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Forscher über Zustand der Gesellschaft„Die Bevölkerung ist erschöpft“

Pandemie, Krieg, Klima: Laut Forscher Hurrelmann zeigt die Gesellschaft Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wie kann das überwunden werden?

Mit der Klimakrise folgt die „nächste Überforderung“: Stark­regen in Berlin im Frühjahr Foto: Andreas Friedrichs/imago
Sabine am Orde
Interview von Sabine am Orde

taz: Herr Hurrelmann, Sie kritisieren, dass die Bundesregierung die mentale Verfasstheit der Bevölkerung viel zu wenig berücksichtigt – auch dadurch habe die AfD derzeit leichtes Spiel. Was meinen Sie damit?

Klaus Hurrelmann: Die Bundesregierung nimmt die medizinischen Langzeitfolgen der Coronapandemie ernst, aber nicht die psychischen und sozialen. Dabei sind diese immens, wie die Ergebnisse unserer Studie „Jugend in Deutschland“ zeigen, in der wir nicht nur die Jugend bis 30, sondern auch die Altersgruppen 30 bis 50 und 50 bis 70 Jahre einbezogen haben.

Was sind die Ergebnisse?

Die Coronapandemie hat bei allen Altersgruppen zu schweren Einschnitten des normalen Lebensrhythmus geführt. Viele Menschen haben das Gefühl, aus dem Tritt geraten zu sein, die Kontrolle verloren zu haben, sie sind erschöpft. Man kann eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung ziehen.

Heißt?

Da weiß man, dass das wahre Ausmaß einer Belastung sich erst zeigt, wenn man die akute Krise eigentlich schon hinter sich hat. Einen solchen Effekt beobachten wir in allen Altersgruppen, bei jungen Leuten besonders stark. Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun. Die bräuchte jetzt eigentlich Ruhe. Aber stattdessen stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung.

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um ein klar definiertes Krankheitsbild aus der Psychiatrie – kann man das so einfach auf die Gesellschaft übertragen?

Nein, eins zu eins geht das natürlich nicht. Ich nutze es als Analogie, als Metapher, damit die Mechanismen und das Ausmaß dessen klar werden, womit wir es gerade zu tun haben.

Woran machen Sie die Traumatisierung der Gesellschaft fest?

Traumatisierung ist eine Befindlichkeitsstörung, die sich darin äußert, dass Menschen unter sehr hohem Stress, unter Hilflosigkeit und starker Belastung leiden. Sie kommen mit ihren Lebensherausforderungen nicht zurecht, weil sie aus dem Rhythmus geraten sind. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht. Die Belastungssymptome gehen in drei Richtungen.

In welche?

Zum einen nach innen. Deswegen haben wir so eine starke Zunahme von psychischen Störungen, von Angst- und Essstörungen und Depressionen. Dann gibt es Druck nach draußen, eine Zunahme von Aggressivität, auch von politisch extremen Haltungen. Und drittens gibt es Sucht als Ausweichstrategie, um sich Entlastung zu verschaffen: die Zunahme bei einigen legalen und illegalen Drogen, aber auch bei Videospielen oder überhaupt der Nutzung von digitalen Geräten.

Was schon in der Pandemiezeit zu beobachten war.

Aber es verschwindet nicht. Und jetzt kommen die Klimakatastrophe, die wir während der Pandemie etwas verdrängt haben, und all die anderen Krisen hinzu. Sie erinnern daran, dass man erst vor Kurzem Ohnmachtsgefühle hatte. Das schafft Unsicherheit und Pessimismus und große Erschöpfung.

Was ist die gesellschaftliche Folge, wenn die Bevölkerung derart erschöpft ist?

Das Gefühl, wir können unser eigenes Leben selbst in die Hand nehmen, wir schaffen das, kommt abhanden. Wir verstehen nicht mehr, was eigentlich los ist, weil es über die eigenen Kräfte hinausgeht. Und dann sucht man nach Unterstützung und Entlastung – und eine Verschwörungstheorie zum Beispiel leistet das. Die gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, woran es liegt. Ich habe die Ursache gefunden. Die CIA hat das Coronavirus erfunden, ich kenne den Schuldigen. Der Klimawandel ist nicht menschengemacht, ich kann also nichts tun.

Was natürlich alles Unsinn ist …

… aber es sind befreiende Mechanismen, weil sie entlasten. Solche Mechanismen aktiviert jeder von uns in unterschiedlichen Situationen – dann, wenn das Gefühl überhand nimmt, dass ich keine Kontrolle mehr über mich und mein Leben habe. Nach dem Konzept der Salutogenese des Soziologen Aaron Antonovsky braucht der Mensch aber dieses Kohärenzgefühl.

Dieses Kohärenzgefühl?

Das heißt, dass drei Dinge wichtig sind. Dass ich als Mensch erstens das Gefühl brauche, ich kann die Welt verstehen, dass zweitens die Herausforderungen, die vor mir liegen, machbar sind, und dass drittens das Ganze auch Sinn macht, es sich also lohnt, in die Zukunft zu investieren. Wenn dieses Gefühl Schaden nimmt, dann werde ich pessimistisch, glaube weder an mich noch an die Gesellschaft und suche nach rettenden Strohalmen.

Sie sagen, von dieser Situation profitiert die AfD. Wie funktioniert das aus Ihrer Sicht?

Das ist eine Ausgangssituation, die von der Politik aufgenommen werden muss. Und man muss bisherigen und den jetzigen Regierungsparteien zugute halten, dass sie daran gearbeitet haben, an der Pandemie, am Krieg und an der Klimakrise. Klein-klein und rational. Aber es gelingt ihnen nicht, die Bevölkerung auch emotional mitzunehmen. Das liegt auch an den ständigen internen Debatten. Deshalb gelingt es nicht, in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken: Wir wissen, wo’s langgeht, es gibt Licht am Horizont. Und davon profitiert eine Partei …

Die AfD, die in Umfragen gerade ein Hoch erlebt.

Ja, ihr Höhenflug hängt auch damit zusammen. In einer solchen Situation sind einfache Antworten auch für Menschen interessant, die nicht zur rechtsextremen Stammklientel gehören. Weil diese einfachen Antworten entlastend sind. Und die AfD bietet solche Antworten, die natürlich zugleich oft untauglich sind.

Entlassen Sie mit einer solchen Pathologisierung die AfD-Wähler*innen nicht aus ihrer Verantwortung?

Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser nachvollziehbaren Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit der Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational. Das bedeutet auch, es mit neuen Herausforderungen nicht zu übertreiben.

Was würden Sie der Bundesregierung empfehlen? Was kann sie tun?

Notwendig ist eine ermutigende und ermächtigende Politik, das, was im Englischen so schön Empowerment heißt. Olaf Scholz sollte mit seiner Regierung der Bevölkerung endlich anbieten, was sie dringend braucht: ein Gefühl der Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit.

Haben Sie eine konkrete Idee?

In der Klimapolitik könnte ich mir zum Beispiel eine Meinungsumfrage vorstellen, mit der die Bundesregierung die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung vermisst und in der die Bevölkerung sich äußern kann, in welchem Ausmaß Klimapolitik gemacht werden soll. Das wäre ein Signal vonseiten der Regierung, dass sie die Ohnmachtsgefühle der Bevölkerung ernst nimmt und Angebote macht, sie zu überwinden.

Aber besteht bei einer solchen Befragung nicht die Gefahr, dass die Menschen das Gefühl bekommen, es wird ihnen noch mehr Verantwortung aufgebürdet – Verantwortung, die sie nicht tragen können? Dass diese also eine verstärkende und keine entlastende Funktion hat?

Das wäre kontraproduktiv, das dürfte nicht passieren. Man müsste das also sehr sorgfältig konzipieren.

Der Kanzler versucht ja in der Regel, Optimismus zu verbreiten. Warum funktioniert das nicht?

Weil es nicht glaubwürdig rüberkommt. Weil alle sehen, wie die Regierung streitet. Das war bei Angela Merkel anders. Sie hat lange abgewartet und abgewogen und dann entschieden und dann war es so. Jetzt haben wir eine Regierung von drei Parteien, die alle ihre eigenen Pläne haben.

Welche Rolle spielt die Opposition, also die Union?

Weil sie so lange in Regierungsverantwortung war, wird sie weiter als Bestandteil der Regierung wahrgenommen, quasi als Regierungspartei. Auch das macht es der AfD leicht.

Wenn wir Ihre Analogie der posttraumatischen Belastungsstörung noch einmal aufnehmen: Wie kann man eine solche Störung – medizinisch gesehen – eigentlich überwinden?

Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Dazu muss ich das Trauma, was mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss. Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde. Deswegen ist es bei den großen politischen Herausforderungen jetzt so wichtig, dass die Regierung mit der Bevölkerung einen Minimalkonsens herstellt.

Also kein Vorpreschen der Grünen mehr wie beim Heizungsgesetz und zugleich mehr Zugeständnisse von der FDP?

Alle müssen Zugeständnisse machen. Sie müssten zeigen, dass sie in der Lage sind, eine große Herausforderung gemeinsam zu lösen. Auf keinen Fall getroffene Vereinbarungen wieder infrage stellen, das unterhöhlt jede Glaubwürdigkeit und jede Verlässlichkeit. Ich glaube, das ist das Schlimmste, was der Ampel passiert ist.

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30 Kommentare

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  • Danke. Bedeutender Artikel.

    "Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun."

    Bedeutende Aussage.

  • Viele Menschen in Deutschland sehen jetzt, dass die bisherhige Wirtschaftsformel "billige Eerngie" plus "vie Export" nicht mehr funktioniert - eine Formel, für die die gesamte Politik offenbar haftbar gemacht wird. Die einen preschen in neue Gefilde vor (Grüne), die anderen haben entwder gar keine überzeugenden Ideen (FDP, Union, Linke) oder ignorieren die zwingenden Rahmenbedingungen (AfD).

  • Pandemie: Keine klare Linie, jedes Bundesland hat getan, was es wollte und jedes Schneeflöckchen hat seine Ausnahmeregelung bekommen.



    Zum Vergleich ein föderalistisch organisierten Staat in Europa: Eine Regelung für alle. Fast ausnahmslos. Alle wusste, woran sie waren. Dass auch in diesem Staat so manche Regelung eher verzweifelt war und Verschwörungstheorien gefördert hat, steht außer Frage. Es geht um's Prinzip.



    Krieg: Folgt man den Medien, kann man zu dem Schluss kommen, dass Lebensmittel rationiert, die Fenster verdunkelt sind und die Bevölkerung viel Zeit in Schutzbunkern verbringt. Der Krieg hat zu Engpässen geführt, die mittelfristig wiederum eigene, vom ursprünglichen Grund vollkommen unabhängige Konsequenzen hatten. Diese Engpässe sind, wenn ich das Angebot, die Preise und die Meldungen über die Füllung der Gasspeicher betrachte, wohl weitgehend behoben. Die Kriegsberichterstattung schürt Ängste aber immer weiter.



    Klima: Der Klimawandel hat nicht erst mit den Boomern begonnen, sondern mit der Industrialisierung und allen ihren Konsequenzen. Ich lese eine Horrormeldung nach der nächsten, Elektrofahrzeuge aller Art sind die eine Lösung versprechenden Heilsbringer - aber: Wo sind die positiven(!) Meldungen zu neuen Ideen/Verfahren zur Stromerzeugung und zum -transport? Gut gefüllte Gasspeicher oder Kohlekraftwerke, die wieder ans Netz gegangen sind, oder Müllverbrennungsanlagen sind sicher nicht "nachhaltig" und "ökologisch". Mit diesen Strom wird auch die scheinbar einzig wahre Lösung, die Wärmepumpe, betrieben; nicht erwähnt wird, wie damit umgegangen werden soll, dass die Nächte lauter werden und wie das in diesen Wärmepumpen verwendete FKW und HFKW umweltgerecht entsorgt werden kann. Das alles dann per Gesetz mit Strafandrohung anstelle für alle verständlich formulierten Begründungen und Berichten, auch zu eventuellen Alternativen.



    Mich wundert nicht, dass z. B. ein durchschnittlich verdienender Mieter Angst vor seiner Zukunft bekommt.

  • Einen gute Analyse. Es bleibt hinzuzufügen, dass alle benannten Krisen für die meisten Menschen in D vor allem gefühlte Krisen sind, ausgelöst durch eine breite mediale Berichterstattung, die es jedesmal nicht unter dem Weltuntergang macht. Um damit besser umgehen zu können brauchen wir vor allem einen Journalismus, der den eigenen Anspruch, die vierte Gewalt im Staate zu sein, wirklich ernst nimmt.

  • Wenn das Ziel nicht klar ist, wird Aktivität zur Erschöpfung.

  • Eine Umfrage, die gestern in Bayern-Radio erwähnt wurde, zu den neuesten AfD-Zahlen und zur Zufriedenheit mit der s.g. "Ampel" sagte aus, dass die Befragten hinsichtlich (niedriger) Rente und (niedriger) Löhne unzufrieden sind. Es dürften wohl viel mehr Menschen, und das seit Jahrzehnten, ihr Leben täglich bzw monatlich auf Kante nageln müssen, als angenommen. Solch ein Leben macht mE definitiv krank und mad.

  • 'die' Bevölkerung, 'die' Politik...In der BRD gibt es seit deren Bestehen einen Sockel von Neonazis und der Parteien (DVU, NPD, Reps, nunmehr AfD). Zugleich einen Teil der sog. 'Mitte', die durch intergenerationalen Alltagsrassismus, menschenfeindliche Einstellungen etc. zusammengehalten wird. 'Mitnehm-' und 'Abholpädagogik' wird das kaum ändern, diese Leute sind alles andere als 'traumatisiert' oder 'erschöpft. Im Gegenteil, die sind bereits empowert.

    • @hamann:

      Nein, ganz und gar nicht. Der Autor bringt es auf den Punkt, und es ist wirklich an der Zeit, solches ernstzunehmen.



      In meinem Bekanntenkreis sind mehrere Menschen, die inzwischen "aus Verzweiflung" der AfD ihre Stimme geben würden. Ich meine damit Menschen, von denen ich weiß, dass sie zuvor grün und konnte gewählt haben, nicht mal CDU.



      Ich glaube, dass des von Autor angesprochene "emotionale Abholen" der Menschen so wichtig wie vernachlässigt ist in der aktuellen Regierungsarbeit.

  • Bei allem Respekt, man sollte nicht diese pathologisierenden Metaphern dauernd hervorholen, schon gar nicht, wenn man sich nicht auskennt. In diesem Interview sagt Herr Hurrelmann an einer Stelle, man solle "diese Menschen nicht pathologisieren", nur, um dann später die "Erfahrungen aus der Psychiatrie" zu zitieren. Diese ständige, maßlose Dramatisierung von Dingen ist absolut nicht hilfreich, um einen vernünftigen Diskurs zu schaffen. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat keine posttraumatische Belastungsstörung, weil sie ein paar Monate zu Hause bleiben musste. Ebensowenig hat sie jetzt eine, weil Russland in der Ukraine einfiel oder die Folgen des Klimawandels beginnen, sich bemerkbar zu machen. Die Leute fühlen sich zum Teil deshalb ohnmächtig, weil sie den Eindruck haben, dass ihre Interessen und Ansichten nicht oder nicht mehr ausreichend repräsentiert werden und in der öffentlichen Debatte nicht mehr vorkommen. Das ist ja auch ein Grund für die Popularität einer Sahra Wagenknecht, die eben regelmäßig Ansichten vertritt, die außerhalb des "allgemein akzeptablen" Meinungskorridors leben. Die Leute deshalb alle für (belastungs)gestört zu erklären, halte ich für maximal kontraproduktiv, respektlos gegenüber Menschen mit einer tatsächlichen Belastungsstörung und ganz nebenbei ehrlich gesagt auch für paternalistisch, da es niemandem zusteht, die geistige Verfassung ganzer Bevölkerungsgruppen derart abzustempeln.

  • Ja, schon. Vielleicht können wir uns jetzt vorstellen, wie es

    - Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging



    - der Ukraine nach dem Angriff Russlands



    - Pakistan nach den Fluten letzten Jahres



    - den meisten Ländern Afrikas nach Jahrzehnten politischer Instabilität

    Muss ich weitermachen?

