Linke-Spitzenkandidaten über Europawahl: „Die Partei lebt“
Carola Rackete ist Berufsaktivistin, Martin Schirdewan Berufspolitiker. Für Die Linke wollen sie bei der Europawahl ein gutes Ergebnis einfahren.
wochentaz: Frau Rackete, ist Ihre Kandidatur für das EU-Parlament eine Art Seenotrettungsmission für Die Linke?
Carola Rackete: Meine Nominierung verstehe ich als ein Zeichen, in welche Richtung Die Linke gehen will, etwa in Sachen Klima- und Migrationspolitik. Aber auch der Weggang von Sahra Wagenknecht hat den Weg freigemacht, damit Leute, die sich nicht mehr mit der Linken identifizieren konnten, wieder zurückkommen. Dadurch besteht nun die Chance auf eine Erneuerung.
Sie kandidieren als Parteilose. Warum sind Sie nicht Mitglied der Linkspartei geworden?
Rackete: Ich sehe meine Parteilosigkeit als einen Vorteil, weil ich darüber besser mit Menschen ins Gespräch kommen kann, die sich zwar als Teil der gesellschaftlichen Linken sehen, aber sich nicht unbedingt mit Parteipolitik identifizieren. Oder noch zweifeln, ob sie jetzt Die Linke als Partei wählen sollen.
36, Naturschutzökologin, nahm an weltweiten Forschungsmissionen teil. 2019 wurde sie als Kapitänin der „Sea-Watch 3“ international bekannt, nachdem sie mit 53 Geflüchteten an Bord unerlaubt den Hafen von Lampedusa anlief. Bei der Europawahl 2024 tritt sie gemeinsam mit Martin Schirdewan als parteilose Spitzenkandidatin für Die Linke an.
Auf dem taz lab nannten Sie als Beweggrund, Nautik zu studieren, bloß keinen Bürojob machen zu wollen. Jetzt streben Sie genau diesen an. Warum?
Rackete: Ich muss zugeben, dass meine Vorstellungen von der Seefahrt auf einem Irrtum basierten. Denn am Ende habe ich mich in einem Büro mit sehr vielen Fenstern wiedergefunden, das auf dem Wasser geschwommen ist. Und genau dort wurde ich politisiert: Ich habe auf einem Forschungsschiff gearbeitet und war schockiert, wie frustriert die Wissenschaftler dort waren. Denn nichts von dem, was politisch aufgrund ihrer Datenlage zur Klimakrise hätte umgesetzt werden müssen, wurde getan.
Martin Schirdewan: Wer Politik als reinen Bürojob auslegt, macht ohnehin etwas grundlegend falsch. Man muss raus zu den Leuten, ihnen zuhören und mit ihnen diskutieren. Auch dorthin, wo es dann eventuell mal wehtut.
Herr Schirdewan, in den Umfragen steht Die Linke zwischen 2 und 4 Prozent. Haben Sie sich nicht mehr erwartet von Carola Racketes Kandidatur?
Schirdewan: Na ja, die Auseinandersetzungen in der Vergangenheit und die schwierige Situation, in der sich die Partei befindet, lassen sich ja nicht einfach mit einer Kandidatur von wem auch immer reparieren. Wir sind da auf einem längeren Weg. Wichtig finde ich das Signal, dass Die Linke sich für die gesellschaftliche Linke öffnet.
Trotzdem befindet sich Ihre Partei weiter in einer schweren Krise.
48, steht seit 2022 gemeinsam mit Janine Wissler an der Spitze der Linkspartei. Er gehört zum Reformerlager der Partei. Der in der DDR aufgewachsene Politikwissenschaftler gehört seit 2017 dem EU-Parlament an und ist dort seit 2019 Co-Vorsitzender der Linken-Fraktion. Bei der Europawahl 2024 tritt er gemeinsam mit Carola Rackete als Spitzenkandidat der Linkspartei an.
Schirdewan: Die Partei lebt. Sie ist dabei, sich auf sich selbst und ihre Rolle als konsequente Gerechtigkeitspartei zu besinnen. Es ist ja klar, dass wir nicht zufrieden mit den derzeitigen Umfrageergebnissen sind. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir ein gutes Ergebnis bei diesen Europawahlen erzielen werden. Und zwar deshalb, weil wir jetzt wieder Klarheit haben, wofür Die Linke steht: für soziale Gerechtigkeit, für sozialen Klimaschutz, für Solidarität in der Gesellschaft, für Antifaschismus. Wir nehmen als Einzige im Bundestag kein Geld von Konzernen und legen uns mit den Reichen und ihren Lobbyisten an.
Was wäre für Sie ein gutes Ergebnis?
Schirdewan: Wir haben im Moment fünf Abgeordnete. Ich möchte gerne, dass wir weiterhin mindestens fünf Abgeordnete haben werden.
Wie wird sich die Linkspartei verhalten, wenn das Bündnis Sahra Wagenknecht nach der Europawahl den Antrag zur Aufnahme in die Linksfraktion im EU-Parlament stellen sollte? Beispielsweise sind aus Portugal mit dem linkssozialistischen Bloco und der kommunistischen PCP ja auch zwei Parteien dabei, die sich gegenseitig hassen.
Rackete: Einen solchen Antrag kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Schirdewan: Ich sehe keine Zukunft für das BSW in der Linksfraktion, weil es keine linke Partei ist und auch nicht sein will. Das ist der zentrale Unterschied zu den von Ihnen erwähnten portugiesischen Parteien. Das BSW steht für ressentimentgetriebenen Populismus. In entscheidenden politischen Fragen ist eine Zusammenarbeit nicht möglich, schon gar nicht in einer Fraktion.
Seit ihrer Gründung gab es in der Linkspartei einen Grundkonflikt um ihr Verhältnis zur EU: Die einen verorteten sich proeuropäisch, die anderen antieuropäisch. Halten Sie diese Frage mit dem Abgang von Wagenknecht und ihrem Anhang nun für geklärt?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Schirdewan: Ja, dieser Grundkonflikt ist in der Partei seit längerem geklärt. Spätestens nach dem Brexit ist der Euroskeptizismus von Parteien wie der AfD oder dem BSW, der bis hin zu Forderungen nach einem Dexit geht, nur noch hanebüchen. Wenn sich Deutschland aus der EU verabschieden würde, blieben die sozialen Kämpfe dieselben. Und Großbritannien lehrt, dass die Ungleichheit weiter und noch brutaler anwachsen würde. Das heißt aber absolut nicht, dass in der EU alles in Ordnung ist, insbesondere wenn es um soziale Rechte und die öffentliche Daseinsvorsorge geht. Oder wenn man sich den Asyl- und Migrationspakt ansieht, der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen beerdigt und das individuelle Recht auf Asyl de facto abschafft. Wenn etwa die Wettbewerbsregeln dazu führen, dass sozialer Wohnungsbau verhindert und Ursula von der Leyen vorschreiben will, dass unser Gesundheitssystem weiter privatisiert wird und profitorientiert arbeiten soll, dann müssen die Regeln geändert werden.
Frau Rackete, ist es für Sie nachvollziehbar, dass in der Linkspartei lange darum gestritten wurde, ob es nicht besser sei, die EU zu zerschlagen?
Rackete: Das ist nie eine Frage für mich gewesen. Ich kann mir nicht einen einzigen Vorteil vorstellen, den es für uns haben könnte, wenn Deutschland die EU verlassen würde. Während der Zeit der Brexit-Abstimmung war ich oft in Großbritannien und habe dort auch gearbeitet. Ich habe die Propaganda und Lügen mitbekommen, mit denen für den Austritt geworben wurde. Das war schlimm. Und heute geht es den meisten Leuten in Großbritannien schlechter als vor dem Brexit. Wichtig finde ich jedoch, dass die EU deutlich demokratischer und transparenter wird. Mich stört zum Beispiel, dass das Europäische Parlament, was ja als einzige EU-Institution direkt gewählt ist, eine schwächere Position hat als der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs oder die Europäische Kommission und kein Initiativrecht hat.
Wie erklären Sie sich, dass die Rechte gerade europaweit im Aufwind ist und dass es den linken Parteien offenbar nicht gelingt, die Menschen abzuholen?
Rackete: Die Rechte hat es natürlich einfacher, indem sie populistisch Migranten die Schuld gibt, für alles, was in der Gesellschaft nicht funktioniert. Die Linke legt sich mit den Konzernen und ihrer Lobby an, statt nach unten zu treten. Die Menschen erleben aber seit Jahrzehnten, dass die Reichen immer reicher werden. Sie haben oft den Glauben verloren, dass es gelingen kann, eine Umverteilung von oben nach unten durchzusetzen.
