Politologe über Ukraine-Krieg: „Putins Pläne zusammengebrochen“
Der russische Machthaber habe Angst und sei wütend, sagt Politologe Waleri Solovej. Innenpolitisch verliere er zunehmend Rückhalt.
taz: Herr Solovej, Sie stammen aus Stschaste in der Region Luhansk in der Ukraine.
Waleri Solovej: Es ist eine Kleinstadt, die inzwischen schwer zerstört wurde. Meine Mutter kam von dort. In den letzten Monaten war es klar, dass es auf einen Krieg hinausläuft. Die Ukraine hat sich mental darauf vorbereitet. Wladimir Putin begann den Krieg am 24. Februar und wollte am 27. bereits den Sieg verkünden.
Es kam aber anders.
Der politisch-moralische Zustand der Ukraine wurde unterschätzt und die Kampfbereitschaft der russischen Armee überbewertet. Es klingt wie eine Anekdote: Im Nordosten der Ukraine bei Tschernigow musste ein Panzer anhalten, weil der Treibstoff ausgegangen war. Die Besatzung stieg aus und fragte die Bevölkerung nach Reserven.
Waleri Solovej 61, war bis 2020 Professor für Politik und Geschichte an der diplomatischen Kaderschmiede, MGIMO in Moskau. Aus politischen Gründen musste er die Hochschule verlassen.
Die russische Armee ist nur auf dem Papier hundertprozentig vorbereitet. Der Oberkommandierende Putin ging davon aus, dass der Westen noch Zeit brauchen würde, um in die Gänge zu kommen. Er hatte vor, nach der Ukraine auch Moldawien und Teile des Baltikums zu besetzen. Stattdessen verteidigt die Ukraine inzwischen europäische Werte. Putin hat alle westlichen Politiker hinters Licht geführt, betrogen. Scholz, Macron, Baerbock.
Das Treffen im russischen Sicherheitsrat mit Generalstabschef Walerij Gerassimow und Verteidigungsminister Sergej Schoigu letzte Woche Montag hinterließ den Eindruck, der Oberkommandierende hätte den Kontakt zur Wirklichkeit verloren.
Putins Pläne sind zusammengebrochen. Daher fuhr er aus Verzweiflung zuletzt die Nukleardrohung auf. Die Sanktionen werden immer schärfer und härter. Putin ist außer sich vor Wut. Alle fürchten ihn. Sie haben keine Angst, den Job zu verlieren, sondern umgelegt zu werden. Die Einschüchterung des Auslandsgeheimdienstchefs Sergei Naryschkin letzte Woche auf der Sitzung des Sicherheitsrats gibt davon einen Eindruck.
Inzwischen geht Putin davon aus, zwischen dem 10. und 15. März die Invasion abschließen zu können. Offensichtlich hofft er, in Kiew, Charkiw und Odessa seine Leute einsetzen zu können. Ob das klappt? Wer wird bei Wahlen dort für Putins Leute stimmen? Es gibt in der Ukraine keine Ella Pamfilowa (die als Vorsitzende der Wahlkommission in Moskau den Wahlgang manipuliert) und 40 Millionen Wähler. Medwedtschuk, Putins Vertrauter in der Ukraine, ist auch nicht mehr zu finden.
Ist Putin betrogen worden oder wollte er sich betrügen lassen?
Er ist ein Macho. 2014 und 2015 wollte er schon die Ukraine besetzen. Seine Umgebung hielt ihn damals noch davon ab. Man würde es nicht schaffen, die Ukraine zu besetzen, meinten sie damals. Jetzt zieht er den Krieg durch. Das ist nicht nur grotesk, es geht am Ende auch auf den Ruf Russlands über, und das weltweit. Putin spielt va banque. Er hoffte zunächst, der Westen schließe die Augen. Schließlich hatte er die ganze Welt eingeschüchtert. Jetzt sieht er blass aus und die Erkenntnis macht die Runde: Putin kann man stoppen! Er hat unglaubliche Angst davor, wie Gaddafi in Libyen zu enden oder auf der Anklagebank.
Aber Putin besitzt noch Macht, daran wird sich demnächst auch nichts ändern.
Er ist von Größenwahn beseelt. Er „spürt seine Mission“, die ihn zu etwas Großartigem verpflichtet, zur Veränderung der Geschichte. Die Sowjetunion ist untergegangen, doch er wird sie wiedererrichten! Das hatte er sich vorgenommen.
Stattdessen hagelt es Sanktionen und das Land wurde über Nacht zum Aussätzigen ohne Geld. „Großartig, großartig“, bekräftigte ihn die Umgebung als Historiker, lange Zeit. So geht man mit einem Kranken um. Auch wenn sich die historischen Kenntnisse auf dem Niveau sowjetischer Lehrbücher bewegen. Dennoch: Viele Menschen halten trotz allem zu ihm.
Wie wird Moskau gegen das Ende des Technologietransfers aus dem Westen vorgehen? Die Militärs sind davon die nächsten zwei Jahre nicht betroffen. Die haben rechtzeitig vorgesorgt.
Wirtschaftliche und politische Katastrophen sind jedoch vorprogrammiert.
In Russland wird nun häufig davon gesprochen, dass das Land mindestens 500.000 Mann mobilmachen müsse.
Wie die Amerikaner im Irakkrieg verfolgt auch Russland den Krieg lieber am Computer. Generalmobilmachung wegen der Ukraine würde die Menschen gegen den Kreml aufbringen. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten russische Familien sieben oder acht Söhne. Heute vielleicht noch einen. Zu solchen Opfern ist die Gesellschaft nicht mehr bereit.
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