Der Disput der Virologen

Der eine hat tolle News aus der Forschung im Corona-Hotspot Heinsberg. Der andere hält dies für wenig aussagekräftig. Was wird nun aus der erhofften Lockerung der Maßnahmen?

Ostersonntag in Düsseldorf: Weil Gottesdienste untersagt sind, treffen sich Gläubige zu einer katholischen Messe im Autokino auf dem Parkplatz des Messegeländes Foto: Henning Schoon/dpa

Von Heike Haarhoff

Es war der Gründonnerstag der Virologen. Keine der zahlreichen digitalen Pressekonferenzen am letzten regulären Arbeitstag vor dem Osterwochenende kam ohne sie, ihre neuesten Forschungsdaten, Einschätzungen und Prognosen zur Verbreitung des Coronavirus in der Bevölkerung, seiner Gefährlichkeit, aber auch seiner möglichen Beherrschbarkeit durch das Gesundheitswesen aus.

Aus gutem Grund: Nach Ostern, in dieser Woche also, will die Bundesregierung bekannt geben, ob und in welchem Umfang die seit über drei Wochen andauernden drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens gelockert werden. An den Osterfeiertagen haben schon die ersten Lan­­des­poli­ti­ke­r*in­nen Vorschläge gemacht, wie so ein schrittweiser Exit aussehen könnte (siehe Spalte). Doch wie auch immer dieser politische Entscheidung am Ende aussehen wird, sie wird – auch – von den Daten der Wissenschaftler beeinflusst worden sein. Das Problem ist jedoch: Diese Daten sind noch unvollständig und vor allem: unterschiedlich interpretierbar.

Klingt unbefriedigend? Nicht unbedingt. Aber der Reihe nach.

Am Donnerstagmorgen trat in Düsseldorf der Virologie-Professor Hendrik Streeck vor die Presse und stellte, wie er betonte, „Zwischenergebnisse, deren Verallgemeinerung sehr schwierig ist“, zu dem Forschungsprojekt „Covid-19 Case-Cluster-Study“ vor. Diese Studie hatten Streeck und ein interdisziplinäres Team des Universitätsklinikums Bonn in den vergangenen Wochen durchgeführt in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg.

Heinsberg gilt als sogenannter Corona-Hotspot und ist eines der am frühesten und stärksten von der Pandemie erfassten Gebiete in Deutschland. Streeck und seine Kollegen untersuchen dort zurzeit rund 1.000 Einwohner in 400 Haushalten; sie testen diese Menschen per Rachenabstrich einerseits auf akute Infektionen, mittels Blutuntersuchungen aber auch darauf, ob die Personen bereits eine Infektion durchgemacht haben und folglich immun sind.

Der Zwischenstand, den Streeck nun am Donnerstag präsentierte – und den die Politik bei ihren anstehenden Entscheidungen zumindest im Hinterkopf haben dürfte –, beruht auf den Auswertungen der Ergebnisse von 509 untersuchten Personen, also etwa der Hälfte aller Probanden. Für die Gemeinde Gangelt seien die Daten „repräsentativ“, so Streeck; bundesweit allerdings besäßen sie wenig Aussagekraft, jede Region sei zu verschieden. In Gangelt aber, so viel sei klar, hätten 15 Prozent aller Einwohner eine Infektion mit dem Virus – bemerkt oder unbemerkt – bereits durchlaufen und seien nun für mindestens 6 bis 18 Monate immun. Sie seien damit weder ansteckend noch könnten sie angesteckt werden. Eine super Botschaft, konnte man meinen, zumindest auf den ersten Blick.

Die Studie

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck untersucht im stark von Covid-19 betroffenen Ort Gangelt rund 1.000 Menschen aus 400 Haushalten, um die Ausbreitungswege von Corona zu ergründen. Am Donnerstag präsentierte das Team als Zwischenergebnis ein gerade zwei Seiten langes Papier, das viele Fragen offenlässt.

Die PR-Agentur

Auf Kritik gestoßen ist zudem, dass Streecks Arbeit von der Berliner PR-Firma Storymaschine des früheren Bild-Chefs Kai Diekmann auf Twitter und Facebook dokumentiert wird. Die SPD-Politikerin Sarah Philipp etwa fragte im nordrhein-westfälischen Landtag, wieso die Heinsberg-Studie von der Landesregierung finanziert, die Öffentlichkeitsarbeit aber an eine private Agentur vergeben wurde. Laut Streeck erhält die Agentur weder Geld von ihm noch von der Uni Bonn. Storymaschine-Geschäftsführer Philipp Jessen bestätigte, weder Steuermittel noch Gelder der Uni Bonn zu erhalten. Finanziert werde das Projekt dank Zuwendungen von den Partnern Deutsche Glasfaser und Gries Deco Company. (taz)

Dann aber erklärte Streeck: Die sogenannte Herdenimmunität, also die Rate durchgemachter Infektionen in der Bevölkerung, ab der Virologen davon ausgehen, dass die Epidemie verschwindet, weil Ansteckungen kaum noch möglich sind, liege mit 60 bis 70 Prozent natürlich weitaus höher als die für Gangelt festgestellten 15 Prozent. Also keine Entwarnung.

Doch immerhin: Die Zuwachsraten der Neuinfektionen wiesen eine fallende Kurve aus, was zusätzlichen Mut mache und auf eine verlangsamte Verbreitung des Virus schließen lasse. Auch habe man herausgefunden, dass Kinder kaum ernsthaft erkrankten. Noch eine gute Nachricht also. Und bei Erwachsenen habe die Zahl der übertragenen Erreger offenbar einen Einfluss auf den Schweregrad der Erkrankung, sagte Streeck. Heißt so viel wie: Wer konsequent Abstand hält und, sollte er dennoch angehustet werden, entsprechend nur wenige Erreger aufnimmt, kann auf einen milderen Verlauf hoffen.

Dazu komme: Wer einmal eine Infektion durchgemacht habe, dessen Körper sei – anders als etwa bei dem Aids-Erreger HIV – das Virus ein für allemal los. Auch das fanden die Wissenschaftler heraus. Lediglich etwa 0,37 Prozent der Infizierten in Gangelt starben ihrer Studie zufolge; die Johns-Hopkins-Universität geht dagegen für Deutschland von einer fünffach höheren Quote aus (1,98 Prozent).

Spätestens da konnte man zaghafte Hoffnung schöpfen, dass Licht am Ende des Coronatunnels zu sehen sei. Aber es kam noch besser: Streeck, der Wissenschaftler, ging sogar so weit, anzudeuten, dass angesichts der nun vorliegenden Daten aus seiner Sicht und möglicherweise mit einer Rücknahme der ersten strengen Auflagen begonnen werden könne, sofern, ja sofern die Bürgerinnen und Bürger weiterhin konsequent die Hygieneregeln einhielten. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), dessen Landesregierung die Studie mit 65.000 Euro unterstützt und in dessen Beisein die Präsentation stattfand, lobte die Zwischenergebnisse denn auch als einen „Baustein“, der der Politik helfe, „zu einer verantwortungsvollen Entscheidung zu kommen“.

Doch die Hoffnung, die Streeck und Laschet verbreiteten, sie hielt sich nur exakt eine Stunde. Da nämlich wandte sich, in einer anderen digitalen Pressekonferenz, organisiert vom Kölner ­Science Media Center, Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité und daneben Berater der Bundesregierung, an die Öffentlichkeit. Und er zerstörte nun mit wenigen vernichtenden Sätzen, vorgetragen mit der ihm eigenen charmanten ­Unaufgeregtheit, das kleine Fünkchen Hoffnung, das sein Kollege Streeck von der Uni Bonn (dort übrigens Drostens Nachfolger) zuvor verbreitet hatte.

Satz eins ging so: „Man kann aus dieser Pressekonferenz (gemeint war die von Streeck) gar nichts ableiten.“ Satz zwei lautete: „Man braucht erst mal ein Papier.“ (Diese Kritik bezog sich auf den Umstand, dass Streeck seine Zwischenergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt hatte, ohne zuvor offenbar der Scientific Community einen Bericht vorgelegt zu haben.) Die weiteren Sätze säten sodann Zweifel an der Seriosität der Untersuchung bezogen auf das Sample, die Testung und die Interpretation der Daten.

Immerhin in einem Punkt sind die Virologen einer Meinung: Wer immun ist, kann niemanden mehr gefährden

Im ZDF-„heute journal“ am Donnerstagabend wiederholte Drosten sein Bedauern über die mangelnde Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse. Bislang verfügbare Antikörpertests zur Bestimmung der Immunität gegen das Coronavirus, die auch das Bonner Forscherteam in Gangelt eingesetzt hatte, könnten, vereinfacht gesagt, gar nicht verlässlich anzeigen, ob eine Person tatsächlich mit dem neuen Coronavirus infiziert gewesen sei – oder bloß mit einem harmlosen, saisonalen Corona-Erkältungsvirus. Den Tests fehle die entsprechende Trennschärfe, so Drosten. Es bestehe die Gefahr, so fälschlicherweise positive Ergebnisse zu erzielen. Zu deren Ausschluss sei weitere Diagnostik notwendig.

Der Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Gérard Krause, der ebenfalls an der Web-Konferenz des Science Media Center teilgenommen hatte, erhob dort am Donnerstag einen weiteren Einwand gegen die Bonner Studie: „Ich sehe da noch ein anderes Problem, das vielleicht fast quantitativ noch stärker ist. Ich weiß es nicht, weil ich die Studie nicht kenne. Aber es ist eine Haushaltsstudie gewesen. Ich nehme an, dass alle Mitglieder aus dem Haushalt getestet worden sind. Das kann man so machen. Aber dann darf man keineswegs alle Ergebnisse nehmen und in Prozent umrechnen, sondern allenfalls pro Haushalt nur eine Person nehmen.“

Ansonsten bestehe die Gefahr einer statistischen Verzerrung, so Krause. Der Grund: Die Ansteckungsgefahr innerhalb eines Haushalts sei viel höher als in der allgemeinen Bevölkerung. Rechne man also alle Personen eines Haushalts ein, dann werde eine weitaus höhere Immunität angezeigt als die tatsächlich in der Bevölkerung vorhandene. Darauf Christian Drosten: „Richtig, und die Verteilung auf die Haushalte wurde auch nicht aufgeklärt. Man kann wirklich aus dieser Pressekonferenz gar nichts ableiten.“

Nun hätte man die Debatte als eine fachliche Auseinandersetzung unter Wissenschaftlern verbuchen können, wäre da nicht die politische Bedeutung der Studie für die etwaigen Lockerungen der strengen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Die Fragen, die seit Donnerstag im Raum stehen, lauten: Taugt eine Studie von Top-Wissenschaftlern, deren Zwischenergebnisse nach Auffassung anderer Top-Wissenschaftler nicht ansatzweise überprüfbar und zudem methodisch fragwürdig sind, zur politischen Meinungsbildung? Sind Lockerungsüberlegungen damit obsolet?

Der Bonner Chef-Pharmakologe Gunther Hartmann reagierte am Wochenende und verwahrte sich gegen die Kritik. Die Antikörpertests (igG Elisa) der Firma Euroimmun, die in Gangelt verwendet worden seien, „haben eine Spezifität von über 99 Prozent“, schrieb Hartmann in einer Stellungnahme an die taz. „Unsere Untersuchungen an eigenen Kontrollproben, auch von Proben anderer Coronaviren, stützen diese Spezifität.“ Soll heißen: Man dürfe davon ausgehen, dass gemessen worden sei, was gemessen werden sollte.

Aus Streecks Präsentation könne er „nichts ableiten“, erwiderte Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin Foto: Christophe Gateau/dpa

Auch bei der Auswertung der untersuchten Haushalte sei statistisch korrekt gearbeitet worden, betonte Hartmann. Für die Zwischenanalyse seien 509 Personen aus 240 Haushalten untersucht worden. „Diese Zahl liegt bereits im Rahmen der von der WHO empfohlenen Stichprobengröße. Wir erwarten sehr ähnliche Ergebnisse bei der Gesamtzahl von 1.000 Personen, sonst hätten wir die Stichprobe aus 509 nicht veröffentlicht“, so Hartmann. Zudem seien mögliche Abhängigkeiten zwischen Personen desselben Haushalts in die statistische Berechnung einbezogen worden. „Die Punktschätzung bleibt die gleiche, was auch diesen Kritikpunkt vollständig entkräftet.“

Und dass die Zwischenanalyse vor ihrer wissenschaftlichen Publikation veröffentlicht worden sei, sei „der besonderen Situation geschuldet“ gewesen. Allerdings sei dieses Vorgehen in der Wissenschaft auch in Zeiten jenseits akuter Pandemien keineswegs unüblich. Im Gegenteil, es diene der „frühen Kommunikation und Diskussion von Ergebnissen“, so Hartmann. Die eigentliche schriftliche Publikation der Studie erfolge erst mit Abschluss der Ergebnisse. Also alles ganz normal und kein Grund zur Aufregung?

Mitnichten. Die Kritik ihrer Wissenschaftlerkollegen aus Berlin und Braunschweig hat das Bonner Forscherteam empfindlich getroffen: „Es ist schade, dass Kollegen uninformiert voreilige und sichtlich unüberlegte Schlüsse ziehen, die das Bild in den Medien derart verzerren. Weiterhin möchten wir darauf hinweisen, dass alle beteiligten Wissenschaftler bei Konzeption, Design und Präsentation der Studie unabhängig von Interessen Dritter sind, einschließlich der Medienfirma Storymachine“, schrieb Hartmann stellvertretend für sein Team.

Immerhin bei einer Aussage sind die Kontrahenten einer Meinung. Wer die Infektion überstanden habe, von dem gehe kein Erkrankungsrisiko und keine Ansteckungsgefahr mehr aus, pflichtete der Berliner Virologe Drosten seinem Bonner Kollegen Streeck bei: Wer immun sei, könne beispielsweise „ohne Vermummung“ an der Rezeption einer Klinik arbeiten.

Stellte am Gründonnerstag einen hoffnungsvollen Zwischenbericht seiner Corona-Studie in Heinsberg vor: Hendrik Streeck, Direktor des Institut für Virologie an der Uniklinik in Bonn Foto: Federico Gambarini/dpa

Doch wie geht es nun weiter bei der Frage der Lockerungen? Vielleicht muss die Politik nun doch warten, bis das Robert-Koch-Institut (RKI) bundesweite, repräsentative Untersuchungen durchgeführt hat. Immerhin, verkündete RKI-Präsident Lothar Wieler (ebenfalls am Gründonnerstag auf einer Pressekonferenz), soll es in der Woche nach Ostern bereits losgehen mit den Antikörpertests. Diese sollen, so Wieler, Antworten auf drei drängende Fragen geben. Erstens: Wie viele Menschen in Deutschland haben die Infektion mit dem Coronavirus, bemerkt oder unbemerkt, bereits durchgemacht – und sind insofern immun? Zweitens: Wie hoch ist der Anteil sogenannter asymptomatischer Fälle, also Erkrankungen, die unbemerkt verlaufen? Und drittens: Wie viele Menschen sind tatsächlich an der Infektion gestorben – und nicht etwa an einer anderen, parallelen Erkrankung?

Mit diesen Antworten, so Wieler, werde sich nicht bloß der Verlauf und die Schwere der Epidemie besser beschreiben lassen. Auch die Effektivität der getroffenen strikten Maßnahmen wie Social Distancing oder Schulschließungen könne so besser bewertet werden. Nicht zuletzt wäre dann klar, wer – weil er selbst andere nicht mehr anstecken könne, aber auch nicht mehr von anderen angesteckt werden kann – problemlos Kontakt haben dürfe zu besonders gefährdeten Menschen mit hohem Erkrankungsrisiko, etwa in Kliniken oder Pflegeheimen. Letztendlich, das machte Wieler klar, kann die Information über eine vorhandene Immunität also lebensrettend sein.

Doch auf diese Informationen müssen Bund und Länder noch warten: Das RKI und die kooperierenden Universitätskliniken (die Berliner Charité und das Braunschweiger Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung) rechnen bei ihren drei Antikörper-Studien mit den ersten Ergebnissen im Mai. Die erste Studie startet bereits in dieser Woche und wird alle 14 Tage rund 5.000 Blutproben von Blutspendern untersuchen. Die zweite, mit Beginn Mitte April, soll in vier verschiedenen Orten, die in besonders schwer betroffenen Ausbruchsgebieten liegen, die Blutproben von jeweils 2.000 Menschen mehrfach untersuchen und daneben Daten zu klinischen Symptomen, Vorerkrankungen, Gesundheitsverhalten, Lebensumständen und psychischer Gesundheit erfassen.

Die dritte Antikörperstudie schließlich will 15.000 Menschen in 150 Regionen untersuchen und soll repräsentative Daten für die Bevölkerung Deutschlands liefern. Diese Studie wird im Mai starten und könnte im Juni erste Resultate liefern. Frühestens.