Ausbeutung in Corona-Krise: Spargel unser
Der Wert eines Menschenlebens ist nicht verhandelbar. Für Erntehelfer*innen aus Osteuropa aber scheint eine zynische Kosten-Nutzen-Rechnung zu gelten.
Das System, in dem wir leben, der so heilige Sozialstaat, wird schon lange auch durch diejenigen aufrechterhalten, die unsichtbar sind: Arbeitskräfte aus dem Osten Europas. Jedes Jahr machen sich Hunderttausende von ihnen auf den Weg nach Deutschland und Österreich. Sie kommen aus Polen, Rumänien, Moldau, Bosnien oder Bulgarien.
Sie kommen, um zu arbeiten, um die Jobs zu übernehmen, die andere nicht übernehmen wollen oder können. Ohne Lobby, die für ihre Rechte kämpft, trauen sich viele von ihnen nicht, ihre Stimme zu erheben, aus Angst, sie könnten ihre Anstellungen verlieren. Auch wenn man diese Menschen nicht hört, sind sie doch da.
Jetzt, wo Grenzen geschlossen werden, ein Land sich vor dem Virus abriegelt, zeigt sich, wie unverzichtbar Arbeiter*innen aus Mittel- und Osteuropa sind. Ihre sonst unsichtbar gemachte Arbeit wird plötzlich sichtbar, Leerstellen klaffen auf. In dieser Krise zeigt sich nun einmal mehr, welches Leben in einer Gesellschaft als wertvoll und schützenswert erachtet wird.
Ist es das der polnischen Pflegekraft, die sich rund um die Uhr um den deutschen Opa kümmert? Das Leben des rumänischen Spargelerntehelfers, der dafür sorgt, dass das Luxusgemüse auf dem Teller landet? Oder das der ukrainischen Haushaltshilfe, die für Ordnung und Sauberkeit sorgt?
Freiheitsberaubung beim Bauern
Am Mittwoch berichtete der Spiegel von einem in Baden-Württemberg verstorbenen rumänischen Erntehelfer. Der Mann, Ende 50, soll vor seinem Tod über Husten und Schnupfen geklagt haben. Der Test auf Covid-19 fiel positiv aus. Es ist der erste bestätigte Fall eines Erntehelfers in Deutschland im Zusammenhang mit der Coronakrise. Am selben Tag berichtete der ORF von einem österreichischen Landwirt, der seine ukrainischen Erntehelfer*innen eingesperrt haben soll – aus Angst, sie könnten sich mit Corona anstecken. Sie sollen bis zu 72 Stunden pro Woche gearbeitet haben. Zweiundsiebzig Stunden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den Mann wegen Freiheitsentziehung. Was nimmt eine Gesellschaft für ihren Luxus in Kauf? Und wie weit geht Ausbeutung?
Rund 300.000 Saisonarbeitskräfte kommen jährlich nach Deutschland, um bei der Ernte zu helfen. In diesem Jahr sollten sie nicht kommen dürfen, das hatte das Bundesinnenministerium zunächst verfügt. Zu hoch sei das Infektionsrisiko. Doch die Landwirtschaft machte Druck und die Bundesregierung gab nach. 80.000 Saisonarbeiter*innen dürfen deshalb nun im April und Mai nach Deutschland einreisen. Aber: Sie können nur mit dem Flugzeug kommen, dürfen zwar auf den Höfen arbeiten, stehen aber unter Quarantäne.
Anfang April kamen sie dann tatsächlich, die ersten Erntehelfer*innen. Aufnahmen vom Flughafen im rumänischen Cluj offenbarten, wie wenig ernst man die Gesundheit der Arbeiter*innen nahm. Die rund 1.800 Menschen mussten Stunden ausharren, dicht gedrängt in Warteschlangen, keinen Sicherheitsabstand, zu wenige Schutzmasken.
Was wiegt mehr: Der Wunsch nach billig geerntetem Spargel oder der Schutz von Menschenleben? In dieser Gesellschaft ist es leider der Spargel. Dabei müsste es doch anders sein: Menschen vor Spargel. Denn ein Land, das Arbeitskräfte aus dem Ausland anwirbt, sie prekär beschäftigt, ausbeutet, trägt doch umso mehr Verantwortung für diese Menschen.
Um alte Menschen nicht gänzlich sozial zu isolieren, will die Bundesregierung bald Pläne für Alten- und Pflegeheime erarbeiten. Verkaufsflächen bis zu 800 Quadratmeter sollen auch bald wieder öffnen dürfen. Weiterhin wird gelten: Abstand halten, solidarisch sein. Zeitgleich werden osteuropäische Erntehelfer*innen in Flugzeuge gesteckt werden, sie werden in Mehrbettzimmern schlafen, isoliert von der restlichen Welt, aufs Feld geschickt werden – ohne Mundschutz oder ausreichend Abstand. Überall im Land wird man sich bemühen, die Gesundheit aller Menschen zu schützen. Fast aller Menschen.
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