Abgebrochener Palästina-Kongress: Die halbierte Staatsräson
Der Eifer gegen pro-palästinensische Stimmen geht zu weit. Dieser autoritäre Kurs ist auch für andere gefährlich.
D er Schutz jüdischen Lebens gehört in Deutschland zur Staatsräson. Aber gilt dieser Schutz auch für Jüdinnen und Juden, die der israelischen Politik gegenüber kritischer eingestellt sind, als es die Bundesregierung ist? Daran sind Zweifel angebracht. Die Ausladung der Philosophin Nancy Fraeser, der Umgang mit Masha Gessen und Judith Butler und die Auflösung eines „Palästina-Kongresses“, der unter anderem von einer kleinen jüdischen Gruppe organisiert wurde – all das zeigt, was die Sonntagsreden über den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland wert sind, wenn es um den Schulterschluss mit Israel und dessen in Teilen rechtsextremer Regierung geht: die andere Seite der Staatsräson.
Es gab in Deutschland schon immer ein Ressentiment gegen „liberale US-Intellektuelle“. Es scheint, als habe dieses Ressentiment ausgerechnet im Namen des Kampfs gegen den Antisemitismus einen neuen Ausdruck gefunden. Nur so lässt sich der Eifer verstehen, mit dem zusammen mit dem Vorwurf einer mangelnden Identifikation mit dem israelischen Staat gleich ganze Denkschulen abgekanzelt werden.
Aber der deutsche McCarthyismus richtet sich gegen alle, die nicht die deutsche Staatsräson zu Israel teilen. Da werden nicht nur Anstandsregeln missachtet und Gesetze verschärft, sondern die Grenzen des Rechtsstaats berührt, wenn offenbar willkürlich Einreise-, Versammlungs- und Betätigungsverbote verhängt werden, wie es jetzt beim polizeilich verhinderten „Palästina-Kongress“ in Berlin geschehen ist. Ausgerechnet der Antisemitismus-Beauftragte will dem linken Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“ nun sogar die Gemeinnützigkeit entziehen lassen, weil er deren Palästina-Solidarität ablehnt.
Es fehlen Rechtsstaats-Liberale
Dass konservative Medien diesem autoritären Kurs applaudieren, ist nicht verwunderlich. Aber selbst liberale Medien wie Die Zeit nehmen ihn schulterzuckend hin. In Politik und Medien fehlen Rechtstaats-Liberale alten Schlages wie der FDP-Politiker Gerhart Baum, der als Innenminister sogar nach dem „deutschen Herbst“ von 1977 einen kühlen Kopf behielt. Zur Erinnerung: Damals erschütterten Anschlagsserien und Flugzeugentführungen das Land. Heute reichen ein paar pro-palästinensische Demonstrationen oder fragwürdige Äußerungen über Israel, damit das halbe Land in moralische Panik verfällt und die Politik überreagiert.
Manche begrüßen das harte Vorgehen, weil sie meinen, es träfe schon die Richtigen. Andere behaupten, das sei alles ganz normal: Es gibt nichts zu sehen, gehen Sie weiter! Doch wenn dieser autoritäre Kurs einreißt, wird er sich bald auch gegen andere Gruppen richten, die der Regierung widersprechen: Klimaschützer, Flüchtlingshelfer oder andere. Und diese Regierung wird nicht immer eine Ampel-Regierung sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative