch er sei empört, ruft der Kanzler. Doch nicht Gesetze seien das Problem: „Wir haben ein Vollzugsdefizit.“ Merz hatte vorab verkündet, mit seinem Antrag „all in“ zu gehen. Scholz: „Ein deutscher Bundeskanzler darf kein Zocker sein.“
SPD, Grüne und Linke geißeln an diesem Nachmittag sein Spiel. Zugleich sind sie erschrocken, flehen Merz an, doch innezuhalten, diesen „historischen Fehler“ nicht zu begehen, die Brandmauer nicht einzureißen, den „Dammbruch“ zu stoppen. Doch der zieht das jetzt durch.
Welch Stimmung im Hohen Haus: Zorn, Bitterkeit, Erstaunen, Ratlosigkeit, auch Scham. Merz, auf seinem Platz in der ersten Reihe, hat oft die Hand am Mund, steckt auch mal die Nase in die Faust. Er weiß, wie viele Augen und Objektive jetzt jede Regung verfolgen und was auch immer darin zu lesen versuchen. Er presst die Lippen zusammen, ein bisschen trotzig. Blickt kurz hinüber zum rechten Rand. Nur vier Plätze entfernt sitzt sprungbereit AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann, der nun aufs Pult zusteuert und deklamiert: „Uns geht es nicht um niederträchtige Parteitaktik. Uns geht es um Deutschland!“ Merz hat die AfD in eine echte Win-win-Lage geführt. Gewinnt sein Antrag, skandiert sie: Nur dank uns! Und: Die Brandmauer ist gefallen! Scheitert er, wird sie brüllen: Nur wir können Deutschland retten!
Merz-Nachbar Christian Lindner brandmarkt den grünen Hauptfeind als „Steigbügelhalter der AfD“. SPD-Chefin Saskia Esken entfährt ein lautes „Pfui Deubel“.
Als der Sieg errungen und verkündet ist – knapp, mit 348 zu 344 Stimmen – wird es merkwürdig still im Saal. Die Reihen von CDU/CSU und FDP sind auffällig leer. Nur am rechten Rand johlt die AfD, beklopft sich die Schultern und produziert Selfies. Merz gibt zu Protokoll, er suche keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte. Und setzt kleinlaut hinzu: „Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das.“ Da lacht Frau Weidel: „So was will Kanzlerkandidat sein!“ Und ihr Baumann eilt noch einmal ans Mikro, um den neuen Partner in den Senkel zu stellen: Sie, höhnt er, „stehen hier mit schlotternden Knien und bibbern und entschuldigen sich und bedauern das.“ Und Merz ruft: „Nee! Gar nicht!“
Stunde der Schmach
Was bewegt diesen Mann? Was will er? Sein Handeln ist schwer absehbar. Denn der spätberufene Spitzenpolitiker Friedrich Merz, 69, hat nie regiert, war als Geschäftsmann weit engagierter und erfolgreicher als im Parlament.
Die SPD hat ein kleines, gemeines Video ihres Altstars Franz Müntefering in Umlauf gebracht, auch ein Sauerländer. Münte spottet: Kohl wie Merkel wollten den Merz nicht im Kabinett haben: „Die haben ihn gekannt. Die haben gewusst: Das ist nicht gut mit dem.“
Joachim-Friedrich Martin Josef Merz wuchs im Städtchen Brilon im Hochsauerlandkreis heran – katholisch, konservativ und wohlhabend, in achter Generation, in einer Sackgasse hinter hohen Hecken. Sein Vater war Direktor des Amtsgerichts, die Mutter stammt aus der reichen Briloner Familie Sauvigny. Auf dem Gymnasium in Brilon galten die Umgangsformen des Sprösslings nach Recherchen von Lokalzeitungen als eher rustikal. Als die Versetzung gefährdet schien, wechselte Merz auf eine Schule im nahen Rüthen, wo er das Abitur schaffte. Er soll stets sehr selbstbewusst aufgetreten sein.
Merz trat als Schüler 1972 in die CDU ein, studierte Jura wie der Vater, war nach dem zweiten Staatsexamen auch kurz Richter, wechselte aber bald als Syndikus zum Verband der Chemischen Industrie. 1989 zog er für die CDU ins Europäische Parlament ein („Für deutsche Interessen in Europa!“),1994 dann in den Bundestag, wo er 2000 CDU/CSU-Fraktionschef wurde.
Doch als Kanzlerkandidat und CSU-Oberhaupt Edmund Stoiber 2002 gegen Gerhard Schröder verlor, erhob CDU-Chefin Merkel Anspruch auf den Fraktionsvorsitz. Stoiber willigte ein, weshalb Merz ihm, so Stoiber, „lange sehr gram war“. Merz musste in die zweite Reihe – eine Demütigung, die er, da scheinen sich alle einig, nie verwunden hat. Stoibers Wahlkampfmacher Michael Spreng, befand, der Fall Merz sei die „exemplarische Geschichte eines talentierten, aber überheblichen und eitlen Mannes, der eine listige, zielstrebige und uneitle Frau unterschätzte“.
Selbst vom „Andenpakt“, dem 1979 auf einem whiskygetränkten Nachtflug über die Anden gegründeten Treuebund machtlustiger Jungunionisten, der Ministerpräsidenten wie Koch, Müller, Wulff, Oettinger und Bouffier hervorbrachte, wurde Merz erst 2005 adoptiert – als er schon entmachtet war.
Merkel war sein Schlüsselschmerz. Auch Vater Merz verließ 2007 nach 51-jähriger Mitgliedschaft empört die CDU. Begründung: Angela Merkel dulde „allenfalls qualifizierte Mittelmäßigkeit“. Merz junior blieb bis 2009 im Bundestag, verließ aber schon 2004 per Brief an die „liebe Angela“ Parteipräsidium und Fraktionsführung.
Sein Entthronungstrauma kompensierte der Volksvertreter, indem er sich als Anwalt und Lobbyist verdingte. 2005 wurde er Partner der US-Kanzlei Mayer Brown, häufte immer mehr Posten auf, meist in Aufsichtsräten – etwa bei der Commerzbank, dem AXA-Konzern, bei BASF Antwerpen, IVG Immobilien, DBV-Winterthur, Stadler Rail usw. In der 14. Legislaturperiode brachte es der emsige Mann auf 18 Nebentätigkeiten, in der 15. auf mindestens 11. Als die Parlamentarier verpflichtet wurden, ihre Nebeneinkünfte zu veröffentlichen, klagte Merz, verlor vor dem Bundesverfassungsgericht. Seine Diäten als Abgeordneter waren wohl eher ein Taschengeld.
2010 bekam Merz von der CDU-Regierung in NRW den Auftrag, die angeschlagene Westdeutsche Landesbank zu verkaufen. Der „Verkaufsbevollmächtigte“, enthüllte „ZDF frontal“, berechnete ein Tageshonorar von 5 000 Euro, von Montag bis Sonntag, 396 Tage lang – in Summe fast zwei Millionen Euro. Die Tätigkeit blieb erfolglos. Ab 2016 lenkte der passionierte Hobbyflieger den Aufsichtsrat der deutschen Dependance von BlackRock, dem weltgrößten Finanzinvestor. Einem Boulevardblatt verriet er einmal, dass er im Jahr rund eine Million Euro verdiene. Seine Selbsteinstufung: „gehobene Mittelschicht“.
So entsteht das Bild eines Mannes, der weniger das Gemeinwohl als die Vertretung mächtiger Interessen im Auge hat – gern gegen gutes Geld, gern auch die eigenen. Der in eine Welt hineinwuchs, die sich in der Gewissheit wiegt, dass alles genau so, wie es ist, seine Ordnung hat – wahrscheinlich eine göttliche. Dass die, die oben sind, dort völlig zu Recht stehen, es verdient haben – durch Fleiß, Begabung und Vaterlandsliebe.
Politisch übersetzten sich solche Überzeugungen oft in marktradikalen Positionen: weniger Staat, vor allem weniger Sozialstaat, weniger Bildungsangebote, weniger „Gleichmacherei“, weg mit dem Bürgergeld, mit allzu viel Mitbestimmung und Kündigungsschutz. Rente? Erst mit 70! Ein Klassenkampf von oben. Merz dachte auch schon mal darüber nach, ob 130 Euro Hilfe im Monat nicht eigentlich genug seien. Selbst die Familie ist für ihn letztlich Teil der Wertschöpfungskette: „Wenn heute zu wenig Kinder geboren werden“, schrieb Merz 2008 in seinem Buch „Kapitalismus wagen“, „fehlen morgen die Mitarbeiter und übermorgen die Kunden.“
Und, pünktlich zur Finanzkrise: „Marktwirtschaft ist aus sich selbst gerecht“.
Der Sturm von Brilon
Und dann sind da ein paar hässliche Flecken. Anfang 2004, als seine Politkarriere bröckelte, stachelte Merz die Parteifreunde daheim auf, den „roten Bürgermeister“ von Brilon abzuwählen und blies zum „Sturm auf das rote Rathaus“. Es erfülle ihn „mit tiefem Grausen“, sprach er, dass ein Sozialdemokrat dort sitze, auch weil sein Opa mütterlicherseits einst dieses Amt innehatte.
In der Tat war Josef Paul Sauvigny Bürgermeister von Brilon gewesen, von 1917 bis 1937. Ursprünglich ein Mann der Zentrumspartei, hielt er am 1. Mai 1933 seine Fahne in den Wind und eine Lobrede auf Hitler, trat auch der SA der Reserve und anderen NS-Organisationen bei und ließ zwei Straßen nach Adolf Hitler und Hermann Göring benennen.
Das mit dem „Sturm auf das rote Rathaus“ habe ihn schon enttäuscht, schreibt Franz Schrewe, pensionierter Finanzbeamter und SPD-Bürgermeister in Brilon von 1999 bis 2014, auf Nachfrage. Der Begriff „stammt aus den Monaten nach der Machtübernahme der Nazis 1933, nachlesbar in vielen Archiven deutscher Städte, in denen Bürgermeister aus ihren Ämtern entlassen wurden“. Tatsächlich sei im Rathaus Brilon genau ein Sozialdemokrat gewesen, nämlich er – „in einer Stadt, die fast 50 Jahre von einer absoluten Mehrheit der CDU beherrscht wurde“. Persönlich habe er Merz nur einmal getroffen. Beim Bürgermeisterbesuch zur diamantenen Hochzeit seiner Eltern.
Vergiftet
Am Freitag, dem 31. Januar, bei der 211. Sitzung des Deutschen Bundestages, gibt es Versuche, das fatale „Zustrombegrenzungsgesetz“ des Friedrich Merz zu stoppen. Gut drei Stunden lang ist die Sitzung unterbrochen. An der Tür von Büro 3N019, wo Fraktionschef Merz residiert, geben sich zunehmend ratlos dreinblickende Emissäre anderer Fraktionen die Klinke in die Hand.
Im Unions-Fraktionssaal um die Ecke gibt es für die ahnungslosen Hinterbänkler irgendwann Kaffee, mit Beifall begrüßt, aber kaum Informationen. Merz mag keine der für ihn gebauten Brücken betreten. FDP, AfD und die Truppe von Sahra Wagenknecht signalisieren weiter Zustimmung. Doch er sieht mitgenommen aus, als er endlich bei seinen Leuten auftritt.
Am späten Nachmittag klingelt es im Reichstag endlich zur namentlichen Abstimmung. Petra Pau gibt das Ergebnis bekannt: 338 Ja-Stimmen gegen 349 Nein-Stimmen, bei fünf Enthaltungen. Abgelehnt. Bei der CDU haben zwölf Stimmen gefehlt, beim BSW drei, bei der FDP 23 – gut ein Viertel der Fraktion. Sie taugt nicht einmal zum Rechtsputsch.
Ein Tiefschlag. Merz schraubt seinen Füller zu. Tritt kurz darauf vor die Presse – abgewatscht, verschwitzt, doch auf kuriose Weise heiter. Erklärt, er sei „persönlich mit sich sehr im Reinen, dass wir es wenigstens versucht haben“, fühle sich „sehr gestärkt“ und, ja, „sehr selbstbewusst“. Ist es eine Art Selbsthypnose?
Michel Friedman trat tags zuvor nach gut 40 Jahren aus der CDU aus. Er sagt: „Die AfD, diese Partei des Hasses, sät Gift. Wer sich mit denen zusammensetzt, muss fürchten, mitvergiftet zu werden. Und das ist der CDU passiert.“
„Wir wollten ihn. Wir sind am Ziel.“
Drei Tage später: Parteitag im CityCube Berlin am Messedamm. Alles strahlt in „Cadenabbia-Blau“ einem hellen Türkis, benannt nach Konrad Adenauers Lieblings-Urlaubsort am Comer See. Carsten Linnemann, der General von Merz, hat den neuen „Look“ entwickelt und mit Begriffen wie „Vitalität, Zuversicht, Freiheit“ aufgeladen. Es ist jenes Türkis, das Österreichs Politstar Sebastian Kurz 2017 seiner ÖVP verpasste. Nur ist Kurz längst verglüht. Und die ÖVP wieder schwarz.
Die Delegierten schwenken Pappschilder: „Mittelstand wählt Merz“, „Wieder nach vorne“ und das Wortspiel: „KANNzler“. Aua. Schnelle Videos heben den Kampfesmut, eine Band spielt klatschbare Takte. Kritik wird ausgeblendet, die großen Proteste draußen – kein Thema. Bekannte Gesichter paradieren über die Bühne: Wüst, Spahn und Frei, Linnemann, Kretschmer, Klöckner, Amthor. CSU-Chef Markus Söder dreht noch einmal Robert Habeck durch den Wolf.
Hat Merz sich verzockt? Die Umfragen wirken stabil, die CDU-Bürger nicht empört. „Ich spüre keinen Schmerz“, sagt Fabian, 30, aus Baden-Württemberg. „Merz hat durchgezogen, fand ich gut. Jetzt haben wir halt klare Unterschiede“ – anders als bei Merkel.“ Die Junge Union habe Merz immer unterstützt: „Wir wollten ihn. Wir sind am Ziel.“
Frage: Hat man nicht verloren, wenn man „all in“ ruft und dann die falsche Zahl fällt? Manuel, 19, lächelt nur. Er ist Bundesvorsitzender der Schülerunion, mit dunklem Jackett, gestreiftem Hemd und dezentem Schlips. Sitzt schon im CDU-Bundesvorstand mit am Tisch. Manuel hat die Vokabeln drauf: „Bürokratie abbauen, Steuersystem reformieren, Leistung in den Mittelpunkt stellen.“ Ja, sie sehen immer noch aus wie immer, wie Nachwuchs-Notare, wie kleine Chefs. Ich erinnere die Junge Union aus meiner Schulzeit als ein Geräusch: das kalte Klacken der Schlösser von Aktenkoffern.
Zum Schluss spricht der Kandidat. Die Stimmung ist gut, der Beifall laut genug, doch der Reporter ist müde. Zu viel Merz in diesen Tagen. Während der Rede erspähe ich auf einem Stuhl im Saarland-Block Peter Altmaier. Ein wahrer Merkelianer, Sohn eines Bergarbeiters und einer Krankenschwester. Unter Kohl ein Nobody, unter Merkel Strippenzieher, Kanzleramtschef, Wirtschaftsminister. Am 30. Januar schrieb Altmaier auf X: „Das Feixen der AfD zeigt erneut: sie darf nie bestimmen, wer die Mehrheit hat.“
Wie geht’s Ihnen, Herr Altmaier? „Hervorragend!“, strahlt er, „besser als seit Jahren.“ Und wie geht es Ihnen politisch? „Politisch?“ Er lacht, wendet sich wieder Richtung Merz. „Ich muss hier jetzt zuhören!“
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