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Autorin über Nachwendekinder„Ich feiere Nie-Wieder-Vereinigung“

Ein Gespräch unter Nachwendekindern über das Trauma der Arbeitslosigkeit, gebrochene Nasen und Sekt am dritten Oktober.

Paula ­Fürstenbergs größte offene Frage an die Eltern­generation: „Warum zur Hölle habt ihr CDU gewählt?“ Foto: Sophie Kirchner
Aron Boks
Interview von Aron Boks

An einem Tag im Frühling treffe ich Paula Fürstenberg in ihrem Kollektivbüro in einem Altbau in Berlin-Kreuzberg. Wir sitzen an einem breiten Holztisch, an dem sie auch arbeitet. Gerade ist ihr neues Buch erschienen. „Weltalltage“ heißt es und erzählt vor allem von einer Freundschaft und Freundschaftskummer als Äquivalent zum viel erzählten Liebeskummer. Aber auch von Krankheit, von Klassenfragen – immer wieder verzahnt sich dabei die Geschichte mit der Nachwendezeit. Fürstenberg ist 1987 in der DDR geboren, ich zehn Jahre später im Osten. Wir beide gelten als Nachwendekinder. Ich will von ihr wissen, wie sie sich eine Zeit erschließt, die sie als Kleinkind erlebt hat, wie das Aufwachsen in einer orientierungslosen Gesellschaft war und wie man Sprachlose sprechen lassen kann. Und vor allem interessiert mich, wieso die Nachwendezeit für uns und für so viele junge Menschen im Osten noch immer eine Rolle spielt.

wochentaz: Paula Fürstenberg, du hast die DDR kaum bewusst erlebt, wieso interessiert dich so, was davon übriggeblieben ist?

Im Interview: Paula Fürstenberg

Die Schriftstellerin

Fürstenberg wurde 1987 in Potsdam geboren und lebt seit 2011 in Berlin. Sie hat am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Humboldt-­Universität studiert. 2022 hat sie die Talk-Reihe „Let’s talk about class“ mitkuratiert. Gerade erschien mit „Weltalltage“ ihr zweiter Roman.

Das Buch

„Weltalltage“ (Kiepenheuer & Witsch) erzählt von der Krise einer Freundschaft, die durch die Nachwendezeit geprägt wurde. Sie droht zu zerbrechen an einer Krankheit und an psy­chischen Brüchen, in einer aufs Funktionieren-­Müssen gepolten Gesellschaft.

Paula Fürstenberg: Das Schreiben darüber hat bei mir wie bei den allermeisten Nachwendekindern damit angefangen, dass ich den ostdeutschen Raum verlassen habe. Ich bin in die Schweiz und nach Frankreich gegangen und hab’ gemerkt, dass ich an bestimmten Stellen anders ticke.

Merkst du das im Alltag?

Vorab: Ich finde das gar nicht schlimm. Ich fänd’s ohnehin besser, wenn der Fokus nicht auf eine deutsche Einheit, sondern auf Vielfalt gelegt würde. Unterschiede zu westdeutsch Sozialisierten spüre ich auf unterschiedliche Weise, in Zukunftsannahmen, im Weltbild, und ja, auch im Alltag.

Ich frage, weil das für mich ein ganz diffuses Gefühl ist, gerade wenn ich mit westdeutschen Freun­d:in­nen zusammen bin.

Frage an dich: Wel­ches Lied singst du, wenn wer Geburtstag hat?

[Anmerkung: „Happy Birthday“ zählte nicht.]

Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …“

Das ist das westdeutsche Lied! Das ostdeutsche geht so: „Weil heute dein Geburtstag ist, da haben wir gedacht …“

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

„… Wir singen dir ein schönes Lied, weil dir das Freude macht …“ Das habe ich immer in der Schule gesungen!

Das singen wir in meiner WG immer an Geburtstagen und alle meine west­sozialisierten Mit­be­woh­ne­r:in­nen mussten es lernen.

Als du 2016 dein Debüt zu dem Thema veröffentlicht hast, gab es auch das Buch „Nachwendekinder“ noch nicht, das einen Begriff für die Nachgeborenen-Generation fand.

Ich bin damals auf einen Diskurs getroffen, in dem wir gar nicht vorkamen. Die Leute wussten nicht, wo sie diesen Text und mich einsortieren sollen, und ich war eine Art doppelte Enttäuschung für Ost und West.

Wieso?

Ich glaube, dass die Älteren die große Hoffnung hatten, dass sich das ganze Ost-West-Thema mit den Folgegenerationen erledigt. Oft bekomme ich den Satz „Ist doch mal gut jetzt“ zu hören.

Von Westdeutschen oder Ostdeutschen?

Von beiden! Obwohl damit jeweils sehr unterschiedliche Dinge gemeint sind. Im Osten eher: „Ist doch mal gut jetzt mit Diktaturgedächtnis und Stasiaufarbeitung.“ Und im Westen meint man damit: „Ist doch mal gut jetzt mit Jammern über die Vereinigungsprozesse.“ Auf der Bühne wurde ich oft gefragt: Warum beschäftigst du dich damit? Was hast du noch damit zu tun? So viel Unverständnis! Ich glaube, gepaart mit einer Enttäuschung darüber, dass die nächste Generation doch noch damit ankommt.

Ich höre diese Sprüche auch noch, wenn ich Fragen stelle. Besonders beliebt ist auch: „Das spielt für euch doch gar keine Rolle mehr“ – manchmal wirkt das harmoniebedürftig. Als wollte man sagen: „Ihr müsst euch doch jetzt nicht mehr damit beschäftigen.“

Auf der Ostseite kann ich das auch irgendwie verstehen. Unsere Elterngeneration hat ein halbes Leben und eine Wahnsinnskraft in diesem Einheitsprozess gelassen, sicher auch mit Hoffnung für uns Kinder, die in einem anderen politischen System und mit Reisefreiheit aufwachsen sollten. Um dann zu merken: So einfach ist es nicht …

Besonders, wenn die Kinder immer wieder an diese schwierige Zeit erinnern …

Es geht ja nicht um Undankbarkeit oder darum, dass das alles falsch war. Sondern darum, überhaupt thematisieren zu können, dass es nicht gegessen ist. Manchmal denke ich: Was habt ihr denn eigentlich geglaubt? Habt ihr geglaubt, dass 40 Jahre Diktatur für die Nachgeborenen egal sind? Dass die rechte Gewalt der 90er und 00er Jahre keine Spuren hinterlässt? Dass eine kollektive Arbeitslosigkeit durch die Elternbiografien geht und die Kinder das nicht mitkriegen?

Zwischen deinem Debüt und dem jetzigen Buch liegen 8 Jahre. Hat sich dein Nachdenken über Ostdeutschland seitdem verändert?

Ja, sehr! Einen Diskurs mit sich selbst zu führen macht keinen Spaß. Durch die vielen Bücher und Filme anderer Nachwendekinder, die in den letzten Jahren erschienen sind, hat sich richtig viel getan. Zeitgleich kam der diskriminierungskritische Diskurs auf, der meinen Blick auf den Osten auch noch mal verändert hat.

Inwiefern?

Ich habe angefangen, den Osten aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und mich dafür zu interessieren, was es eigentlich bedeutet hat, bestimmte Jahre als Mann oder als Frau zu erleben? Was hat es bedeutet, in den 90er Jahren in Ostdeutschland nicht weiß zu sein? Einmal wurde ich auf der Bühne gefragt, wie ich die Baseballschlägerjahre erlebt hatte …

#Baseballschlägerjahre – auch so ein Begriff, den es erst seit 5 Jahren gibt!

… ja, und der die alltägliche, rechte ­Gewalt der Nachwendezeit beschreibt. Als ich gefragt wurde, wie das bei mir war, habe ich total geblockt und gesagt, dass das bei mir nicht so schlimm war mit den Nazis. Ich war gegen dieses medial überpräsente Bild des rechten Ostens, neben dem keine andere Erzählung Platz hat. In meinem ersten Buch läuft kein einziger Nazi durchs Bild. Auf dem Nachhauseweg habe ich daran gedacht, dass ich, obwohl Potsdam keine Nazihochburg war, trotzdem meine halbe Jugend auf Gegendemos verbracht habe. Mir sind all die Leute wieder eingefallen, denen die Nase gebrochen wurde. Die rechte Gewalt war allgegenwärtig, aber ich habe automatisch gemauert. Diesen Abwehrmechanismus haben Bücher wie „1.000 Serpentinen Angst“ von Olivia Wenzel oder „Wie ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ von Manja Präkels aufgeweicht.

Trotzdem wollen Medien immer gern den Osten erklärt bekommen. Merkst du, dass das jetzt vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg wieder zunimmt?

Ich habe vor allem gerade das Gefühl, dass wir noch nicht richtig kapiert haben, was diese Einheit bedeutet, was da wirklich passiert ist. Es könnte ja sein, dass sie seit über 30 Jahren falsch erzählt wird.

Wie meinst du das?

Die deutsche Einheit ist ja schon als vieles erzählt worden. In den offiziellen Reden zum Tag der Einheit ist sie eine Erfolgsgeschichte von Demokratie und freier Marktwirtschaft. In Literatur und Wissenschaft ist sie oft eine Geschichte der sozialen Abstiege und der Massenarbeitslosigkeit. In den Erzählungen der Subkultur ist sie eine Geschichte der so gewonnenen wie verronnenen Freiräume, die auf Brachen, in Techno-Kellern und besetzten Häusern spielt und die entweder mit der Räumung oder mit Mietvertrag und Brandschutzauflagen endet. Und in den Erzählungen von Westdeutschen ist sie ein ewiges Fragezeichen, wieso die Ostdeutschen trotz Asphaltierung ihrer Innenstädte so unzufrieden sind. Ich fürchte, dass sie aber auch als Geschichte des Wiederaufstiegs des Faschismus erzählt werden muss. Sehr wenige wollen sich die Frage stellen, was der Aufstieg der AfD und die rechte Gewalt mit der Vereinigung zu tun haben. Wenn ich anfange, dahin zu gucken, kann ich eine interessante Linie ziehen. Die fängt 1989/90 an mit einer völkischen Verschiebung von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“, führt über die Eskalation rechter Gewalt der 90er und 00er Jahre bis zum Wahljahr 2024, in dem die AfD stärkste Kraft in drei ostdeutschen Landtagen zu werden droht.

Warum sprichst du eigentlich von Vereinigung und nie von Wiedervereinigung?

Das hat mit genau diesem Zweifel zu tun: Worauf bezieht sich eigentlich „wieder“? An welche historische Wirklichkeit knüpfen wir da an? Ich behaupte nicht, dass die Deutsche Einheit von Anfang an ein rechtes oder faschistisches Projekt gewesen ist, aber sie ist als Narrativ überhaupt nicht wehrhaft gegen rechte, völkische und patriotische Tendenzen. Im Gegenteil, sie wurde von den Nazis gefeiert. Und ich habe das Gefühl, dass der Zusammenhang überhaupt nicht verstanden wird.

Wenn es aber um die Nachwendezeit und die DDR geht, erzählen viele Nachwendekinder, dass sie sich die großen, aber oft in den Familien schwer ansprechbaren Dinge über Alltagsgegenstände erschließen. Eine alte NVA-Uniform, ein Fotoalbum, ein Simson-Moped. Wie war das bei dir?

Das Buch „Nachwendekinder“ von Johannes Nichelmann, auf das du vorhin schon angespielt hast, trägt ja den Untertitel …

„Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“.

Dieses Schweigen gab es in meiner Familie nicht. Im Gegenteil, seit ich denken kann, wird über die Biografien gesprochen, über Chancen und Brüche, darüber, wie das Leben vor und nach der Wende war.

Unsere Fragen an unsere Eltern und Großeltern wirken ziemlich ähnlich. Trotzdem hast du im Gegensatz zu mir, wenn auch unbewusst, die DDR noch miterlebt. Spürst du im Gespräch altersbedingte Unterschiede, wenn es um die Beschäftigung mit dieser Zeit geht?

Die stärksten Unterschiede darin, wie und ob über die Vergangenheit gesprochen wird, merke ich entlang der Familienbiografien. Der Historiker Martin Sabrow beschreibt drei Formen der Erinnerungskultur an die DDR: das Diktaturgedächtnis, das Arrangementgedächtnis und das Fortschrittsgedächtnis. Welches dieser Gedächtnisse in der Familie gepflegt wird, prägt auch die Beschäftigung der Kinder mit der Vergangenheit.

Was hat das damit zu tun, wie über die Wendezeit gesprochen wird?

Die Kinder derjenigen, für die die Jahre 1989/90 keinen großen beruflichen und privaten Umbruch bedeutet haben, haben zum Beispiel oft weniger das Bedürfnis, sich mit der eigenen Ostsozialisierung auseinanderzusetzen. Allerdings habe ich in „Lütten Klein“ von Steffen Mau gelesen, dass 80 Prozent der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung ABM und Umschulungsmaßnahmen absolvieren mussten. Da ist mir die Kinnlade runtergeklappt. 80 Prozent! Da hat sich mir die Schuldfrage noch mal neu gestellt.

Welche Schuld meinst du?

Die Schuld an der Arbeitslosigkeit. Ich habe erst da verstanden, dass nicht bloß die paar Leute, die ich zufällig kenne, in den 90ern gestruggelt haben, sondern dass es den meisten im Osten so ging. Ich fand es krass, wie sehr ich diese neoliberale Logik des Westens verinnerlicht hatte – wer es nur wirklich will, kann es schaffen, und wer es nicht schafft, muss selber schuld sein.

Oft wird dann entgegnet, wie marode die DDR-Wirtschaft war, obwohl es doch eigentlich ganz separat darum geht, dass sich so viele Ältere umorientieren mussten …

Ja, und gleichzeitig denke ich manchmal, sie haben die schnelle Einheit auch gewählt. Oft heißt es ja, wir Nachwendekinder müssten eine Art 68 veranstalten. Der Vergleich hinkt zwar aus verschiedenen Gründen. Aber eine Frage, auf die ich noch keine hinreichende Antwort habe, ist: Warum zur Hölle habt ihr CDU gewählt? Im Moment ist das meine größte offene Frage an die Elterngeneration.

Ich spüre auch das Bedürfnis, diese Fragen zu stellen. Aber das Anprangern fühlt sich auch komisch an. Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wenn ich vorher die ganze Zeit in dieser Mangelwirtschaft gelebt hätte und dann weiß: Jetzt kommt das große Glück. Eigentlich finde ich den Vergleich ziemlich gut.

Du meinst den 68er-Vergleich?

Ja. Oder überhaupt die Frage: Warum? Was habt ihr damals gedacht? Warum wolltet ihr das so? Was habt ihr gedacht, was dann passiert?

Genau das haben die 68er aber kaum getan! Die haben sich nicht erst mal gründlich dafür interessiert, wie es ihren Eltern geht. Die haben Randale gemacht und, zu Recht, gefordert, dass die Altnazis aus den Führungsetagen verschwinden. Das ist schon mal ein Riesenunterschied. Es ist gut, dass wir unsere Eltern konfrontieren, aber von welchem Thron wollen wir sie denn stoßen, wenn Ostdeutsche in allen Führungspositionen chronisch unterrepräsentiert sind? Klar, wir sollten mit ihnen darüber reden, in welchem Verhältnis sie zur Diktatur standen, aber der Gestus: „Wir stoßen euch von euren Machtpositionen“ funktioniert nicht, denn da sitzen die nicht. Und, mal ehrlich: Wir Nachwendekinder neigen auch dazu, unsere Eltern gegen pauschale Jammer­ossi-Vorwürfe zu verteidigen. Das ist wirklich das Gegenteil der 68er.

Vielleicht wäre es gut, wenn die meisten aus unserer Elterngeneration zur Therapie gegangen wären.

Mehr Therapie ist immer gut. Aber erstens kann man gesellschaftliche Missstände nicht privat wegtherapieren und zweitens glaube ich, dass das nicht ostspezifisch ist: Wir Jüngeren sind die erste Generation, die einen entspannteren Umgang mit Psychotherapie hat. Für den Roman habe ich mich mit ostdeutschen Suiziden nach der Wende beschäftigt. Die betrafen vor allem Männer. Dazu kam der Geburtenknick Anfang der 90er im Osten.

Was hat dich daran interessiert?

Es hat mich fasziniert, zu verstehen, wie massiv sich ein Systemumbruch auf Körper und Gesundheit und Psyche auswirkt und auf die Lebensentscheidungen, die man trifft.

In deinem Buch geht es um Freundschaft und wie sie in Krisenzeiten funktioniert. Wie hast du Freundschaften in deinem Aufwachsen in den nuller Jahren erlebt?

Meine Urerfahrung von Welt ist: wirklich überall Baustelle. Niemand weiß, wo es langgeht. Diese Straße heißt morgen anders, die Leute haben morgen einen anderen Beruf. Und ich glaube, dass Freundschaften auch wegen einer überschaubar ansprechbaren Elterngeneration extrem wichtig wurden. Sie waren eine Familienergänzung. Bei mir halten einige dieser Freundschaften bis heute an.

Habt ihr damals in der Schule in Potsdam eigentlich über die DDR gesprochen?

