Verhältnis von Ostdeutschen zu Russland: Abends hat man miteinander gesoffen

Für vier von zehn Ostdeutschen ist Putin kein Diktator. Sowjet-Soldaten und Propaganda prägten den DDR-Alltag. Das wirkt nach, sagt eine Historikerin.

Pro-Sowjetische Wandbemalung an einer Kasernenmauer in der DDR

Mauer einer Kaserne in der Umgebung Berlins mit sowjetischer Propaganda Foto: Herve Champol/akd/picture alliance

BERLIN taz | Seit Monaten treffen sie sich jeden Montag vor der Gethsemanekirche im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg zur „Friedensdemo“: Frauen und Männer, die Fahnen tragen, die aus den Flaggen Deutschlands und Russlands zusammengesetzt sind. Auf den Transparenten, die sie hoch halten, prangt die Aufschrift: „Das ist nicht unser Krieg“. Über eine Lautsprecherbox beschallen sie den Kirchenvorplatz mit Songs wie „Give Peace a Chance“.

Über dem Eingangsportal des Na­tio­naltheaters im thüringischen Weimar hängt ein Banner mit der Aufschrift „Diplomatie! Jetzt! Frieden“. Auf einer sogenannten Friedensdemo in Leipzig, Sachsen, fordert ein Mann „endlich ernsthafte Verhandlungen mit Putin“. Wie sonst soll man das Blutvergießen beenden, fragt der Mann im persönlichen Gespräch, wenn nicht durch Gespräche? Aber Wolodomir Selenski, der ukrainische Präsident, fordere stattdessen „immer mehr Waffen“. Und eine Frau aus einem Dorf in der Altmark, Sachsen-Anhalt, glaubt, dass Ukrai­ne­r:in­nen einen „Genozid an den Russen im Donbass“ verüben.

So und so ähnlich klingen seit einem Jahr nicht wenige Ostdeutsche. Laut Umfragen wünscht sich die Hälfte der Menschen zwischen Stralsund und Sonneberg engere Beziehungen zu Russland, 44 Prozent würden die Sanktionen gegen Russland reduzieren oder ganz abschaffen. Und vier von zehn Ostdeutschen sehen im Präsidenten Wladimir Putin keinen Diktator.

Was ist los mit den Ostdeutschen? Woher kommt diese Verbundenheit mit einem Land, das die meisten vor dem Mauerfall mangels Reisemöglichkeiten gar nicht kannten? Die sich eher über die staatlich verordnete „Völkerfreundschaft“ zwischen der DDR und der Sowjetunion lustig machten? In der DDR war „Russe“ ein Schimpfwort, sagte der Ostbeauftragte Carsten Schneider jüngst beim Jahresempfang der Klassik Stiftung Weimar: „Der Begriff großer Bruder wurde in der Alltagssprache eher in Anführungszeichen verwendet.“

Diese plötzliche Nähe zu einem Land, das vor einem Jahr seinen Nachbarn Ukraine überfallen hat, irritiert nicht nur die meisten Westdeutschen, sondern vor allem die Ostdeutschen, die einen distanzierteren Blick auf den einstigen „großen Bruder“ haben. „Es ist keine plötzliche Nähe“, sagt Silke Satjukow, Professorin für neuzeitliche Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: „Sondern eher eine plötzlich sichtbare Nähe.“

Um diesen Satz zu verstehen, muss man tief in die Geschichte der DDR zurückgehen. Fünf Jahrzehnte lang leisteten 10 bis 20 Millionen sowjetische Soldaten ihren Dienst in der DDR, etwa 350.000 Militärangehörige gleichzeitig im Jahr. So hat es Christoph Meißner vom Museum Berlin-Karlshorst, das bis zum Kriegsbeginn 2022 Deutsch-Russisches Museum hieß, ausgerechnet.

Die Soldaten, Offiziere, Generäle und ihre Familien lebten häufig in eigens für die sowjetischen Streitkräfte geschaffenen Arealen, die wie in Wünsdorf bei Berlin eine eigene kleine Stadt bildeten. Andere lebten inmitten der ostdeutschen Bevölkerung, als Nachbarn, die mehr oder weniger Kontakte pflegten. Die Ostdeutschen und „die Russen“ haben sich verbrüdert, haben einander geheiratet, Kinder gezeugt, miteinander gestritten. Oder wie Satjukow es ausdrückt: „Man hat am Abend in den Kneipen miteinander und gegeneinander gesoffen“ – als eine Art notwendige Kompromissbildung.

Die Generationen, die das lebendig erlebten, sind heute über 50 – und vorrangig diejenigen, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine für „Friedensverhandlungen“ plädieren. Sie haben als Kinder und Jugendliche in Kita, Schule und Pionierorganisation nahezu täglich die sozialistische Propaganda erlebt: Die Sowjetunion ist „der Freund“, Amerika, der Westen, die Nato, das sind Feinde. Davon ist manches hängen geblieben – trotz des Jubels über den Mauerfall.

Wut auf das westdeutsche Establishment

Dieses Freund-Feind-Denken paart sich nicht selten mit Kränkungen, die Ostdeutsche durch den Westen bis heute erleben. Lediglich 13,5 Prozent der Führungskräfte in den Bundesverwaltungen – Ministerien, Kanzleramt, Bundesrat, Bundestag – sind Ostdeutsche. Ostdeutsche Medien wurden von Westdeutschen übernommen, ostdeutsche Wissenschaftsinstitutionen abgewickelt. Bis Ende der 1990er Jahre verloren an ostdeutschen Hochschulen rund 60 Prozent der Mitarbeitenden des wissenschaftlichen Personals ihre Stelle – nicht wenige mit beruflichen Verbindungen zu russischen Wissenschafts- und Kultureinrichtungen. Das empfinden die Betroffenen – vielfach bis heute – als persönliche Kränkung: Ihr Lebenswerk wurde zerstört.

Auch jahrzehntelange Wirtschaftsbeziehungen zwischen ostdeutschen und russischen Unternehmen brachen mit der Wiedervereinigung und D-Mark weg. Die Warnowwerft in Rostock, der Waggonbau im sächsischen Görlitz, das sächsische Unternehmen Foron, das den ersten FCKW-freien Kühlschrank herstellte. Die Betriebe wurden trotz voller Auftragsbücher geschlossen, die Mit­ar­bei­te­r:in­nen entlassen. Schuld daran war in den Augen der Betroffenen der Westen. Der zerstörte vermeintlich rentable Betriebe, die ostdeutsche Wut auf das westdeutsche Establishment war groß.

Und sie hat sich nicht selten bei jenen gehalten, die sich in den vergangenen Jahren eine neue Existenz aufgebaut und verstärkt in Russland investiert haben. Die westlichen Sanktionen gegenüber Russland treffen sie besonders heftig. Das schafft Wut und eine erneute Ablehnung des Westens. Nicht selten paart sich dieses Gefühl des erneuten Abgehängtseins mit einem Irrglauben, der an die ostdeutsche Identität gekoppelt ist: Wir Ostdeutschen kennen die Russen besser als ihr Westdeutschen, wir haben schließlich mit ihnen gelebt, wir haben in der Schule Russisch gelernt. Ihr Protest gegen die Sanktionen, ihr Ruf nach Verhandlungen mit Putin ist für sie eine Art Ventil: Gegen „die da oben“, gegen den Staat, dem „man nicht trauen“ könne.

Die Entfremdung gegenüber dem Staat hat ihre Wurzeln in den Erfahrungen mit staatlichen Organen in der DDR. Verlässt du dich auf den Staat, bist du verlassen – so lautete ein ostdeutsches Diktum. Oder wie Historikerin Satjukow es ausdrückt: „Demokratie erlebten die Ostdeutschen in der Vergangenheit nicht mit staatlichen Institutionen, sondern gegen sie.“ Selbst jene, die weder durch Firmenpleiten und Russland-Sanktionen abgehängt sind noch sonst ökonomische Not leiden, melden sich mit fragwürdigen „Friedensforderungen“.

Sie organisieren sich in den sozialen Netzwerken, Twitter, Instagram, Facebook, und verbreiten dort „Wissen“ aus russischen Staatsmedien wie Ria Nowosti und Russia Today. Häufig leben sie in kleineren Städten und auf dem Land, das mehr und mehr entvölkert wird. Die eigenen Kinder sind weggezogen und wollen auch nicht zurück – obwohl ihnen die Eltern doch ein schönes Haus mit Garten vererben. „Mentales Prekariat“ nennt Satjukow dieses ostdeutsche Gefühl von Verlassensein: eine diffuse Mischung aus alter und neuer Verletztheit, nicht vollständig abgeschlossener Vergangenheitsbewältigung und politischer Naivität.

Wie kommt man mit den Menschen ins Gespräch? Aktuell kaum, meint Satjukow: Das sei „das Schwerste überhaupt“. Aber die Historikerin hat Hoffnung. Die Kinder und Enkelkinder der heutigen „Putin-Freunde“ und „Russland-Versteher“ lösen sich sowohl von den hemmenden Ossi-Stereotypen als auch von den Kränkungstiraden, die ihre Eltern wie ein Mantra singen. „Die jungen Ostdeutschen sind stark, machen vielfach Karriere und stehen zu ihrer Herkunft und Geschichte“, sagt die Historikerin. Sie werden die Republik verändern – in Ost und West.

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