Schirdewan: Da müssen wir tatsächlich ran. Aber ich stehe auch nicht auf Selbstverzwergung. Wir haben schon einiges erreicht. Wir waren die Ersten, die im Europäischen Parlament eine Gaspreisbremse gefordert haben, das Gleiche gilt für die Übergewinnsteuer. Erst auf unseren Druck hin wurden diese Dinge dann auch vom Parlament beschlossen. Darauf können wir aufbauen.
Ein weiteres Thema, mit dem sich die Linkspartei schwertut, ist der Umgang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Lehnen Sie weiterhin jegliche militärische Unterstützung des überfallenen Landes ab, Herr Schirdewan?
Carola Rackete, Spitzenkandidatin für Die Linke bei der Europawahl
Schirdewan: Wir sind eine Antikriegspartei. Daher drängen wir immer auf friedliche Konfliktlösung und wollen zivile Alternativen zum militärischen Tunnelblick stärken. Selbstverständlich verurteilen wir den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ist doch logisch. Aber wenn Sie mir sagen, dass die einzige Möglichkeit ist, immer weiter Waffen zu liefern, dann halte ich das für falsch. Ich will, dass endlich politisch gehandelt wird, um diesen Krieg diplomatisch zu beenden. Es wissen doch alle, dass letztendlich nur Verhandlungen zum Frieden führen werden.
Aber Sie wissen doch auch, dass ohne militärische Unterstützung die Ukraine bald höchstens noch über ihre Kapitulation wird verhandeln können.
Schirdewan: Natürlich wird ein Krieg mit Waffen geführt. Aber das Dilemma besteht doch darin, dass der Krieg immer weiter fortgesetzt wird – wovon übrigens die Rüstungskonzerne massiv profitieren. Wir müssen viel mehr darüber reden, wie der Krieg beendet werden kann. Es ist ein schweres Versäumnis, dass es keine ernsthaften Friedensinitiativen mit Ländern wie China und Brasilien gibt, die Druck auf Putin ausüben können. Das ist auch unsere zentrale Kritik daran, wie die Bundesregierung oder die Europäische Kommission mit diesem Krieg umgehen. Meine Solidarität mit der Ukraine ist unbenommen. Deswegen unterstützen wir auch gezielte Sanktionen gegen Oligarchen und gegen den militärisch-industriellen Komplex.
Frau Rackete, Sie befürworten eine militärische Unterstützung der Ukraine, oder?
Rackete: Ich finde es richtig, der Ukraine Defensivwaffen zur Verteidigung zu liefern, beispielsweise Raketenabwehrsysteme. Die Ukraine ist ein souveräner Staat, sie hat das Recht, sich zu verteidigen.
In der Linkspartei gibt es gerade unter den älteren Mitgliedern ein recht idealisierendes Verhältnis zu Russland. Können Sie das nachvollziehen?
Rackete: Mögliche Wunschvorstellungen oder historische Bezüge zur Sowjetunion haben nichts mit der Realität des jetzigen Russland unter Putin zu tun. Russland hat sich politisch in eine vollkommen falsche Richtung entwickelt. Ich habe 2014 in einem russischen Nationalpark einen siebenmonatigen Freiwilligendienst gemacht, bis heute habe ich Freunde in Russland. Der Druck auf sie ist enorm groß, sobald man sich politisch äußert. Da kommt schnell mal der Geheimdienst vorbei. Russland ist heute eine Diktatur, da darf man sich nichts vormachen.
Beim Wahlkampfauftakt der Linkspartei in Berlin haben Sie gesagt, Ihre Freunde in Chile und Südafrika wüssten, dass man für eine Revolution etwas anzünden müsse. Auch Sie wollten „immer noch etwas anzünden“. Was denn?
Rackete: Das Feuer des antifaschistischen Widerstands. Europaweit gibt es einfach einen massiven Rechtsruck. Das ist eine große Gefahr, der wir uns entgegenstellen müssen. Es ist enorm wichtig, die Leute davon zu überzeugen, sich zu engagieren. Dazu zählt übrigens auch, zur Wahl zu gehen und links zu wählen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“