Ein Mal im Geschichtsunterricht. Da sollten wir für einen Diktaturvergleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem „Dritten Reich“ und der DDR bestimmen. Freundinnen und ich haben empört den Raum verlassen.

Wie alt wart ihr da?

14 oder 16. Der Lehrer war Westdeutscher und hat wohl nicht gecheckt, dass er jetzt Familiengeschichte unterrichtet und das Thema vielleicht behutsamer angehen sollte, statt alle Eltern mit Fa­schis­t:in­nen zu vergleichen.

In deinem Buch sagt der beste Freund der Erzählerin, dass sie seine Familie rauslassen soll, wenn sie über ihn schreibt. Bist du beim Schreiben über Familie auch auf solche Widerstände gestoßen?

Ein ethisches Problem autobiografischen Erzählens ist ja dieses: Ich kriege meine Biografie nicht erzählt, ohne die von anderen Leuten mitzuerzählen. Ich habe mit Kol­le­g:in­nen viel darüber nachgedacht, was das bedeutet. Zum Beispiel die eigenen Eltern auf die Bühne zu zerren – ob die wollen oder nicht.

Habt ihr dafür eine Lösung gefunden?

Nee, einfache Antworten gibt’s an der Stelle nicht. Was ich immer versuche, ist, den Text einmal mit den Augen von allen Figuren durchzulesen. Und man kann die betroffenen Personen vorab gegenlesen lassen.

Was machst du, wenn die gemeinte Person verletzt ist?

Das ist die Frage. Meine Erzählerin hat ja das Problem, dass ihr bester Freund ihr sogar verbieten will, seine Geschichte zu erzählen. Sie löst es so, dass sie seine Kritik und seine Gegendarstellungen in den Text integriert und so beide Versionen lesbar macht.

Um Harmonie geht es dabei nicht?

Es geht darum, zu wissen, was man macht. Und nicht aus bloßer Ahnungslosigkeit Leute völlig anders darzustellen, als sie sich selbst erzählen würden. Das kann ein schwieriger Aushandlungsprozess sein, aber ich habe bislang nur Gutes darüber gehört … Ich hätte auch noch eine Frage an dich: Feierst du den 3. Oktober?

Ich kenne kaum jemanden außer Steinmeier, der den 3. Oktober feiert, machst du das?

Als ich in der Schweiz gelebt habe, habe ich am 3. Oktober einen Schluck Sekt getrunken und auf die Leute und Orte angestoßen, die ich ohne den Mauerfall niemals kennengelernt hätte. Zurück in Berlin habe ich damit aufgehört. Auf den Demoplakaten im Januar war ja oft „Nie wieder ist jetzt“ zu lesen. In diesem Sinne: Ich trinke am 3. Oktober erst wieder Sekt, wenn wir da Nie-wieder-Vereinigung feiern.

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39 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Käptn Blaubär , Moderator*in

    Vielen Dank für eure Beiträge, wir haben die Kommentarfunktion nun geschlossen.

  • "Sehr wenige wollen sich die Frage stellen, was der Aufstieg der AfD und die rechte Gewalt mit der Vereinigung zu tun haben. [...] Die fängt 1989/90 an mit einer völkischen Verschiebung von „Wir sind das Volk“ ..."

    Mit der Nutzung dieses Datums als Start für Rechtsextremismus in der DDR perpetuiert man den Narrativ von der angeblich faschismusfreien DDR.

    Das fing schon vor der Wende an mit den Rechten. Mit Volksrepublikgedöns, sich Verpieseln in der Verantwortung für den Staat Israel, Mauerbau gegen "Fremde" sogar im wörtlichen Sinn und Beschweigen von Rassismus in der DDR, der eigenen und der deutschen Geschichte.

  • Zur CDU Frage. Biedenkopf war der liebe Onkel aus dem Westen der Sachsen wieder aufbauen wollte. Auf einmal hatten viele CDU Politiker ihre Wurzeln im Osten wiederentdeckt.



    Links war immer gleich SED/PDS und mit den Grünen konnten die Alten wenig anfangen. Die lagen uns Jungen mehr.

  • "Warum zur Hölle habt ihr CDU gewählt? „ Gute Frage“. Meine Antwort, weil die CDU deutsch-deutsche Wiedervereinigung Hüben und Drüben im Umgang mit dem NS Erbe, Holocaust, NS Zwangsarbeit unter dem Verteidigungskonzept NS Kriegsverbreche s Albert Speer (1905-1981) vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal 1946 als Maxime im Umgang mit DDR SED Nomenklatur Regime sog. Unrechtsstaatshinterlassenschaften im Vorfeld erster freier Wahl der DDR Volkskammer 18. März 1990 zu vermitteln verstand, Verantwortung einzuräumen aber persönliche Schuld von sich zu weisen und sich sogleich mit der DDR Blockflötenpartei Nationaler Front CDU Ost stilbildend vereinigte, gewürzt mit Aussicht vorgezogener DM Währungsunion 17. Juni 1990 noch vor deutsch-deutscher Wiedervereinigung 3. Oktober 1990, dem Wirtschaftsbündnis sozialistischen Lagers der Bruderländer Osteuropas Comecon den Dolchstoß zu versetzen, die noch bestehende DDR als eine dessen tragender Säulen sozialistischer Arbeitsteilung untereinander herauszubrechen, entgegen allen Gorbi, Gorbi Rufen beim 40. Jahrestag DDR SED Jubelfest Oktober 1989 Erfolgsaussichten Michail Gorbatschows Glasnost, Peristroika Projekts sozialistischer Länder währungspolitisch den Boden wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu entziehen, sich nicht nur einem deutsch-deutschen Verfassungskonvent zu verweigern, bundesdeutsches Grundgesetz gemäß dessen Präambel 1949 in eine neue deutsche Verfassung überzuleiten, mit ehemals 53 mit Deutschland im

    • @Joachim Petrick:

      Meine Antwort: erst kommt das Fressen, dann die Moral.

      Und wenn man erlebt, wie man von den angeblich Guten über Jahre belogen wurde, wählt man sicher nicht Leute, bei denen man wieder die Versprechen an Gerechtigkeit glauben soll. Ich habe es damals auch nicht verstanden, jetzt aber sehr gut. Der ganze ehem. Ostblock hat doch vom Sozialismus die Nase voll.

      • @Dr. McSchreck:

        "Und wenn man erlebt, wie man von den angeblich Guten über Jahre belogen wurde, wählt man sicher nicht Leute, [...]"

        Sondern man wählt Leute, die einem das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Stichwort "blühende Landschaften". Obwohl man eigentlich wissen müsste, dass dieses Versprechen Nonsens ist.

  • Was die Frage der CDU-Wahl angeht. Erschließt die sich ziemlich leicht. Im Wesentlichen handelte es sich damals noch um ein 3-Parteien-System und die CDU war in jedem Fall die Partei, die dem Empfinden der Bürger nach am weitesten von der SED entfernt war.

    Nicht zu vergessen, der damalige Spitzenkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, sich gegen eine direkte Wiedervereinigung aussprach. Aus seiner Sicht mag es dafür Gründe gegeben haben, aber für die DDR-Bürger stand immer auch die Gefahr im Raum, dass sich die alten Kader wieder durchsetzen. Und es war Kohl, der sich vollumfänglich für die Wiedervereinigung aussprach. Und bei allen Verfehlungen und aus welchen Gründen auch immer, das war richtig so!

    Als Kleinkind haben Sie davon und auch von den Repressionen des Systems überhaupt keine Vorstellung, aber schon als Jugendlicher, der mit den Organisationen für diese geargwöhnt hat, konnte man leicht eine Vorstellung gewinnen, was die DDR wirklich war.

    • @insLot:

      Exakt diese Antwort habe ich von meinen Eltern auch bekommen. Auch der Grund warum meine linken Eltern nie Lafontaine leiden konnten.

      • @wirklich?:

        Lafontaine war ja auch gegen die Einführung der DM (mark), mit guten wirtschaftlichen Argumenten, dass damit die DDR-Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig sein wird. So kam es auch.

        Nur kam das eben rüber, als würde er es den Menschen nicht gönnen.

    • @insLot:

      Absolut richtig.

      Frau Fürstenberg offenbart den arroganten Blick der Nachgeborenen, die weder mit dem System noch mit den Umbrüchen des Systemwechsels auch nur im Ansatz etwas zu tun hatte. Dies offenbart sich auch in ihrer Überraschung darüber, dass 80 % der ostdeutschen Arbeitsbevölkerung einen Kontakt zu ABM und Umschulung hatten.

      In der Verwaltungs und Beamtenstadt Potsdam kann man diesen Blick auch gar nicht entwickeln. Die Umbrüche dort waren weitaus geringer als im Rest der ehemaligen DDR. Die Arbeit in Ministerien und Behörden lief ja überwiegend weiter. Nennenswerte Industrie (wie andere Bezirkshauptstädte) hatte Potsdam schon zu Ostzeiten nicht.

  • Es ist wirklich seltsam, warum schauen alle beim Thema AfD auf den Osten?

    Die AfD wurde in Hessen gegründet und war damals das Ergebnis einer Lücke im politischen Spektrum. Genauso wie die Linke in einer solchen Lücke existiert, nur die muss sich diese mit den Grünen teilen.

    Der Elefant im Raum, über den niemand spricht, ist der Verlust der Integrationskraft der Volksparteien SPD und CDU-CSU, welche die Wanderung beider Parteien hin zur Mitte mit sich gebracht hat.

    • @insLot:

      "Die AfD wurde in Hessen gegründet "

      Genau und Hitler kam aus Östereich. Das Leben kann so einfach sein.

      Für das besondere Erstarken von Pegida, Rechtsextreme Gruppen und AfD speziell in Ostdeutschland muss sich die dortige Bevölkerung mit verantworten.

      Rausreden geht nicht.

      • @Rudolf Fissner:

        Verantworten? Rausreden? Die freuen sich wie bolle und sind stolz auf das, was sie bewirkt haben.

  • "Warum zur Hölle habt ihr CDU gewählt? Im Moment ist das meine größte offene Frage an die Elterngeneration."

    --> Angeblich hat sich Frau Fürstenberg mit der Wende und allem beschäftigt, da sollte ihr die Antwort auf diese Frage nicht schwer fallen. Die Antwort gibt auch den Hinweis auf den Höhenflug der AfD im Osten.

    Obwohl die DDR dem Wirtschaftssystem nach sozialistisch und hinsichtlich der Frauenrechte geradezu progressiv (nach heutigen Maßstäben) war, war sie soziologisch eine extrem konservative Gesellschaft. Das zeigt sich (unter anderem) am Staatsprinzip "Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft" (Familiengesetzbuch der DDR), was Horkheimer bereits zu die Familie als "Keimzelle des Faschismus" veränderte. Ein anderer Punkt ist die Xenophobie der Ostdeutschen, die Ausländer Zeit der DDR nur als "Vertragsarbeiter" erst aus Angola, dann aus Vietnam und damit nicht als gleichberechtigte Mitbürger kannten.

    Dieses extrem konservative, man könnte sogar sagen rechte Gesellschaftsbild wurde nur durch den staatlich angeordneten Antifaschismus überdeckt bzw. rot lackiert. Nachdem mit der Wende der rote Lack abblätterte, kamen die konservative bis rechte Weltanschauung nahezu aller DDR-Bürger zum Vorschein und brach sich in der Wahl der CDU Bahn. Konsequenterweise führte der Weg zu einer mehr Mitte-CDU unter Merkel (weg von der Kohl-Koch-Mappus-CDU) zu einem Machtvakuum, welches die AfD besetzte.

    Die Gesellschaft ist im Osten ähnlich konservativ, wie Baden-Württemberg und Bayern und man schaue sich an, welche Parteien dort lange regieren/regierten.

    Dazu müsste man aber mal den Blick aus der durchaus linken Hochburg Potsdam auf das ostdeutsche Land richten und dort mit Menschen sprechen.

    • @Kriebs:

      Tatsächlich haben viele 90 aber auch CDU gewählt, weil diese eben im Gegensatz zu Lafontaine vollumfänglich für die Wiedervereinigung waren. Der Vergleich mit dem konservativen Bayern und Baden-Württemberg hinkt. Dort ist es ein Konservativsein der Etablierten und Wohlhabenden Kleinbürger. Hier im Osten durchaus auch, trotzdem finde ich der Vergleich hinkt. Das extrem konservative Weltbild ist nicht so eindeutig wie man vielleicht denken mag, es war in den 90ern durchaus nicht entschieden wer sich durchsetzt, zudem hat man im Norden Ostdeutschlands jetzt auch bereits viele Jahre SPD Herrschaft. Der Osten hat sehr unter der Abwanderung gelitten. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert in den Westen in den 90ern, da kommt man zum einen schonmal auf die Früher war alles Besser Attitüde, zum anderen fehlten die Abgewanderten, welche oft eher linker und jünger waren als die Durchschnittsbevölkerung. Ich möchte am Ende sagen, dass nicht alles falsch ist was sie hier schreiben, vieles sogar richtig, allerdings pauschalisieren sie dann auch und behaupten polemisch, dass besagte Autorin nur die linken Potsdamer Kreise kennt, was ich schade finde.

      • @wirklich?:

        Ich halte die Treue der Nord-Ost-Deutschen Bundesländer zur SPD tatsächlich für ein Beispiel der konservativen Einstellung. Man wählt SPD, weil man das eben immer schon (seit der Wende) so gemacht hat.

        Ich würde mal die steile These in den Raum stellen, dass maßgebliche Teile der z.B. brandenburgischen SPD-Wähler sich im Wahlprogramm der SPD nicht mehr wiederfinden. Für Brandenburg kann ich das als geborener Süd-Brandenburger und zu großen Teilen auch in Potsdam Aufgewachsener - denke ich - einigermaßen einschätzen.

        Insbesondere in Süd-Brandenburg gibt es einen deutlich konservativen (Cottbus wurde z.B. die meiste Zeit "schwarz" regiert) bis neo-Nazi Überhang (z.B. die Spreelichter).

        "[...] behaupten polemisch, dass besagte Autorin nur die linken Potsdamer Kreise kennt, was ich schade finde."

        --> Was die Autorin und die linken Kreise angeht, fasse ich nur (zugegebenermaßen etwas polemisch) ihre eigenen Aussagen zusammen:

        "Auf dem Nachhauseweg habe ich daran gedacht, dass ich, obwohl Potsdam keine Nazihochburg war, trotzdem meine halbe Jugend auf Gegendemos verbracht habe."

        Diese Gegendemos in Potsdam kenne ich und die haben nichts mit echtem Wagnis zu tun. Gegendemos in Potsdam sahen (auch in den 90ern) so aus: 15 - (max.) 50 Nazis und 150 - 1.500 Gegendemonstranten. Nicht das der Eindruck entstünde, es wäre falsch. Im Gegenteil. Jeder Demonstrant mehr auf einer Anti-Faschismus-Demo ist sehr gut. Aber aus einem Verhältnis Nazi-Gegendemonstranten von mind. 1:10 abzuleiten, man habe in der Jugend Erfahrungen mit Rechten gemacht, ist dann doch sehr vermessen.

        Auch hier lohnt der Blick nach Süd-Brandenburg. Dort am 20.04. mit bunten Haaren oder nicht-weißer Haut aus dem Haus zu gehen war wirklich eine Gefahr.

        Frau Fürstenberg hat es wahrscheinlich nichtmal bis nach Caputh, Ferch oder Michendorf geschafft. Sich am Platz der Einheit in eine Gruppe Gleichgesinnter zu stellen, ist keine Gegendemo-Erfahrung.

  • Danke Dafür!



    Das ist für mich eine wirklich neue Perspektive, da ich Null Kontakt zu Nachwendekindern habe.



    Die Abwehrhaltung Älterer zu dem Thema kann ich sehr gut verstehen, schließlich haben wir uns ein Jahrzehnt lang intensiv mit dem Thema herumgeschlagen.



    Da geht jeder Thematik früher oder später die Luft aus.



    Derzeit, mit ordentlichem zeitlichen Abstand, muss ich nicht mehr angestrengt weghören, wenn die alten Fragen wieder gestellt werden.



    Die Frage nach dem Wahlverhalten wurde mir kürzlich im "Kling Klang" Artikel freundlicherweise beantwortet.



    Ergänzend sei hier erwähnt, dass Lafontaine für die SPD damals prophezeite, dass die Angleichung von Ost und West mindestens 20 Jahre dauern würde.



    Kohl sprach hingegen von blühenden Landschaften.



    Es ist wohl menschlich, sich für die positive Darstellung der Wahrheit zu entscheiden.



    Um ein zeitgemäßes Beispiel von Selbstzensur zu geben: Ukrainekrieg.



    Klar, Putin ist der Völkerrechtsbrechende Agressor in diesem Krieg.



    Doch weshalb blenden Viele die Verfehlungen der Ukraine aus, die auch von der UN erhoben wurden?



    Weil es einfach unkomplizierter ist, wenn es keine Grautöne gibt.



    Weil es für uns schöner ist, wenn Einer der Böse und ein Anderer der Gute ist.



    Falls die Wahrheit etwas differenzierter ist, biegen wir uns sie zurecht.



    Das nur als Hinweis, dass auch die " Nachwendekinder"



    keineswegs anders agieren, als Ihre Eltern oder Großeltern Generation.

    • @Philippo1000:

      Ohne die Entgleisung bezüglich Ukraine hätte ihr Statement mehr erfreut. Hier Verfehlungen dieses Landes ins Spiel zu bringen, ist völlig daneben. Mir fällt kein Staat/Land ein, der/das ohne Verfehlungen agiert. Überfallen und morden bleibt verwerflich, zumal es im seltensten Falle die Verursacher der Verfehlungen trifft.

    • @Philippo1000:

      Vielen Dank für diesen Beitrag.

  • Dass die Menschen hier 1990 CDU gewählt haben, kann ich mir noch aus denn unbedingten Glauben an die Versprechungen Kohl, der Illusion darüber, zumindest erklären (auch wenn ich es schon damlas anders sah), dass sie es 1994 erneut getan haben und (zumindest in Thüringen bis 2012 und Sachsen bis heute) habe ich als Ostdeutscher nicht begriffen, da ware die Leere dieser Versprechungen doch überall zu sehen und in der Biographie der Menschen hier schmerzhaft spürbar. Das ist dann schon Eigenverantwortung für ihre politische Entscheidungen, die sie übernehmen müssen.

  • Die Frage, warum die Leute damals CDU gewählt haben, ist für diejenigen, die die Zeit bewusst erlebt haben, sehr einfach zu beantworten.

    Die CDU war damals die einzige größere Partei, die sich offen und ohne Bedenken für eine Wiedervereinigung aussprach.

    Wer also in den Westen wollte, ohne die Wohnung verlassen zu müssen, hatte den Eindruck, mit der CDU gut zu fahren.

  • Identifikation und Identitäten sind wirklich spannend.

    „Wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst …“ ist kein typisches West-Lied, weil es erst 1981 veröffentlicht wurde und Rolf Zukowskis Erfolg erst in den 90ern breite Fahrt aufnahm.

    Für ein Kindergarten- oder Grundschul-Geburtstagslied eignet es sich eigentlich nicht, weil es zu viele Strophen hat.

    Typische West-Geburtstagslieder, mit denen man im Westen zu Ost-West-Zeiten sozialisiert worden ist, sind "Am Fenster heute morgen" und "Wir freuen uns, dass Du geboren bist".

    Es gab auch eine deutschsprachige Variante von "Happy Birthday", die heute keiner mehr singt.

    Ich habe es persönlich schon in anderen Zusammenhängen erlebt, dass jemand mit einer Ost-Sozialisiation etwas, dass in den 90ern modern wurde, für typisch Westen hielt.

    Dabei war es den Westlern bis dato genauso unbekannt.

    Besonderfs spannend ist, dass "Happy Birthday" nicht zählt.

    Das bekannteste und deshalb gemeinsamkeitstiftende Lied wird rausgenommen, also in diesem Kontext erst mal tabuisiert.

    Um Unterschiede und Partikularidentitäten betonen zu können?

  • Klar ist der 03. Oktober der Tag der Wiedervereinigung unseres Landes.



    Mit 1945 hat Deutschland seinen Wahnsinn zum Glück verloren und ein Teil unseres Landes ging in die neue Diktatur des Proletariats (DDR) über, wogegen die BRD sich frei und demokratisch entwickeln konnte, was immerhin auch eine gewisse Zeit gedauert hat.



    In der DDR ging es wirtschaftlich, na ja nach einem totalen Zusammenbruch mußte es ja aufwärts gehen, bis etwa Anfang der 1970er Jahre funktionierte das auch irgendwie.



    Dann stagnierte das System und funktionierte technisch nur noch beim Militär, bei der Stasi, der Auslandsaufklärung und bei den Wohnhäusern der Führung in Wandlitz.



    Ok, einige handverlesene Betriebe gab es auch, die haben dann für wenig DM in den Westen geliefert.



    Das die Wiedervereinigung bei einigen Neonazis anders gedeutet wurde ist vollkommen normal, die konnten ja doch nichts erreichen.



    Leider vollführt das die AfD heute und kann etwa 8% der Bevölkerung (nicht der Wähler) wieder erreichen.

    • @Tino Winkler:

      Ja, die DDR-Wirtschaft hatte es schwer. Anfangs wurden immense Kriegsschulden an die UdSSR bezahlt. Der Westen hingegen erhielt Marshall-Planhilfe, von Kriegsschulden wollte man dort nichts wissen. Wenn der Kommentator der Nazi- Rassengesetze namens Globke als rechte Hand von Adenauer fungierte, kein Wunder. Doch zurück zur DDR. Mit Honecker kam ein immenses Sozial- und Wohnungsbauprogramm.Das kostete sehr viel Geld und konnte am Ende nicht gestemmt werden. Hinzu kamen Handels- und Wirtschaftsschikanen seitens des Westens.Und die katastrophale wirtschaftliche Lage der UdSSR, des wichtigsten und einzigen Förderer der DDR. Ohne deren Unterstützung konnte das Land nicht existieren. Freiheit und Demokratie spielten nie die entscheidende Rolle.

      • @Peter Herrmann:

        Ja, lieber Peter, es ist leichter diese TATSACHEN zu ignorieren - als sich ihnen zu stellen.

        Zu den traurigen TATSACHEN gehört übrigens auch, dass "der Russe" 1952 angeboten hat, dass Deutschland vereint sein dürfe - wenn es NEUTRAL bleibt. DAS war die ENTSCHEIDENDE Voraussetzung (Kommt das manchem jetzt vielleicht gar bekannt vor?). Adenauer wollte das NICHT - und so haben "die Ossis" die Zeche für den verlorenen Krieg bezahlt. Die später so vielbeweinten "armen Brüder und Schwestern" im Osten ...

        Für das einige Deutschland hätte es jedenfalls wohl kaum einen Marshallplan gegeben. Und den "armen" Verwandten konnte man später doch immer noch zur Aufmunterung dann Päckchen mit Mehl und Grieß senden...

        Und das mal hier nur nebenbei bemerkt: Wir waren die „Chinesen“ – lange bevor die ihre Chance bekamen; als „verlängerte Werkbank des Westens“. Was bei uns wirklich mal gut war an Konsumgütern wurde spottbillig in den Westen verscherbelt, während wir selbst teuer dafür bezahlten. Auch unser Fleisch wurde verhökert - während es uns dafür in den Läden fehlte.

        Was waren das doch für „tolle“ Zeiten, wo man zwangsläufig fast zum Vegetarier wurde. „Esst weniger Fleisch“ – war bei uns schon „Staatsprogramm“. Und das nicht etwa wegen Der Grünen und des Klimas! - Der Import des Schlachtviehs aus der DDR kostete übrigens nur ein Viertel gegenüber dem des bundesdeutschen Landwirts. Da hat sich so mancher eine goldene Nase verdient. Auch mancher westliche Politiker. Nachzulesen in einem Buch über Franz Josef Strauß (Wahn und Willkür).

        Ihr wundert euch, dass man "der Politik des Westens" nicht wirklich traut? Hier habt Ihr eine Erklärung in der Sache: Ihr wollt euch noch nicht einmal heute den Tatsachen wirklich stellen, stattdessen wird der Ostdeutsche lieber weiter als demokratiefern diffamiert und denunziert, dabei erwarten wir im Grunde doch wohl nur MEHR Demokratie - als die Wessis bereit zuzugestehen. Nicht ohne Grund, dass vielen die Schweiz DAS Vorbild an Demokratie ist.

      • @Peter Herrmann:

        Von Kriegsschulden wollte man dort (im Westen) nichts wissen?



        Stimmt nicht. Machen Sie sich mal kundig.

      • @Peter Herrmann:

        Freiheit und Demokratie spielen die entscheidende Rolle bei uns Menschen, nur eben nicht für Diktaturen, wie die DDR eine war.

      • @Peter Herrmann:

        Aber trotzdem waren genug Ressourcen da, um 17 Mio Menschen einzusperren und zu bespitzeln.

      • @Peter Herrmann:

        Das wurde und wird zu oft vergessen.

  • "Aber eine Frage, auf die ich noch keine hinreichende Antwort habe, ist: Warum zur Hölle habt ihr CDU gewählt? Im Moment ist das meine größte offene Frage an die Elterngeneration."

    Meine Großmutter hat, bis Merkel ging, CDU gewählt. Danach missfiel es ihr irgendwie, wie sich die Unionspolitiker im Machtkampf aufführten. Angefangen hat sie damit, weil wohl unter Unionsführung beschlossen wurde, dass auch Ostdeutsche Rente kriegen sollten. Ich persönlich habe diese Begründung nie kapiert, weil ich es anders unvorstellbar fand. Wahrscheinlich meldete sich da ihr Kriegskindtrauma zurück und ihre Erfahrung als 45 bis 49 der Staat zusammengebrochen war und ihre Familie vertrieben wurde. Da hat sie die Solidarität der "Volksgemeinschaft" schon einmal gespürt. Und zur Westpolitik hatte sie gar keinen Bezug

    • @Paul Anther:

      Zu "anders unvorstellbar": Die Wende war eine beispiellose, offene Situation ohne Blaupausen aus der Vergangenheit. Es war alles möglich und das spürten die Menschen. Die DDR als Sonderwirtschaftszone wurde zumindest in Hinterzimmern diskutiert. Wenn diese Entscheidung gefallen wäre, wäre eine 1:1-Umrechung von Währung/Rente fraglich gewesen.

  • Vielen Dank für den Text des "Ost-Geburtstags-Liedes"



    Der ist so viel schöner und zugewandter als das unlogische und Ich-bezogene "wir hätten dich sonst sehr vermisst"

    In unserer Familie wird der 3. Oktober übrigens seit einigen Jahren immer gefeiert. Wir sind zwar allein damit, aber es ist eine schöne Gelegenheit den Kindern mitzugeben, dass es mal ein Ostdeutschland gab, in dem die Leute sich zusammengatan haben, um für sich und ihre Interessen, Wünsche und Bedürfnisse aufgestanden sind, um gemeinsam die Diktatur zu bekämpfen und die dabei sogar Erfolg hatten.



    Dass danach dann einiges schief gelaufen ist, wird zu anderen Zeiten erklärt. Denn im Großen und Ganzen ist es trotz aller Fehler immer noch eine Erfolgsgeschichte.

    • @Herma Huhn:

      Stimmt. Und man sollte nicht vergessen: Es war eine FRIEDLICHE Revolution, die ERFOLG hatte. Gibt es sonst nicht oft in der Geschichte. Ja, es gibt gute Gründe den 3. Oktober zu feiern.

    • @Herma Huhn:

      Ich bezogenes Kinderlied?



      Für sich und ihre Interessen, Wünsche und Bedürfnisse aufgestanden sind.



      Im Westen schlecht im Osten gut!

      • @Eulenauge:

        "wir hätten dich sonst sehr vermisst"



        vs



        "weil dir das Freude macht"

        Um wessen Gefühle geht es jeweils?

        Und aufgestanden sind die im Osten. Den Westlern war es doch bis zum Fall der Mauer überwiegend egal. (wie gesagt: Die Fehler danach sind Stoff für einen anderen Tag)

        • @Herma Huhn:

          Das ist aber lediglich ihre Interpretation. Meiner Nachkriegsgeneration war der Fall der Mauer keineswegs egal.

    • @Herma Huhn:

      Die DDR gibt es nicht mehr. Ostdeutschland und Westdeutschland immer noch

      • @Paul Anther:

        ok, da haben Sie mich. Habe lange überlegt, wie ich es ausdrücke, damit es nicht falsch verstanden wird.

      • @Paul Anther:

        So wie es auch ein Nord- und Süddeutschland gibt.