Wenn Grüne und FDP regieren: Perverse Politik von Ödipus
Die Grünen haben bei der Wahl grotesk schlecht abgeschnitten. Dabei wäre es nötig, radikale Klimapolitik gegen die FDP durchzusetzen.
Warum, dachte ich im Frühjahr 2020, wird nur „Die Pest“ und der „Decamerone“ als moralische Antwort auf die Pandemie herangezogen – nicht aber das älteste Pest-Stück der Literaturgeschichte, „König Ödipus“ von Sophokles? Damals, während der ersten Welle, war das Stück wohl zu düster. Jetzt, da die Pandemie zu Ende geht, wird es von Berlin bis Paris und von London bis São Paulo auf Dutzenden der wiedereröffneten Bühnen inszeniert.
Worum geht es? Als in Theben die Pest ausbricht, ruft König Ödipus seine engsten Berater zusammen. Nach und nach muss er erfahren, dass er selbst Ursache der Pandemie ist. Denn er hat seinen Vater, den ehemaligen König, erschlagen. Ödipus wird von Sophokles nicht als irrer Populist gezeichnet, sondern als rationaler Herrscher, eine Art antiker Gutmensch. Gerade weil er gern gut wäre – oder in einer Zivilisation lebt, die von den Regierenden immerhin oberflächliche moralische Reinheit einfordert –, kann er nicht akzeptieren, dass seine Herrschaft in ihrer Wurzel obszön ist.
Qualen, die man selbst erschuf
Damit wird „Ödipus“ zur Allegorie unserer Zeit, zur Tragödie des modernen Bewusstseins. Auch wir haben begriffen, dass der Klimawandel, die daraus folgenden Kriege und Massenfluchten kein objektives Ereignis sind, kein unverdienter Krieg der Natur gegen den Menschen, sondern der Pay-off einer zerstörerischen Lebensweise. Gott ist tot, wie Nietzsche einst sagte; wirklich gestorben ist er aber erst mit der wissenschaftlichen Selbsterkenntnis des Anthropozän. Oder wie Ödipus es formuliert: „Am schmerzlichsten aber sind jene Qualen, die man frei sich selbst erschuf.“
Interessant ist, wie Ödipus auf die schrittweise Aufdeckung reagiert: zuerst mit Misstrauen, dann mit Verdrängung, mit Wut und schließlich mit Verzweiflung und Selbsthass. Sophokles’ Tragödie ist eine Pathologie der Negation, eine Analyse der Emotionen der herrschenden Klasse und ihrer Versuche, trotz aller gemachten Fehler irgendwie an der Macht zu bleiben.
Die Moves der Mächtigen
Die Geschichte ist voll solcher Moves der Mächtigen, und die letzte und – immerhin für mich – besonders bittere Lektion in dieser Disziplin sind die deutschen Bundestagswahlen. Zuerst sei festgehalten: Das historisch schlechteste Ergebnis der CDU und das Wiedererstehen der SPD aus der Asche, die im Ausland für viel Aufmerksamkeit gesorgt haben, sind ein Nebenschauplatz. Deutschland ist trotz aller Schwankungen im Kern ein Zweiparteiensystem.
Nein, das eigentliche Ereignis des vergangenen Sonntags ist etwas anderes: das grotesk niedrige Ergebnis der Grünen. Noch in einigen Sommerumfragen war Baerbocks Partei auf 30 Prozent Zustimmung gekommen, am Ende landete sie bei der Hälfte. Dass eine Partei, die als einzige glaubwürdig für eine Änderung der Klimapolitik steht, nicht siegen konnte – einen Tag nach dem Weltklimatag, zwei Monate nachdem halb Westdeutschland in apokalyptischem Hochwasser versunken war –, ist als politische Verdrängungsleistung genauso beeindruckend wie final desillusionierend.
Lindner und Wissing wie zwei Manager
Noch absurder ist, dass die neoliberale FDP, die für ungebremstes Wirtschaftswachstum und damit alles steht, was den Klimawandel in den letzten Jahrzehnten verschuldet hat, nun gemeinsam mit den Grünen (und wohl der SPD) eine Koalition bilden wird. Ein erstes Selfie von den Verhandlungen zwischen den Parteien zeigt die neoliberalen FDP-Boys Lindner und Wissing, Haare zurückgegelt und gekleidet wie zwei Wallstreet-Manager aus „American Psycho“, zwischen den Grünen-Chefs Baerbock und Habeck. „Wir loten Brücken über Trennendes aus“, heißt es unter dem Selfie, „spannende Zeiten!“
Die FDP und die Grünen: Die einen stehen für ungehemmtes Wachstum und gegen gesellschaftliche Kontrollen – die anderen für das Gegenteil. Die einen wollen den Planeten, nun ja, retten, die anderen ihn nochmal so richtig ausbeuten, bevor endgültig Schluss ist, unter dem Banner der ökonomischen Rationalität und der politischen Machbarkeit. Dass die Grünen und die FDP nun gemeinsam „Königsmacher“ sind – jene im deutschen Zweiparteiensystem so entscheidende dritte Macht – ist Signum unserer Zeit. Es ist so, als würde Ödipus, nachdem alles aufgedeckt ist, einfach fröhlich mit Iokaste weiterregieren. Regieren um des Regierens willen: „spannende Zeiten“ stehen uns bevor!
„Keine Experimente!“
Das Selfie von den Koalitionsverhandlungen der Grünen mit der FDP wäre noch vor wenigen Jahrzehnten als der finale Verrat wahrgenommen worden – heute führte es innerhalb von Minuten zu Tausenden von Kommentaren, die im Wesentlichen die Kompromissbereitschaft der beiden Parteien lobten, gemäß dem Mantra „So funktioniert eben Demokratie“.