    Das mindeste ist, dass wir jede*r, der/die von "Asyltourismus" faselt eine schallende (bildlich gesprochen, ich halte nichts von Gewalt) Ohrfeige verpassen.

  • Als von einer posttraumatischen Belastungsstörung Betroffener muss ich wirklich energisch meinen Unmut über die sensationsheischende Verwässerung des Begriffs äußern. Zumal von einem Sozialwissenschaftler.



    Wäre ich woke, ich würde mich diskriminiert fühlen. Unangemessen ist es in jedem Fall.

  • klasse interview. kann ich als fachfrau voll unterschreiben. wünschte, olaf würde drauf hören. und sich nicht verheben mit irrelevantem.

  • Ich finde, das wird hier auch zu einfach dargestellt: als seien die Problem klar, die Antworten von Rechts zu simpel und die Lösung liege in Kompromissen zwischen Grünen und FDP ... den bekannten Koordinaten und Parteien.

    Ich glaube, die Verunsicherung kommt eher daher, dass es darüber hinausgeht. Dinge werden zB jetzt mehr in Asien entschieden, und nach anderen Denkmustern - nicht zwischen FDP und Grünen. Auch bei uns gibt es eine neuere Gesellschaft, die sich nicht nur in den alten Koordinaten abspielt. Welche Probleme es alles sind, weiß keiner genau - nur ein Gefühl, dass es einige sind.

    Ein Teil des Unbehangens kommt glaube ich nicht daher, dass eine Randpartei wie die AfD zu simple Antworten hat, sondern dass die Antworten/Sichtweisen der Gesellschaft möglicherweise nicht mehr wie früher zu einer sich verändernden Welt passen.

  • Die Symptome mögen gut erklärt sein. Aber wie sieht es mit den Ursachen aus?







    Wie Mehltau verbreiten sich Trostlosigkeit und Lethargie in dieser Gesellschaft, die quasi bei vielen lebenswichtigen Fragen entweder mit einem Informationsembargo abgespeist wird oder mit einer Diskursverweigerung. Das fördert Frust und das Verlangen nach einfachen Lösungen.



    Aber immer mehr Menschen haben wenig Hoffnung, das ein frischer Wind die Hirne durchlüftet. So, wie es einmal Ende der Sechziger war und in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Diese Aufbruchstimmung bräuchten wir auch heute. Stattdessen scheint der Neoliberalismus seine zweite (oder dritte?) Stufe gezündet zu haben. Es geht in Richtung Entdemokratisierung und hin zum Autoritären. Wer ausschließlich die AfD als Gefahr erkennt, liegt ziemlich schief. Sebstkritik wäre angesagt.

  • Wir brauchen endlich eine Diktatur des Proletariats, es ist der Kapitalismus, der die Menschen überfordert. Leider hat die Linke den Lenin'schen Geist verraten und es vergessen.

  • Zuerst war der Waehler zu bloed (man muss nur die Politik besser erklaeren) und zu emotional (Wutbuerger), nun wird er als mental ueberfordert pathologisiert.

    Vor nicht allzu langer Zeit waren es Frauen, die angeblich zu bloed, zu emotional und mental ueberfordert waren.

    Manche Argumentationsmuster sind anscheinend nicht aus der Welt zu bekommen.

  • Danke. Bedeutendes Interview.

    "Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun"

    Bedeutende Aussage.

    Zeit umzusteuern auf Dauerwellness, Dauererholung und Waldbaden für alle. :-)

    Schluß mit dem Rat-Race:

    www.youtube.com/watch?v=e9dZQelULDk

  • Wenn in diesen so bedeutungsschweren Zeiten, in denen es darauf ankommt, dass wirklich alle den Ernst der Lage erkennen und ihnen die Bereitschaft abgefordert wird, auch einschneidend mitzuwirjen, damit es nicht noch heisser wird, die POlitiker sich aufspielen und streiten wie die Kesselflicker oder schweigen aus Angst; Herrn Lindner und die BILD-Zeitung zu verschrecken, ist es doch kein Wunder, wenn sich das Wählervolk trotz der vielen erhobenen Zeigefinger bei der AfD abwendet und erschöpft zurückbleibt. Spätestens, als Habeck und Kretschmann Bündnisse mit einer damals schon erschöpften CDU eingegangen sind, wurde klar, dass Ohne die KIrchen und eine wache Öffentlichkeit nur noch Stillstand lief, den eine in sich gespaltene SPD auch nicht aufhalten konnte. Soviel zum Thema Demokratie und Zusammenhalt der Gesellschaft.

  • Mh, also ich würde meinen, dass es mit der Bildung in der Breite und in die Tiefe nicht so weit her ist (abstrakte, komplexe Vorgänge werden in Gänze nicht erfasst), dass das System subjektiviert (den Fokus auf sich selbst verstärkt), dass viele verarmen/ärmer gemacht werden (nicht nur durch die kürzliche Inflation). Naja, und Umwelt- und Klimaschutz haben bis heute bei Regierung und Leuten nicht die Prioritä, die sie haben sollten. Es wurde versagt und es wird immer noch versagt. Mensch hat eine Lüge (Wohlstandsversprechen, Fortschrittglaube) gelebt und ist in eine Sackgasse hinein gefahren (zunehmender Verbrauch und Zerstörung der Lebensgrundlagen), die offenbar Richtung Abgrund (Ökozid) führt. Bestätigungen für diese Gefahr kann mensch wissenschaftlichen Berichten als auch Nachrichten über "Naturkatastrophen" entnehmen bzw. teils an eigenem Leibe erfahren. Ein Albtraum ohne Aufwachen. Ein Albtraum der real ist und an dessen Schaffung viele sich in kleinem beteiligt haben und sie kaum von Abstand nehmen wollen.

  • Ich vermag die Einschätzungen von Hurrelmann nicht zu teilen. Dass die Deutschen gern auf relativ hohem Niveau jammern, ist seit langer Zeit bekannt, aber das mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu vergleichen, geht am Kern der Sache vorbei. Die meisten Leute sind heilfroh, dass die Corona-Maßnahmen vorbei sind, und verhalten sich diesbezüglich wie vor der Corona-Zeit. Es geht größtenteils nicht um vergangene Traumata, sondern um Sorgen hinsichtlich der Zukunft. Und auch wenn die Leute sich in den Umfragen gern verbal und folgenlos zum Klimaschutz bekennen, weil dieser ständig in den Medien propagiert wird: Die meisten haben keine Angst davor, demnächst den Hitzetod zu sterben o. ä., sondern davor, dass hier alles den Bach runtergeht, der bisherige Wohlstand verloren geht und die Regierung nicht nur nichts dagegen tut, sondern inkompetent ist und die Abwärtsentwicklung noch forciert, z. B. durch das Heizungsgesetz, die politisch induzierten hohen Energiepreise und die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke. Und dazu kommt natürlich der Angriffskrieg Russlands, von dem niemand weiß, wie er ausgeht, ob er sich ausweitet und was er noch alles für Folgen haben wird. Wer wenig hat, ist massiv von der hohen Inflation und dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum betroffen, und die Mittelschicht hat außerordentlich große Abstiegsängste.

  • Faul sein ist prima



    und besser fürs Klima

  • Mal abseits der sehr durchschaubaren Märchen der Spitzenpolitik, was sagt man uns denn zum Klima? Der Kampf kann nur durch Verzicht gewonnen werden, wir müssen alle ärmer werden!

    Und was macht die Inflation? Sie macht uns alle ärmer!

    Was sagt man uns zu den unschönen Folgen der Migration? Schnauze halten, fette Miete pünktlich zahlen, den Park nachts einfach meiden, Ende der Debatte!

    Usw…

    Wie will die Bundesregierung denn gegen derartige „Ohnmachten“ ankämpfen? Reichtum für alle? Trotz Klima?

    Nicht ständig ans Ohnmachtgefühl erinnert zu werden bedeutet heute doch, das Wetter nicht zur Kenntnis zu nehmen, nicht mehr einkaufen zu gehen, die allgegenwärtige Zunahme der Aggression nicht zu bemerken, usw.

    Das Problem ist nicht mehr das was in Berlin geredet wird, die Probleme sind real bei den Menschen angekommen und sie müssen wirklich aus der Welt geschafft werden, vorher geht auch die AfD nicht weg…

    Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass es sehr viel mehr Probleme gibt als die „Großkrisen“. Wir sind ein Land in dem der Verfall offensichtlich ist. Versucht mal einen Termin beim Facharzt zu bekommen, einen neuen Personalausweis zu bekommen, mit der Bahn pünktlich in eine andere Stadt zu kommen, etc…

    Man empfindet die Sonntagsreden aus Berlin ja mittlerweile als Hohn und Spott, so geht es zumindest mir immer öfter. Heizungsgesetze und Inflation kommen da ja nur oben drauf, da ist ja deutlich mehr und es ist ja schon länger so…

  • Die Kontrolle über mein eigenes Leben zu bekommen beginnt mit Akzeptanz. Akzeptanz der äußeren Umstände, den Widerstand dagegen aufgeben, Hinnehmen was nicht veränderbar ist, von mir. Das verschafft Entspannung und Luft den Alltag zu bewältigen. Und natürlich wär's gut die Ampelpolitik würde sich ebenfalls entspannen.

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    Oh jeh, sind "wir" arm dran. Im größten Wolhstand aller Zeiten nicht kollektiv in der Lage unser Wohlergehen sozial zu organisiern. Wo liegt der Fehler?

  • Ok - die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes haben ein PTBS, weil sie so viel Home-Office hatten, die Anderen wie Künstler weil sie so in ihrer Arbeit behindert wurden.



    Also ich denke zur Heilung sollten alle mit solchen Problemen als Söldner in die Ukraine geschickt werden,



    Idem per Idem sag ich da nur und alle sind von ihrer Krankheit von hier geheilt. Haben dann vielleicht eine andere PTBS-Störung...

  • Die Leute sind nicht von Corona, Heizungsthema und dem Krieg erschöpft,



    sondern vom öffentlichen Umgang damit.

    Die Menschen brauchen keinen gesetzlichen Betreuer,



    sondern Fachleute, die wissen, was sie tun.

    Ein Kinderbuchautor im Amt des Wirtschaftsministers und eine



    Trambolinspringerin als Chefdiplomatin sind wie



    Metzger, die Ingenieuren erklären wie man Flugzeuge baut.



    Wenn sie dann abstürzen, will es keiner gewesen sein.

  • Haha ... das sollte mal jemand meinem Fianzamt erzählen ! Die Leute dort sitzen noch am Schreibtisch, wenn Russland Europa ausgelöscht hat. Und wenn sie könnten, würden sie weiter mit der Schrotflinte Bescheide raushauen, die auf nichts basieren als der Aufforderung des Finanzministers Lindner, es den Kleinunternehmern so schwer als möglich zu machen. Als Betroffener empfinde ich die deutsche Bürokratie als rein pervers.

  • Die Bevölkerung ist so erschöpft, dass sie es nicht schafft auch nur wenige Meter aus eigener Kraft zurücklegen. So wuchtet sie sich ‚ohnmächtig‘ im Verbrenner von Brötchentaste zu Brötchentaste. Erschütternd.

  • Wenn das so ist, dann läuft doch alles nach Plan. Eine erschöpfte und resignierte Bevölkerung lässt sich schließlich viel besser steuern.

    Und so etwas erreicht man am besten, wenn man jahrzehntelang der Bevölkerung grundsätzlich nicht das gibt, was sie will. Ich erinnere mich noch, wie in den 80ern eine halbe Million Menschen in Bonn standen und gegen neue Atomraketen demonstrierten. Und an den Ostermärschen nahmen Hunderttausende teil. Heute stehen auf Demos noch ein paar Hundert. Wozu auch demonstrieren? Es gibt zwar ein Demonstrationsrecht, aber noch nie hat eine Demonstration in Deutschland jemals irgendetwas verändert. Man schafft ja nicht einmal die Zeitumstellung ab, die m.E. demselben Zweck dient. Und so verfährt man weiter nach dem Motto: "Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen!"