Buchpremiere von Angela Merkel: Nur nicht rumjammern
Altkanzlerin Merkel stellt ihre Memoiren vor und spricht über die DDR, Männer in der Politik und Putin. Fehler bei ihrer Russlandpolitik sieht sie nicht.
„Ja“, antwortet Merkel, hält kurz inne und sagt dann, nicht genug für den Klimaschutz getan zu haben. Auch sei in die Bundeswehr nicht ausreichend Geld geflossen. Von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine spricht sie hier nicht.
Merkel und Will sitzen am Dienstagabend auf der Bühne des Deutschen Theaters in Berlin-Mitte in zwei schlichten grauen Sesseln, dazu sind drei unauffällige Tischchen gruppiert, alles sehr dezent. Selbst Merkel, eigentlich für ihre farbenfrohen Jacken berühmt, hat sich an diesem Abend für einen weißen Blazer entschieden.
Über den beiden Frauen aber leuchtet groß und in strahlendem Blau das Cover des Buches, um das es hier nun knapp zwei Stunden gehen wird. „Freiheit“, Merkels Erinnerungen, über 700 Seiten stark, die sie gemeinsam mit ihrer Weggefährtin und ehemaligen Büroleiterin Beate Baumann verfasst hat. Baumann, sagt Will, sei hinter der Bühne. Merkels Mann, Joachim Sauer, sitzt im Publikum, auch der Schauspieler Ulrich Matthes ist da, der ehemalige Fraktionschef Volker Kauder und ihr früherer Sprecher Ulrich Wilhelm sind gekommen. Die Schauspielerin Corinna Harfouch hat irgendwo Platz genommen, sie hat das Hörbuch von „Freiheit“ eingelesen.
Draußen vor der Tür stehen ein paar Querdenker, drinnen ist das Theater mit seinen gut 600 Plätzen brechend voll, die Buchvorstellung war ruckzuck ausverkauft. „Wer wollen Sie in Ihrer Geschichte gewesen sein?“, so beschreibt Will zu Beginn des Abends die Frage, die durch das Gespräch führen soll. Denn natürlich geht es um Deutungshoheit über das eigene Schaffen, wenn Politiker*innen Memoiren verfassen.
Abifeier mit Kirsch-Whisky
Das Gespräch folgt dem Buch: Erst geht es um Merkels Leben in der DDR, dann um ihren Aufstieg in der CDU, am Ende steht die Kanzlerschaft, 16 Jahre lang. 2015, sagt Merkel, sei dabei eine Zäsur gewesen. Sie teile ihre Zeit als Kanzlerin in ein Davor und ein Danach. Auch aus den Kontroversen aus dieser Zeit sei die Idee des Buches entstanden. Merkel will sich und ihre Entscheidung, die Grenze für Geflüchtete nicht zu schließen, noch einmal erklären.
Zuerst aber erzählt sie von ihrem Leben in der DDR, von der Vorbereitung durch ihre Eltern auf das Leben in der Diktatur, von ihrer Abifeier mit zu viel Kirsch-Whisky, die mit dem Sturz in einen See endete. In einen „uckermärkischen, eiszeitbeschaffenen See“, wie Merkel betont. Will, die aus Köln stammt, hatte fälschlicherweise von einem Baggersee gesprochen.
„Ich habe meine Kraft aus meinem Leben in der DDR geschöpft“, sagt Merkel. „Ein anderes hatte ich ja nicht.“ Und dass es doch eigentlich „eine schöne Mitteilung“ sei, dass die Fähigkeiten, die sie dort erworben habe, dafür gereicht hätten, 16 Jahre Bundeskanzlerin in der Bundesrepublik Deutschland zu sein.
Wer Merkel zuhört, realisiert schnell, wie wichtig ihr die erste Hälfte ihres Lebens ist, die sie in der DDR verbracht hat. Und wie sehr es sie traf, als ein Springer-Journalist sie als „angelernte Bundesbürgerin“ bezeichnete oder die Konrad-Adenauer-Stiftung vom „Ballast ihrer DDR-Biographie“ sprach. Darüber sprach sie erst 2021 in ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit, kurz vor de Ende ihrer Kanzlerschaft. Warum? Wäre früher nicht besser gewesen, auch weil andere Ostdeutsche das ähnlich empfunden haben? „Ich wollte die Bundeskanzlerin aller Deutschen sein“, antwortet Merkel. Viel mehr sagt sie dazu nicht.
Siegerin in der Machtmaschine
„Was war das größere Problem als Kanzlerin: Ostdeutsche oder Frau zu sein?“, fragt Will. „Unterm Strich: eine Frau zu sein“, antwortet Merkel überraschend klar. Und warum sie dann das „Männer!“, mit dem sie im jüngsten Spiegel über das Ampel-Aus geurteilt hätte, nicht auch den Männern in ihrer Partei zugerufen habe? Den Kochs und Wulffs und Merzens etwa, die sich im sogenannten Andenpakt versprochen hatten, die Kohl-Nachfolge unter sich auszumachen und sie mit Häme und Missachtung überzogen?
Sie wollte nicht jammerig wirken, sagt die Altkanzlerin, die sich am Ende durchsetzte – was Merz, inzwischen selbst CDU-Chef und immerhin Kanzlerkandidat, ihr vermutlich bis heute nicht ganz verziehen hat. Parteien, sagt Merkel, das seien Machtmaschinen. „Das ist wie im Sport.“ Da könne man ja auch nicht rumjammern, man habe verloren, weil man Frau sei oder Ostdeutsche.
Und schon ist man wieder bei Merz. Gönnt sie diesem nach all den Jahren, dass er vielleicht bald Kanzler wird? „Ja“, sagt Merkel da. „Man braucht diesen unbedingten Willen zur Macht. Friedrich Merz hat ihn auch, und deshalb gönne ich es ihm.“
Merkel und Will kennen sich schon lange. Als Kanzlerin war Merkel früher mehrmals Einzelgast in Wills Talkshow, die damals am Sonntagabend nach dem Tatort lief. Trotz präziser Nachfragen ist die Atmosphäre auf der Bühne gut, die beiden Frauen harmonieren, das Gespräch ist kurzweilig und hat – dank Merkels Humor – auch immer wieder richtig witzige Stellen. Das Publikum, der Altkanzlerin ohnehin wohlgesonnen, lacht bereitwillig mit. Beklatscht wird sie sowieso.
Etwa als sie noch einmal von ihrer Entscheidung im Sommer 2015 berichtet, sie liest dazu auch eine Passage aus ihrem Buch. Sie hätte ihren viel zitierten Satz „Wir schaffen das“ nicht gesagt, wenn sie gedacht hätte, dass dies eine leichte Aufgabe sei, so die Altkanzlerin. „Dann hätte ich das nicht sagen brauchen.“ Sie habe keine Alternative zu ihrer Entscheidung gesehen, die Geflüchteten rein zu lassen, eine Zurückweisung an der deutschen Grenze wäre „noch dramatischer“ gewesen. „Insofern habe ich am Anfang akzeptiert, dass so viele Menschen kamen.“
Der Zuzug habe sich dann auf die politischen Verhältnisse in Deutschland ausgewirkt: „Ich freu mich natürlich nicht, dass die AfD stark geworden ist.“ Das klingt fast so, als habe sie selbst damit nichts zu tun. Selbstkritisches jedenfalls ist hier nicht von ihr zu hören. Die Zurückweisung von Geflüchteten an der Grenze, wie Merz sie fordert, lehnt Merkel auch heute noch ab. Ob dieser ihr Erbe damit verrate, fragt Will. „In dieser Frage haben wir unterschiedliche Meinungen, und das ist ja auch nichts Neues“, sagt die Altkanzlerin. „Ich halte es auch für den falschen Weg.“
Keine Selbstkritik auch im Fall Ukraine
Gut anderthalb Stunden dauert es, bis das Gespräch bei Russland und Putins Angriffskrieg, bei der Ukraine, dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest und der Pipeline Nord Stream 2 angekommen ist. Auch hier: Merkel erklärt, was sie antrieb, infrage stellt sie es nicht. „Einerseits ging es um billiges Gas, das war gut für die deutsche Wirtschaft“, sagt sie etwa. „Andererseits wollte ich auch nicht alle wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland kappen.“ Sie sehe nicht, dass Putin die Ukraine nicht angegriffen hätte, wenn es Nord Stream 2 nicht gegeben hätte.
„Sie bereuen nichts? Sie machen sich keinen Vorwurf?“, fragt Will nach. „Ich persönlich halte es auch im Rückblick für keinen Fehler. Das muss ich einfach so sagen“, antwortet die Altkanzlerin. Und fügt dann noch etwas gereizt hinzu: „Warum muss ich das machen? Ist das ein Gütesiegel an sich?“ Auch dafür bekommt sie Applaus, zumindest von einem Teil des Publikums.
Die Memoiren werden in über 30 Ländern verkauft. Anfang Dezember reist Merkel nach Washington, um die englische Übersetzung mit Ex-Präsident Barack Obama vorzustellen, weitere Termine sind laut Verlag in Paris, Barcelona, Mailand und Amsterdam geplant. Zunächst aber reist Merkel zur Lesung nach Stralsund, in ihren alten Wahlkreis.
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