Denn seien wir ehrlich: Wir Westeuropäer hassen seit dem Zweiten Weltkrieg jede Form von politischem Extremismus oder gar staatlicher Bevormundung und lieben es, wenn die Gegensätze sich in einer politischen Leerformel vereinigen. „Keine Experimente!“, hieß der berühmteste und erfolgreichste Wahlkampfslogan in Deutschland nach dem Krieg, mit dem die CDU 1957 das höchste Ergebnis einer Partei bei Bundestagswahlen jemals erzielte. Der Traumatisierte will vor allem eines: Normalität, egal mit welchen Kosten.
Vulgärliberalismus der FDP
Der Unterschied zu den 50ern ist nur, dass wir keine Zeit für „Normalität“ mehr haben. Obwohl es aktuell ungefähr so lebenswichtig ist, eine radikale Klimapolitik gegen alle Widerstände aus der Wirtschaft durchzusetzen, wie in einem leckgeschlagenen Flugzeug die Atemmaske aufzusetzen, diskutierte man in Deutschland, der größten Wirtschaftsnation der EU, in den letzten Monaten ausschließlich über das Grinsen Laschets und den geschönten Lebenslauf Baerbocks.
Und was immer die Grünen sich einreden mögen: Im Kampf gegen den Vulgärliberalismus der FDP werden sie sich in den nächsten vier Jahren aufreiben. Denn dass Freiheit in der Übernahme von Verantwortung besteht, das hat die FDP und mit ihr die deutsche Wirtschaft nie verstanden. Mitten im globalen Klimanotstand verkündet die FDP noch immer Steuersenkungen für Großverdiener und macht Wahlkampf für Klimaziele, die von den Unternehmen selbst festgesetzt werden sollen.
Eine Tragödie als Melodrama
Kurzum: Schaut man in diesen Tagen auf Deutschland, dann ist es, als würde eine Tragödie als Melodrama inszeniert. Die Lage ist nicht „spannend“, also dramatisch, sondern auswegslos, also tragisch. Zu hoffen ist nur, wie seltsamerweise die ausländische Presse glaubt, dass die SPD sich auf wundersame Weise von der Braunkohle- und Autoindustrie-Partei in eine Partei radikaler Klimapolitik verwandelt und Scholz zum Kanzler einer zweiten, klimapolitischen Wende wird. „Nach der Versöhnung von Arbeit und Kapital die Versöhnung von Arbeit und Natur“, wie Die Zeit amerikanische Medien zitiert.
Davon abgesehen, dass Kapital und Arbeit global nie unversöhnter waren als heute: Warum sollte der Realpolitiker Scholz diesen extremen Stunt, angesichts des Beinah-Untergangs der SPD vor nur vier Jahren, riskieren? Nein: Die etablierte Politik wird sich auch in Zukunft in publikumswirksamen Kompromissen gefallen, deren tödliche Folgen auf spätere Generationen und vor allem auf den Globalen Süden ausgelagert werden. Denn in den Fluten der steigenden Ozeane werden nicht Deutschland oder Belgien untergehen, sondern Bangladesch und Indonesien.
Greenwashing-Dienstleister
Doch zurück zu Ödipus: Von der ersten Zeile der Tragödie an wird dem gutmütigen König immer wieder erklärt, was er eigentlich schon längst verstanden hat, nämlich seine Schuld an dem, was er als objektives Unglück erlebt. Sophokles zeigt das als Tragödie eines Menschen, der sich schmerzlich bewusst macht, was er längst weiß. Und auch in diesem Text enthält keine einzige Zeile irgendeine Neuigkeit. Wir alle wissen, dass der Klimawandel nicht einfach so geschieht, sondern Folge bewusster politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen ist. Aber es ist, als wären das, was wir wissen, und das, was wir tun, unvereinbar voneinander getrennt.
Die Grüne Partei Deutschlands, bis vor wenigen Tagen Hoffnungsträger Europas, sucht ihr Heil im politischen Überleben um jeden Preis als Greenwashing-Dienstleister einer neoliberalen Koalition. Ödipus, Hardcore-Moralist wie die meisten tragischen Helden, löst das moralische Problem auf etwas andere Weise: Er blendet sich und verlässt Theben, die Stadt selbst versinkt im Bürgerkrieg.
Klimaneutralität, bla, bla, bla
Das ist natürlich für Deutschland nicht zu erwarten und auch nicht zu hoffen. Es gibt aber eine andere Hoffnung. Denn vergessen wir nicht, dass Ödipus, der perverse König, eine Tochter hatte: Antigone. In Sophokles’ berühmtesten Stück erhebt sie sich gegen das System, das Kreon, ihr Onkel und Ödipus’ Schwager, ohne jede Änderung aufrechterhält. Denn mit dem Shitstorm gegen Ödipus ist nichts gelöst, die herrschende Klasse fährt einfach in neuer Konstellation fort, das Richtige zu verkünden und das Falsche zu tun.
Mit den Worten von Greta Thunberg: „Netto-Null bis 2050, bla, bla, bla, Klimaneutralität, bla, bla, bla. Das ist alles, was wir von unseren sogenannten Anführern hören. Worte, die sich toll anhören – denen aber keine Taten folgen werden.“
Aktivist*innen Europas, vereinigt euch!
Milo Rau veröffentlichte vor einer Woche die „Kölner Erklärung“ für eine gerechte Migrationspolitik
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen