Migrationsbeauftragte über Asyldebatte: „Grenzen werden verschoben“

In der Migrationsdebatte gehe es nur um Abschottung, sagt die Beauftragte Reem Alabali Radovan. Dabei gebe es auch Erfolge, etwa bei Einbürgerungen.

Portraitfoto Reem Alabali-Radovan

Reem Alabali-Radovan – hier am 25. Juni 2024 im Bundeskanzleramt – wünscht sich, dass wir wieder „mehr aufeinander zugehen“ Foto: Stefanie Loos

taz: Frau Alabali-Radovan, Sie sind sowohl die Beauftragte der Bundesregierung für Migration als auch für Antirassismus. Welcher Job ist gerade frustrierender?

Reem Alabali-Radovan: In beiden Bereichen mache ich mir gerade große Sorgen – und beide hängen zusammen. Es ist etwas ins Rutschen geraten dabei, wie wir über Migration diskutieren, welche Themen in den Vordergrund gerückt und Grenzen verschoben werden.

Können Sie das näher ausführen?

Die politische Debatte dreht sich im Kreis, es geht dabei nur um Abschottung und Rückführung. Darüber, wie wir die Zahlen Geflüchteter stoppen. Das geht mit krassen, populistischsten Forderungen einher. Aus meiner Sicht geht das in die Richtung des berühmten Zitats: Die Migration sei die Mutter aller Probleme.

34, ist Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt und Bundestagsabgeordnete für die SPD. Seit Anfang 2022 ist sie außerdem Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus.

Das stammt vom ehemaligen CSU-Innenminister Horst Seehofer.

Ich beobachte, dass wir in der aktuellen Debatte den Rahmen des Möglichen verlassen und uns vom gemeinsamen Wertekonsens entfernen, auch in Teilen der politischen Mitte. Geflüchtete werden sprachlich entmenschlicht, Menschenrechte über Bord geworfen und Migration insgesamt als Problem dargestellt.

Führt der Kanzler diese Debatte selbst mit, wenn er davon spricht, „endlich in großem Stil“ abzuschieben? Oder die Bundesinnenministerin, wenn sie Wege sucht, nach Afghanistan und Syrien abzuschieben?

Wir haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren in dieser Bundesregierung extrem viel nachgeholt, was in 16 Jahren unter Unions-Innenministern liegengeblieben ist. Unsere Leitlinie heißt „Humanität und Ordnung“. Dazu gehören steuernde Maßnahmen wie Rückführungen. Dazu gehört aber auch, neue Chancen zu schaffen, etwa durch das Chancenaufenthaltsrecht für Geduldete, bei der Einwanderung von Fachkräften oder bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts.

Wie glaubhaft sind solche Chancen denn, wenn gleichzeitig Abschiebungen verschärft und auf EU-Ebene das Asylrecht eingeschränkt wird?

Wir müssen unbedingt die Erfolge mehr in den Vordergrund stellen: Deutschland ist ein sehr erfolgreiches Land in der Mitte Europas, nicht trotz, sondern gerade wegen der Einwanderung. Aber unbestritten gibt es auch Herausforderungen in den Ländern und Kommunen, dort müssen wir echte Lösungen finden.

Was meinen Sie?

Es fehlen Kitaplätze, Betreuung, Wohnungen. Das alles wirkt sich auch auf den Bereich Arbeit aus. Ich war sehr irritiert, dass die Union ihre Solidarität für Ukrainerinnen und Ukrainer jetzt daran knüpfen will, ob sie arbeiten oder nicht. Das ist hetzerisch. Und die Probleme hier werden doch nicht gelöst, wenn wir über Asylanträge in Drittstaaten diskutieren, was ich ohnehin sehr kritisch sehe. Vor ein paar Monaten wurde über die Bezahlkarte diskutiert, als sei sie die Lösung für alle Probleme. Jetzt kommt sie, und es zeigt sich: Die Herausforderungen sind noch immer da. Damit müssen wir uns beschäftigen statt mit sich selbst überbietenden Scheinlösungen.

Ist das ein Appell an die Bundesregierung und Ihre Partei, die SPD?

Nein, es geht mir um eine Versachlichung der Debatten. Gern hart in der Sache, aber konstruktiv. Wie wollen wir unsere Einwanderungsgesellschaft bestmöglich und respektvoll gemeinsam gestalten?

Einer der Erfolge, die Sie ansprachen, ist die Einbürgerungsreform: Ab Donnerstag können Menschen sich nach fünf statt nach acht Jahren einbürgern lassen – und sie müssen ihre bisherige Staatsbürgerschaft nicht mehr abgeben. Welche Rolle spielt dieses Gesetz für den Migrationsdiskurs?

Diese Reform ist ein großer Erfolg. Sie bringt Verbesserungen für die Menschen, die schon lange hier leben, dazu gehören und Deutsche werden wollen. Es ist jetzt endlich für jede und jeden möglich, zwei Pässe zu haben. Identität gibt es auch im Plural. Das ist ein Paradigmenwechsel und wegweisend für die Zukunft unserer modernen Einwanderungsgesellschaft.

Schon jetzt stauen sich allerdings 200.000 Anträge. Wie soll das funktionieren?

Ich begleite die Reform mit einer Informationskampagne. Und seit über zwei Jahren bin ich im Austausch mit den Ländern und Kommunen. Es geht um Digitalisierung, Synergien, spezialisierte Teams. Gleichzeitig bringt das Gesetz auch Vereinfachungen beim Informationsfluss der Behörden untereinander. Natürlich liegt es aber in der Hoheit der Länder, auch mehr Personal für die zuständigen Behörden bereitzustellen.

Im Einbürgerungstest wird künftig unter anderem gefragt, welche Städte die größten jüdischen Gemeinden haben. Inwiefern hilft das, Antisemitismus zu bekämpfen?

Die Änderungen am Einbürgerungstest sind auch das Ergebnis einer Diskussion nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel. Es geht um die historische Verantwortung Deutschlands und das Sichtbarmachen jüdischen Lebens in unserem Land. Natürlich muss es aber bei der Bekämpfung von Antisemitismus zuallererst um politische Bildung gehen, um Demokratieförderung und um Prävention. Diese Bereiche müssen wir stärken, dort müssen wir investieren.

Reem Alabali-Radovan an eine Wand gelehnt

„Wir müssen Lösungen finden“, sagt Reem Alabali-Radovan Foto: Stefanie Loos

Sie sagen „investieren“. Gerade laufen die Haushaltsverhandlungen. Die Projekte, die sich in diesem Bereich engagieren, befürchten Kürzungen. Wie passt das zusammen?

Wir sind in einer schwierigen Haushaltslage. Gleichzeitig steigen die Zahlen rassistischer, antisemitischer und antiziganistischer Vorfälle massiv an, wie die entsprechenden Lageberichte zeigen. Ich sage ganz klar: Wir brauchen mehr Prävention, und dafür brauchen wir Geld. Natürlich setze ich mich in den Haushaltsverhandlungen dafür ein, meine Arbeit auch weiterhin finanziell abzubilden – etwa die Beratungsstellen für Betroffene von Rassismus. Das reicht aber nicht, ich habe auch eine Forderung an das Parlament.

Und zwar?

Wir brauchen endlich das Demokratiefördergesetz. Das passt nämlich nicht zusammen: Wir hatten die vielen Demonstrationen gegen rechtsextreme Ideologien und Deportationspläne, wir erleben, dass die Zivilgesellschaft sich für unsere Demokratie einsetzt – aber im Bundestag können wir uns nicht einigen auf ein Gesetz, das genau dieses Engagement langfristig absichern soll.

Sie haben die stark steigenden Zahlen rassistischer und antisemitischer Vorfälle genannt. Was passiert da gerade in Deutschland?

Mich beunruhigt die Situation sehr. Sehr viele Menschen machen sich große Sorgen um ihre Zukunft hier in Deutschland, um die Zukunft ihrer Kinder. Ich persönlich, mit meiner eigenen Fluchtgeschichte, kann das gut nachempfinden. Wir alle müssen uns fragen, in welche Richtung wir als Gesellschaft gehen wollen. Ich wünsche mir einen Ruck gegen Rassismus, der durch die ganze Gesellschaft geht. Es gibt immer wieder kurze Wellen der Empörung, nach dem Video mit den rassistischen Gesängen auf Sylt oder nach dem Vorfall von Grevesmühlen zum Beispiel …

dort hat eine größere Gruppe zwei ghanaische Mädchen rassistisch beleidigt und physisch angegriffen …

… ja, und Betroffene haben nicht das Gefühl, dass diese Empörung wirklich nachhaltig wirkt und etwas ändert. Daran müssen wir alle, Politik und Gesellschaft, gemeinsam arbeiten. Die AfD schürt Ressentiments und Ängste gegenüber Migrantinnen und Migranten. Wir Demokratinnen und Demokraten – und das meine ich wirklich parteiübergreifend – müssen dem etwas entgegensetzen, uns schützend vor sie stellen. Es ist falsch, in die populistische Rhetorik mit einzusteigen.

Seit dem 7. Oktober sind sowohl die Zahlen antisemitischer als auch antimuslimischer Vorfälle exorbitant gestiegen. Was sagt das über den Umgang mit dem Hamas-Massaker und dem Gazakrieg hierzulande aus?

Deutschland ist ein Einwanderungsland, internationale Krisen und Konflikte betreffen uns ganz direkt, viele persönlich. Das gilt auch für den terroristischen Anschlag der Hamas auf Israel und den Krieg in Gaza. Jüdinnen und Juden haben Angst um ihre Sicherheit in Deutschland – zu Recht, wenn man sich die Zahlen anschaut. Gleichzeitig fühlen sich nicht nur Musliminnen und Muslime unter Generalverdacht gestellt, wenn sie ihre Sorge und ihren Schmerz über die Situation im Gazastreifen äußern. Leider werden beide Gruppen oft gegeneinander ausgespielt. Für mich zeigt das auch, dass wir es noch nicht geschafft haben, solche schwierigen Debatten der Einwanderungsgesellschaft auf eine gute Art zu führen, ohne Ausgrenzung noch weiter zu schüren. Das haben wir nicht gut hinbekommen in den letzten Monaten. Wir müssen mehr aufeinander zugehen.

Wissen Sie, ob sich das auch auf die Wahlergebnisse der Europa- und Kommunalwahlen Anfang Juni ausgewirkt hat?

Ich kann nur aus eigener Erfahrung sprechen: Am 19. Februar war ich in Hanau. Ich habe dort mit jungen Menschen gesprochen, die bei dem rassistischen und rechtsextremen Anschlag vor vier Jahren Bekannte und Freunde verloren haben. Wir haben auch über die aktuelle Situation gesprochen und viele haben erzählt, dass sie sich allein gelassen fühlen mit ihrem Frust und ihrem Schmerz. Ich kann mir vorstellen, dass einige der jungen Menschen sich deshalb komplett abwenden. Er wird meiner Meinung nach unterschätzt, was diese starken Eindrücke und berechtigten Gefühle gerade mit jungen Menschen in Deutschland machen.

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