Liberale im Regierungsalltag: Was ist nur mit der FDP los?

Früher waren die Grünen für tendenziell irrationalen Oppositionssprech zuständig, nun ist es die FDP. Dahinter steckt ein tieferes Problem.

Christian Lindner blickt zu seiner Parteikollegin Bettina Stark-Watzinger

Christian Lindner, der Chef und ParteikollegInnen Foto: Britta Pedersen/dpa

Welche Regierungspartei ist das, die meist nur sagt, was sie nicht will, fordert, was es gar nicht gibt und oft so tut, als gehöre sie gar nicht dazu, sondern spreche im Namen einer höheren Sache? Da hätte man doch bis vor wenigen Jahren gewettet, dass das nur unsere geliebten Grünen sein können.

Tja, und nun sieht es manchmal so aus, als hätten FDP und Grüne die Rollen getauscht. Die zweiteren total aufgehend in der Regierungsrolle der staatspolitischen Verantwortung in schweren Zeiten, die ersteren gleichzeitig Teil der Regierungskoalition und auch Opposition.

Was ist das Problem der FDP? Nicht, dass sie a priori blöd und „neoliberal“ ist, wie einige vermuten. Das ist Denkverweigerung. Auch nicht, dass sie wieder so schön „sozialliberal“ werden muss wie zu Gerhart Baums Zeiten. Das ist Nostalgie. You can’t go home again. Das aktuelle Problem ist, dass Konstruktivität nicht auf ihr Konto einzahlt, sondern von Teilen der eigenen Kundschaft übelgenommen wird. Und zwar deshalb, weil die FDP ihnen vorher hanebüchenes Zeug erzählt hat, von wegen, was sie alles in der Regierung machen würde. Also genau, wie das früher bei den Grünen war.

Das tiefere Problem besteht darin, dass die neuen Denk- und Politikansätze dieser von Christian Lindner und Marco Buschmann erfundenen FDP von der Realität überholt wurden. Um es mit Daniel Cohn-Bendit zu sagen: „Politik ist die Fähigkeit, auf der Höhe dessen zu sein, was die Zeit als notwendig definiert – und das ist die FDP nicht.“ Zukunftspolitisch relevant ist weder die Freiheit mit 200 über die Autobahn zu gleiten, noch die Freiheit, das Coronavirus weiterzugeben, auch nicht der Benzinmotor und schon gar nicht eine Subventionierung („Tankrabatt“) der Mineralölkonzerne.

Die Arbeit in Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan kann lebensgefährlich sein. Der Chef des deutschen Billig-Textilunternehmens KiK verspricht, das zu ändern. Unser Reporter hat ihn begleitet – wie die Reise lief, lesen Sie in der taz am wochenende vom 18./19. Juni. Außerdem: Was der Klimawandel mit den Binnengewässern macht. Und: Ein Hausbesuch bei einer Töpferin in 4. Generation. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Aber die FDP ist nun halt in der Schleife drin, in der die Grünen waren, bevor sie von Ministerpräsident Kretschmann und Vizekanzler Habeck zur mehrheitsfähigen Partei der neuen Mittelschicht umgeformt wurden. Sie haben neben Jungen ab 2015 auch konservative Ältere für sich gewonnen, denen die Merkel-Union fremd wurde. Deshalb „kubickisieren“ sie nun immer wieder, wie Harald Welzer das nennt. Kubickisieren ist ein tendenziell irrationaler Oppositionssprech. Damit kann man Leuten aus der Seele sprechen, aber die Mehrheitsgesellschaft ist davon komplett genervt. Früher hieß das „ClaudiaRothisieren“.

Der Aufstieg Habecks zum Leitbild der Regierungskoalition zeigt, dass es möglich ist, eine Mehrheit für eine rationale Politik zu gewinnen, die die Notwendigkeit koalitionärer Kompromissbildung, den Nachholzwang der Gegenwart und die Verpflichtung zu Zukunftspolitik zusammenbringt. Selbstverständlich ist es Luisa Neubauers Job, darauf hinzuweisen, dass der sozialökologische Fortschritt noch zu gering ist. Aber es ist längst nicht mehr der klima- und sicherheitspolitische Merkel-Scholz-Backlash des letzten Jahrzehnts.

Die Frage ist nun, ob man diesen Ansatz von real-rationaler Politik voranbringen kann. Dazu braucht es Regierungsmitglieder, die die Widersprüche der Realität nicht beschweigen (Scholz), beklagen (Lauterbach) oder für Parteizwecke nutzen wollen (FDP), sondern die im ernsthaften Umgang damit nachhaltige gesellschaftliche Mehrheiten für neue und funktionierende Politik gewinnen.

Oder kann das, lieber Christian Lindner, wirklich nur Robert Habeck?

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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