Debatte um Chancenaufenthaltsrecht: Perspektive für langjährig Geduldete

Der Bundestag beschließt mehrere Änderungen im Aufenthaltsrecht. Die Debatte verdeutlicht: Auch das Parlament ist heute so vielfältig wie nie zuvor.

Muhanad Al-Halak im Bundestag

Muhanad Al-Halak von der FDP bei der Debatte am 1. Dezember im Bundestag Foto: Christian Spicker/imago

BERLIN taz | Am Donnerstag verlässt der Abgeordnete Muhanad Al-Halak während der Bundestagsdebatte über das geplante Chancenaufenthaltsrecht seinen Platz in den Reihen der FDP-Fraktion. Er schiebt sich zwischen den Sitzen hindurch in den Block der SPD und drückt seinen Parlamentskollegen Adis Ahmetovic kumpelhaft. Dieser hat zuvor seine eigene Duldungsgeschichte mit dem Plenum geteilt: Ein „waschechtes Hannoverkind“ sei er, 1993 dort geboren, dann Schule, Studium, Arbeit. Doch seine Kindheit sei keineswegs eine normale gewesen.

„Von 1993 bis 2001 18 Duldungen zwischen einem und drei Monaten“, referiert Ahmetovic, dessen Familie aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland geflüchtet ist. In dieser Zeit habe es eine Abschiebungsandrohung und eine Ausreiseaufforderung gegeben. „Wie Sie sehen können, hat es nicht geklappt: Jetzt bin ich direkt gewählter Bundestagsabgeordneter“, sagt Ahmetovic, der seit 2015 deutscher Staatsbürger ist. Und: „Diese unsägliche Praxis der Kettenduldungen, damit ist ab heute Schluss.“

Der Bundestag beschließt an diesem Morgen mit den Stimmen der drei Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP gleich mehrere Änderungen im Aufenthaltsrecht. Ein zentraler Baustein ist dabei das sogenannte Chancenaufenthaltsrecht, um langjährig Geduldeten eine Perspektive zu bieten.

Wer zum Stichtag des 1. Oktobers 2022 seit mindestens fünf Jahren in Deutschland war und nicht straffällig geworden ist, soll für 18 Monate ein Aufenthaltsrecht „auf Probe“ bekommen – um in dieser Zeit alle weiteren Voraussetzungen für ein langfristiges Bleiberecht zu erfüllen. Dazu zählen die Sicherung des Lebensunterhalts oder die Klärung der Identität.

Schnellere Asylverfahren

Das Gesetz enthält außerdem die Öffnung von Integrationskursen für alle Schutzsuchenden von Anfang an, unabhängig von ihren Aussichten im Asylverfahren, Erleichterungen beim Bleiberecht für gut integrierte Jugendliche und im Familiennachzug für Fachkräfte – auf der anderen Seite aber auch eine Ausweitung der Abschiebehaft.

Auch ein zweites Aufenthaltsgesetz beschließt der Bundestag an diesem Morgen. Es umfasst eine Reihe von Maßnahmen, um Asylverfahren zu beschleunigen – etwa eine finanzierte, aber unabhängige Asylverfahrensberatung oder die Abschaffung der anlasslosen Prüfung positiver Asylbescheide.

Mit dem Chancenaufenthaltsgesetz setze man die „ersten zentralen flüchtlingspolitischen Vorhaben um“, sagt Filiz Polat, eine der parlamentarischen Ge­schäfts­füh­re­r*in­nen der Grünen-Bundestagsfraktion. Es sei ein „Paradigmenwechsel“, den die Zivilgesellschaft, aber auch Unternehmen lange als überfällig angemahnt hätten.

Rund 135.000 Menschen leben seit mindestens fünf Jahren geduldet oder ähnlich prekär in Deutschland. Es mache keinen Sinn, gut integrierten Menschen eine Chance im Land zu verwehren – zumal man viele von ihnen ohnehin nicht abschieben könne, erklärt der SPD-Politiker Helge Lindh.

Ein bisschen Pragmatismus

Das haben selbst einige Uni­ons­po­li­ti­ke­r*in­nen erkannt. 20 von ihnen enthalten sich bei der Abstimmung. Schon im Vorfeld hatten 19 Abgeordnete diese Absicht erklärt: Sie hätten zwar Kritik an einigen Punkten, begrüßten die Änderungen für langjährig Geduldete aber grundsätzlich als „sinnvoll und pragmatisch“. Unter den Unterzeichnern sind teils prominente Abgeordnete wie der ehemalige CDU-Chef Armin Laschet, die beiden CDU-Bundesvorstandsmitglieder Hermann Gröhe und Serap Güler und die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Im Plenum hingegen kritisieren die Red­ne­r*in­nen der Union das Gesetz scharf. Schon unter der unionsgeführten Großen Koalition habe es pragmatische Regelungen für gut integrierte Geduldete gegeben, erklärt die Innenpolitikerin Andrea Lindholz (CSU). Die Ampel aber wolle mit einer „zentralen Voraussetzung“ brechen: „Erst Identitätsklärung, dann Chance – nicht umgekehrt“. An die Regierungskoalitionen gerichtet, erklärte sie: „Sie belohnen die Falschen.“

Die AfD beschwört gar den Untergang Deutschlands. Es drohe eine „ganz andere Republik“, die „alles aufzulösen droht, was wir unsere Heimat nennen“, fabuliert der Abgeordnete Bernd Baumann ganz nah an der rechtsextremen Ideologie vom „Großen Austausch“ entlang.

Doch auch die Linksfraktion stimmt nicht für die Ampel-Gesetze. „Beide Pakete sind eine Riesenenttäuschung“, kritisiert Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Die Hürden beim Chancenaufenthaltsrecht seien zu hoch, um wirklich Chancen zu bieten, der Stichtag sorge dafür, dass die Praxis der Kettenduldung nicht nachhaltig abgeschafft werde.

Antwort auf 16 Jahre Union

Dass Rechtsmittel im Asylverfahren eingeschränkt und Fristen verkürzt werden sollen, sei eine Ausweitung ohnehin schon problematischer Sonderrechte im Asylbereich – zulasten der Geflüchteten. Dass Anhörungen auch mithilfe von Videotechnik durchgeführt werden sollen, lasse befürchten, dass die Technik künftig auch „in Schnellverfahren in Haftzentren an den EU-Außengrenzen“ eingesetzt werde, so Bünger. Auch Anwaltsverbände hatten das Gesetz im Vorfeld harsch kritisiert.

Bevor der FDP-Politiker Muhanad Al-Halak seinen SPD-Kollegen Ahmetovic so freundschaftlich knufft, hat er selbst im Plenum einige sehr grundsätzliche Worte an die Union gerichtet, die in dieser Woche mit geradezu populistischen Tönen in der Migrationsdebatte mitgemischt hatte. Diese Gesetze seien der „Beginn einer aufmunternden Antwort“ an den ehemaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der Migration einst als „Mutter aller Probleme“ bezeichnete.

„Wenn ein Junge wie ich aus dem Irak hier herkommen und sich hier integrieren kann, und dann heute als Bürger dieses Landes, das ich meine Heimat nenne, hier stehen kann – dann ist das kein Problem, meine Damen und Herren“, so Al-Halak im Bundestag.

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