Proteste gegen Hartz IV im Sommer 2004: Der verlorene Kampf gegen Hartz IV

Vor 20 Jahren gingen im Osten Tausende Menschen auf die Straße. 20 Jahre später heißt das Gesetz Bürgergeld – doch die Kritikpunkte bleiben aktuell.

Vor einer Gruppe von Demonstrant*innen mit Transparenten und Plakaten spricht ein Mann in ein Megafon

Der Initiator der Leipziger Montagsdemo, Winfried Helbig, spricht am 16. August 2004 zu den De­mons­tran­t*in­nen in Leipzig Foto: Eckehard Schulz/ap

BERLIN taz | Der Vorwurf, auf Kosten der Allgemeinheit nicht arbeiten zu wollen, hat sich auch nach 20 Jahren kaum abgenutzt: 2023 wurde Hartz IV durch das Bürgergeld ersetzt, die populistischen Debatten aber sind geblieben.

Die Bundesregierung will die Sanktionsmöglichkeiten verschärfen, die Union stichelt weiter. Am Montag erklärte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in der Welt, „Tausende“ könnten zwar arbeiten, bekämen aber Geld vom Staat, „für das die Steuerzahler hart arbeiten“. Vor 20 Jahren gingen in Ostdeutschland Tausende gegen solche Vorwürfe auf die Straße.

„Schluss mit Hartz IV – denn heute wir, morgen ihr“. Diese Parole hatte der arbeitslose Kaufmann Andreas Ehrholdt mit Filzstift auf Pappschilder gemalt, als er Ende Juli 2004 in Magdeburg zu Protesten aufrief. Am 1. Januar 2005 sollte das Hartz-IV-Gesetz in Kraft treten. Der Kern der nach dem VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannten Reformpakets: fördern und fordern.

Die Menschen sollten bei der Jobsuche unterstützt, also gefördert werden. Doch sollten über Sanktionen jene Menschen diszipliniert werden, die sich angeblich zu wenig um einen Job bemühten. Viele Menschen fühlten sich zu Al­mo­sen­emp­fän­ge­r*in­nen des Staates degradiert.

200.000 Menschen auf der Straße

Am 26. Juli waren es noch wenige hundert Menschen, die Ehrholdts Aufruf folgten und in Magdeburg auf die Straße gingen. Doch das sollte sich schnell ändern. Im Laufe des Augusts beteiligten sich in immer mehr ostdeutschen Städten Menschen an den immer Montags stattfindenden Demonstrationen, oft in vierstelliger Zahl. Auf dem Höhepunkt der Anti-Hartz-Proteste am 30. August waren in über 200 Städten bundesweit, vor allem aber im Osten mindestens 200.000 Menschen auf der Straße.

Die Zahl der Protestierenden hielt sich über mehrere Wochen und ging erst im Oktober zurück. Inzwischen aber beschäftigten sich alle großen Medien der Republik mit der Frage, was die Menschen in Ostdeutschland immer Montags auf die Straße trieb. Mit Staunen beobachteten auch linke Gruppen, dass ganz ohne ihr Zutun in Ostdeutschland Menschen protestieren, die bisher nie demonstriert hatten.

Lutz Neuber von der Basisgewerkschaft Freie Arbeiterunion (FAU) war als einer der wenigen organisierten Linken am 26. Juli 2004 in Magdeburg auf der Straße. „Als unser Häufchen von sieben bis acht Leuten mit unseren Transparenten und den Parolen gegen Nazis, Staat und Kapital zur vielleicht 300 Teil­neh­me­r*in­nen zählenden Demo stieß, wurde es freudig begrüßt“, erinnert sich Neuber nach 20 Jahren an die euphorische Stimmung. „Unsere Sprechchöre gegen Niedriglöhne und Zwangsarbeit wurden beklatscht. Wir dachten, jetzt geht es los.“

Doch schon auf der zweiten Montagsdemonstration in Magdeburg folgte die Ernüchterung: Mit über 6.000 Versammelten habe sich die Menge vervielfacht, erzählt Neuber. „Doch diesmal hatten sich Gruppen der extremen Rechten an die Spitze gestellt und auch sie wurden von der Masse verteidigt. Man wollte niemanden ausschließen.“

Der Funke sprang nicht über

In vielen Städten hingegen weigerten sich die De­mons­tran­t*in­nen, mit Neonazis auf die Straße zu gehen. „Abgrenzung von Fa­schis­t*in­nen war einer der beschlossenen Grundsätze der Montagsdemonstrationen“, sagt der Sozialwissenschaftler Harald Rein, der seit Jahrzehnten in der unabhängigen Erwerbslosenbewegung aktiv ist.

Dass Hartz IV nicht verhindert werden konnte, habe auch daran gelegen, dass der Funke nicht nach Westdeutschland übergesprungen sei. Dort initiierten linke Gruppen in verschiedenen Städten Proteste gegen Hartz IV, die aber überschaubar blieben. „Einzig die Montagsdemonstrationen 2004 im Osten Deutschlands können als spontaner Massenprotest gegen Hartz IV bezeichnet werden“, so Rein.

Dabei gab es durchaus Potenzial: Am 1. November 2003 beteiligten sich über 100.000 Menschen an einer bundesweiten Demonstration gegen Hartz IV in Berlin, die von wenigen Ak­ti­vis­t*in­nen auf die Beine gestellt worden war. Mitten in der sommerlichen Nachrichtenflaute gingen dann in Ostdeutschland spontan zahlreiche Menschen gegen Hartz IV auf die Straße.

Zwar versuchten linke Gruppen für den Herbst 2004 weitere Proteste auch im Westen zu organisieren. Doch nur selten konnten sie mehr als die linke Szene mobilisieren – eine Ausnahme bildete eine Demonstration vor der Bundeszentrale der Agentur für Arbeit in Nürnberg mit rund 10.000 Personen im November.

„Welche Arbeit ist zumutbar für welchen Lohn“

Einen weiteren Grund dafür, dass die Proteste ihr Ziel nicht erreichten, sieht die Soziologin Mag Wompel im unklaren Gerechtigkeitsbegriff vieler Mon­tags­de­mons­tran­t*in­nen. Viele hätten sich darüber empört, behandelt zu werden wie So­zi­al­hil­fe­emp­fän­ge­r*in­nen – und damit die Spaltung zementiert.

„Die breit verankerte Ideologie der Leistungsgerechtigkeit hat durch die latente Akzeptanz des Menschenbildes der Agenda 2010 dem Widerstand das Genick gebrochen“, urteilt Wompel, die vor 20 Jahren als Redakteurin der Onlineplattform Labournet an zahlreichen Protesten beteiligt war.

Die Einführung von Hartz IV sei ein massiver Einschnitt gewesen, sagt die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), seit mehr als 40 Jahren in der Erwerbslosenbewegung aktiv. „Welche Arbeit zumutbar ist für welchen Lohn, wie weit der Schutz der Privatsphäre gewährleistet wird, welche Wohnungen angemessen sind, wie Betroffene und ihre Kinder versorgt werden, mit wie viel Angst und der Erwartung von Demütigungen sie in Jobcenter und Sozialämter gehen müssen – das hat Maßstäbe gesetzt nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern für das gesamte Zusammenleben in dieser Gesellschaft“, resümiert die Selbsthilfe-Gruppe. In einen solchen Klima hätten die meisten Menschen wenig Kraft und Zeit gehabt, sich an Protestdemonstrationen zu beteiligen.

Doch es gab solidarische Aktionen. So entstanden in vielen Städten Initiativen, die Erwerbslose bei ihren Terminen im Jobcenter begleiteten, damit sie nicht allein dem bürokratischen Prozedere ausgeliefert waren. Auch die Klagen gegen verhängte Sanktionen nahmen rapide zu und waren oft erfolgreich. Für die im letzten Jahr verstorbene Erwerbslosenaktivistin Anne Allex war das auch eine Spätfolge der Proteste vom Sommer 2004: „Viele Menschen haben damals gelernt, sich zu wehren.“

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