Angriff auf Israel: Erinnerungen an die Nakba
Die Bilder der im Gazastreifen fliehenden Menschen erinnern an den Beginn der Flüchtingskatastrophe 1948. Die Spirale der Gewalt muss aufhören.

D as sinnlose Blutbad, das durch den Beschuss des Krankenhauses in Gaza verursacht wurde, zeigt auf grausame Weise die schreckliche Gefahr, die jetzt über dieser Region schwebt: der Verlust der Kontrolle über die Hauptakteure des Konflikts.
Angesichts einer unerfahrenen israelischen Regierung, die um jeden Preis die Oberhand zurückgewinnen will, und einem Hamas-Islamischen Dschihad-Gespann, das alles gibt, um zu überleben, kann sich ein Grauen wie das im Krankenhaus jederzeit wiederholen. Das zieht den Nahen Osten in einen unaufhaltsamen Kreislauf der Gewalt hinein. Wie weit entfernt scheint dieser erste Tag des Konflikts zu sein, als die Männer der Hamas zu jedermanns Überraschung die Grenze überquerten, die als unpassierbar galt.
Für einen Moment hätte man glauben können, dass die Kämpfer der Hamas ein bestimmtes politisches Ziel verfolgten, nämlich, das sich abzeichnende Abkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu sprengen – ein Abkommen, das vermutlich zu einem Separatfrieden unter Ausschluss der Palästinenser führen würde. Aber die sinnlosen Massaker, derer sie sich schuldig gemacht haben, zeigten, dass ihnen etwas ganz anderes vorschwebte.
Für sie ging es nicht nur um Politik, sondern darum, einen jeglichen Frieden unmöglich zu machen, indem sie einen Amoklauf an Rachegelüsten in dieser unglücklichen Region zusammenbrauten. Indem sie das Feuer auf eher pazifistische junge Leute eröffneten, die ahnungslos ausgelassen feierten, auf eher linke Kibbuzbewohner und auf die Menschen in wirtschaftlich ärmeren Ortschaften in der Region, sie ermordeten und wahllos ein Blutbad unter Männern, Frauen, Kindern und Babys anrichteten, hat die Hamas ihr wahres Gesicht gezeigt.
Sie hat einen der schlimmsten Albträume im jüdischen Gedächtnis zum Leben erweckt, die Pogrome in Russland und Mitteleuropa. Damit Juden und Jüdinnen in Sicherheit würden leben können, wurde die Gründung des Staates Israel nach dem Holocaust international gerechtfertigt. Die Hamas hat mit dem Angriff ihre stete Botschaft unterstrichen: „Wir wollen euer aller Tod.“ Und die so geschickt aufgestellte Falle ist zugeschnappt und hat die ganze Welt in einen Schockzustand versetzt.
Nur die Bilder waren damals schwarz-weiß
Gedemütigt und zornig lässt die inkompetente rechtsnationale Regierung von Benjamin Netanjahu das Feuer der Hölle auf die unglücklichen Bewohner Gazas niedergehen. Eine Katastrophe für die vielen Menschen. Dabei sollte das Ziel die Hamas sein. Tatsächlich aber trifft es die Dörfer und Städte. Man ist erinnert an Passagen in der Bibel, in denen Gott die Feinde Israels seinen Zorn spüren lässt. Diejenigen, die unter den Bomben sterben, sind keine menschlichen Wesen mehr, sondern „Tiere“.
Da scheint es legitim zu sein, Wasser, Nahrung, Strom und Treibstoff zu kappen. Gebäude, Schulen und Moscheen gelten nicht mehr als Wohn-, Lern- oder Gebetsorte, sondern Höhlen, in denen sich Terroristen feige hinter dem Rücken der Zivilbevölkerung verstecken. Israel hat angeordnet, die Bevölkerung im Norden des Gazastreifens in den Süden des Territoriums zu evakuieren.
Die Bilder von hunderttausenden Palästinensern, die mit Matratzen, Küchenutensilien und zerlumpten Koffern ihre verängstigten Kinder hinter sich herziehen, haben das Schreckgespenst der großen Vertreibung von 1948, der Nakba, wie sie sagen, wachgerufen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Bilder damals schwarz-weiß waren …
Das desolate Spektakel hat allen, insbesondere in der arabischen Welt, gezeigt, dass diejenigen, die den Preis für den von der Hamas provozierten mörderischen Wahnsinn zahlen, nicht die Anführer dieser islamistischen Bewegung sind, sondern die unglücklichen Menschen, die fliehen, erneut fliehen, immer weiter fliehen, bis sie auf die verschlossenen Grenzen des Gazastreifens, ihres Gefängnisses, stoßen.
Auch Israel hat jetzt eine unterschwellige Botschaft gesandt: „Wir wollen euch nicht in diesem Land sehen, wir wollen euch alle vertreiben!“ Fantasie gegen Fantasie, Albtraum gegen Albtraum, wir sind zum Nullpunkt des israelisch-palästinensischen Konflikts zurückgekehrt. Doch vielleicht müssen wir uns daran erinnern, dass wir das Eisen erst in Momenten eines großen Schocks, wenn es weiß glühend ist, schmieden können.
Kein friedlicher Naher Osten ohne Palästinenser
Die flächendeckenden Umwälzungen, die der Krieg verursacht hat, zwingen alle zum Nachdenken. Arabische Länder haben sich bereit gezeigt, mit Israel Frieden zu schließen – selbst um den Preis, die palästinensische Sache zu opfern. Der 7. Oktober hat erneut klar gezeigt, dass die Palästinenser mit einbezogen werden müssen. Netanjahu und seine rechtsextremen Verbündeten werden, obwohl sie seit Monaten mit massiver Kritik aus dem Volk konfrontiert werden, kaum zu einer strategischen Änderung bereit sein, die so sehr im Widerspruch zu ihrer Politik steht.
Aktuell droht noch immer der Einmarsch in den Gazastreifen. Das würde sicher erneut, wie es schon in früheren militanten Konfrontationen der Fall war, zu Tausenden Toten und endlosem Leid auf beiden Seiten führen. Hass erzeugt Hass, und je größer der Hass ist, desto größer der Sieg für die Hamas, ihre Verbündeten und ihre Beschützer. Ob es uns gefällt oder nicht, das bisher Gültige ist Vergangenheit. Beide Seiten sind aufgefordert, sich zu entscheiden.
Wenn endlich ein gerechter und dauerhafter Frieden hergestellt werden soll, müssen die einen auf die Zerstörung des „zionistischen Gebildes“ verzichten, die anderen auf die endlose Besatzung. Aber wer wird diese Weisheit, diese Intelligenz, diesen Mut haben? Die Regierenden in der Region scheinen dazu kaum in der Lage zu sein. Selbst wenn sie in die Enge getrieben werden, werden Israelis immer argumentieren, dass es im gegnerischen Lager keinen glaubwürdigen Gesprächspartner gibt, aber das stimmt nicht.
Da ist zum Beispiel Marwan Barghouthi – ein Mann, den weite Teile seines Volkes als den palästinensischen Nelson Mandela betrachten, und der seit mehr als zwanzig Jahren in einem israelischen Gefängnis sitzt. Vor seiner Inhaftierung sagte er der Washington Post im Jahr 2002, dass mit dem Ende der Besatzung „der Weg klar sein wird:
Die unabhängigen und gleichberechtigten Nachbarn Israel und Palästina werden in der Lage sein, über eine friedliche Zukunft zu verhandeln, indem sie enge Beziehungen knüpfen, sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.“ Ein Traum? Diejenigen, die glauben, dass Israel von der Landkarte getilgt werden kann, diejenigen, die glauben, dass Palästina für immer besetzt bleiben kann, träumen nicht minder. Nur ist ihr Traum ein Albtraum, unser aller Albtraum.
Aus dem Französischen von Barbara Oertel
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart