Ukrainischer Historiker über Selenskyj: „Die Ukraine kauft Zeit für Europa“
Europa muss die Ukraine als Lösung ansehen, nicht als Problem, sagt Jaroslaw Hrytsak. Selenskyj hält er für einen Populisten mit „menschlichem Antlitz“.

taz: Herr Hrytsak, laut Kreml-Propaganda ist in Kyjiw eine faschistische Junta an der Macht, und Moskau will die Ukraine entnazifizieren. Auch in Deutschland gibt es nicht wenige, die meinen, extreme nationalistische Kräfte wie der Rechte Sektor oder die Partei Swoboda seien in der Ukraine sehr einflussreich. Wie sehen Sie das?
Jaroslaw Hrytsak: Ich würde vorschlagen, dass sich diese Leute mehr auf Deutschland konzentrieren sollten. Doch davon abgesehen: Auch wir haben Nationalisten und Faschisten in der Ukraine, aber ihre Wirkung auf die Politik ist sehr begrenzt, sie sind marginalisiert. Bei uns gibt es andere Bedrohungen.
taz: Welche sind das – außer dem russischen Angriffskrieg?
Hrytsak: Viele Menschen sind traumatisiert, sie sind extrem wütend, wie das Land regiert wird und wie es an der Front läuft. Sie haben Waffen und könnten Unruhe stiften. Es gibt so einige Gräben innerhalb des Landes – zwischen denen, die in der Armee dienen und denen, die sich dem Militärdienst entzogen haben. Und zwischen denen, die in der Ukraine geblieben sind und denen, die sie verlassen haben. Das sind die neuen Gräben, mit denen wir es jetzt zu tun haben.
Jaroslaw Hrytsak 65, ukrainischer Historiker und Publizist, ist Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw sowie Direktor des Instituts für historische Forschungen an der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw. Auf Deutsch liegt der Band vor: „Ukraine: Biografie einer bedrängten Nation“
taz: Der Nationalist Stepan Bandera, der im Zweiten Weltkrieg den Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) anführte, mit der Wehrmacht paktierte und für Pogrome verantwortlich war, ist für viele in der Ukraine ein Idol. Ist das ein Zeichen für einen grassierenden Faschismus im Land?
Hrytsak: Das ist russische Propaganda. Bandera genießt eine gewisse Popularität. Aber nicht als Nationalist, Judenhasser oder Killer von Polen. Heute hat er eine Bedeutung als eines Symbols des Widerstandes gegen Russland. Aber das ist weit davon entfernt, faschistisch zu sein.
taz: Warum hält sich dieses Narrativ so hartnäckig?
Hrytsak: Es ist hart, Stereotype zu überwinden, die jahrzehntelang von den Russen propagiert wurden. Ich bestreite nicht, dass ukrainische Nationalisten xenophob waren und sind – genauso wenig wie, dass Ukrainer am Holocaust beteiligt waren. Die Geschichte ist komplex. Wenn du glaubst, etwas über die Ukraine zu wissen: Überlege zweimal.
taz: Wie regiert Präsident Wolodymyr Selenskyj die Ukraine?
Hrytsak: Es gibt Höhen und Tiefen, mal gut, mal schlecht. Die Geschichte wird ihn beurteilen. Für viele Dinge muss ich ihm Anerkennung zollen. Es gibt wohl kaum jemanden, der über drei Jahre täglich 24 Stunden gearbeitet hat. Seine Energie ist unglaublich. Er vertritt die Ukraine sehr gut im Ausland, denn er ist eine charismatische Figur. Das hilft sehr, weil die internationalen Beziehungen eine sehr große Rolle spielen. Nur mit der Unterstützung aus dem eigenen Land hätten wir diesen Krieg nicht bis jetzt durchhalten können. Gleichzeitig fürchte ich jedoch, dass Selenskyj in die Gorbatschow-Falle tappt.
taz: Was meinen Sie damit genau?
Hrytsak: Gorbatschow war im Westen sehr populär, verlor aber im eigenen Land immer mehr an Zustimmung. Das ist auch bei Selenskyj so.
taz: Was sind die Gründe dafür?
Hrytsak: Ukrainer messen eine Person an den Ergebnissen. Und da kann Selenskyj im Inland kaum Erfolgsgeschichten liefern. Er hat bei der Justizreform versagt, der wichtigsten Reform in der Ukraine. Die Gegenoffensive 2023 ist gescheitert. Auch die Mobilisierung war in großen Teilen ein Flop. Und die entscheidende Frage ist doch jetzt, wie wir mehr Manpower an die Front bekommen. Übrigens: In gewisser Weise sind sich Selenskyj und Trump ähnlich.
taz: Inwiefern?
Hrytsak: Beide sind Populisten. Doch im Gegensatz zu Trump ist Selenskyj einer mit menschlichem Antlitz. Und wie Trump stellt Selenskyj seine Mannschaft nach dem Kriterium persönlicher Loyalität zusammen. Und das, obwohl wir in der Ukraine viele hervorragende Experten haben, die aber dem Team nicht angehören. Das ist ein großer Fehler und besonders in Friedenszeiten sehr gefährlich. Ich glaube nicht, dass Selenskyj ein guter Präsident der Ukraine für die Zeit nach dem Krieg wäre. Er hat keine Strategie für den Transformationsprozess des Landes.
taz: Wie sehen Sie das heutige Russland? Manche bezeichnen das System, das Wladimir Putin als Präsident errichtet hat, als faschistisch. Sie auch?
Hrytsak: Vor dem Krieg 2022 hatte ich eine Diskussion mit russischen Oppositionellen. Sie bezeichnen das Putin-Regime als faschistisch. Damals habe ich widersprochen. Heute muss ich jedoch sagen, dass ich falsch gelegen habe.
taz: Manche sprechen von „Raschismus“ – einer russischem Spielart des Faschismus. Wie würden Sie diesen Begriff definieren?
Hrytsak: Ein Kriterium für Faschismus ist, wenn der Staat alles kontrollieren will und es keine Privatsphäre mehr gibt. In Russland ist die LGBTQ+-Community als extremistisch gelabelt. Da soll also auch noch kontrolliert werden, was die Leute in ihren Betten tun. Aber ich möchte das noch an einem anderen Beispiel illustrieren. Vor ein, zwei Jahren haben sich russische Intellektuelle eine Provokation einfallen lassen und einige Werke von Nazidichtern aus den 40er Jahren übersetzt. Hitler wurde durch Putin, Deutschland durch Russland ersetzt. Diese Gedichte wurde in Russland sehr populär und sogar mit einigen Preisen ausgezeichnet. Wir haben es mit der gleichen Sprache zu tun. Deshalb trifft der Begriff Raschismus zu.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird am kommenden Donnerstag zu einem Treffen mit europäischen Spitzenpolitikern in Paris erwartet. Es sei geplant, Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu erörtern „und die Diplomatie voranzubringen, weil die Russen die Dinge erneut hinauszögern“, erfuhr die Nachrichtenagentur AFP am Montag aus europäischen Politikerkreisen. US-Präsident Donald Trump werde „bislang nicht erwartet“. Ob Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) an dem Treffen teilnimmt, war zunächst unklar. (afp)
Das Konzept des Raschismus, hat in der Ukraine jetzt auch offiziell Gesetzesrang. Eine entsprechende Vorschrift unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj in der vergangenen Woche. Der Begriff ist seit 2008 im Gebrauch. Er wird definiert als eine neue Art totalitärer Ideologie und Praktiken, die dem im Aggressorstaat (Russland) gebildeten Regime zugrunde liegen und auf den Traditionen des russischen Chauvinismus und Imperialismus, den Praktiken des kommunistischen Regimes der UdSSR sowie dem Nationalsozialismus basieren. (taz)
taz: Welche Ziele verfolgt der Kreml mit seinem Krieg in der Ukraine?
Hrytsak: Die Ukraine als Nation auszulöschen und als eigenständigen Staat von der Landkarte zu tilgen. Deshalb haben wir es nicht mit einem simplen Krieg zu tun. Es geht nicht vor allem um Territorien, sondern um die Existenz der Ukraine. Derartige Absichten Moskaus waren bereits 2008 nach dem russisch-georgischen Krieg ein offenes Geheimnis: Sollte sich die Ukraine weiter dem Westen zuwenden, würde sie mit einer vollumfänglichen Invasion bestraft. Das hielten viele damals für absolut unrealistisch.
Aktuell liegt der Plan einer Dreiteilung der Ukraine auf dem Tisch, der noch vor dem Maidan 2013/14 auftauchte. Teile des Ostens und Südens der Ukraine, darunter Mariupol und Odessa, annektiert Russland, nebst den industriellen Zentren Charkiw und Dnipro. In der Zentralukraine wird ein Marionettenregime installiert, das dem Kreml gegenüber absolut loyal ist. Den Westen, für Putin toxische Gebiete, können wahlweise Polen, Ungarn oder Rumänien unter sich aufteilen.
taz: Der Kreml zeigt sich bislang nicht bereit, von seinen Maximalforderungen abzuweichen. Machen Friedensverhandlungen da überhaupt Sinn?
Hrytsak: Ohne Zweifel, es gibt ja bereits einige Resultate, wie den Austausch von Gefangenen. Aber wir wissen doch, dass Putin nur eine Sprache versteht, und das ist die Sprache der Stärke. Wenn ihm genug Stärke und Widerstand entgegengesetzt würden, würde er vielleicht aufhören. Aber bislang sieht Putin diesen Widerstand nicht. Demgegenüber ist die Ukraine erschöpft und die Unterstützung des Westens geschwächt. Warum sollte Putin den Krieg beenden? Nein, es bräuchte mehr Militärhilfe, um stärkeren Druck auf den Kreml auszuüben. Es scheint jedoch, dass der Westen dazu weder in die Lage noch willens ist.
taz: Woran hakt es?
Hrytsak: Allem voran an Donald Trump. Er ist dabei, diese Bühne zu verlassen, das ist nicht sein Krieg. Und die Frage ist, ob Europa die USA in Sachen Militärhilfe ersetzen kann. Ich möchte hier einen Satz aus dem Buch des britischen Historikers A. J. P. Taylor über die Revolution von 1848 zitieren. Auf Deutschland bezogen sprach er von einem Wendepunkt, an dem sich die Geschichte eben nicht gewendet hat. Das passt doch zur Zeitenwende von Ex-Kanzler Scholz: auch aus der folgte nichts. Nun gut, wir haben die Koalition der Willigen. Nur wissen wir nicht, wie stark sie wirklich ist.
taz: Was erwarten Sie von Scholz’ Nachfolger Friedrich Merz?
Hrytsak: Für die Ukraine ist Deutschland das wichtigste Land in Europa. Deshalb ruhen die Hoffnungen vieler Ukrainer*innen auf dem neuen Bundeskanzler. Inwieweit er etwas erreichen kann, wissen wir nicht. Alles ist unsicher, aber wir werden weiter kämpfen, die Ukrainer*innen sind nicht bereit zu kapitulieren. Sie wollen Frieden, aber das heißt vor allem auch Sicherheitsgarantien. Denn sie wissen genau, dass ohne diese Garantien alles in einem oder zwei Jahren wieder losgeht.
taz: Haben Sie eine Botschaft an westliche Politiker? Und wenn ja, welche?
Hrytsak: Wenn Sie Putin stoppen wollen, bereiten Sie sich auf den Krieg vor. Der einzige Weg, um den Frieden in Europa zu bewahren, ist, militärisch stark zu sein. Die Ukraine kauft Zeit für Europa, um sich auf diese Gegebenheiten einzustellen. Das ist die erste Botschaft. Die zweite lautet: Sehen Sie in diesem Sinne die Ukraine nicht als Problem, sondern als Lösung.
taz: Sie haben zahlreiche Bücher geschrieben, viele sind in andere Sprachen übersetzt worden. Haben Sie manchmal das Gefühl, nicht gehört zu werden?
Hrytsak: Das ist die traurige Realität. Niemand hört auf Historiker und ihre Warnungen – so lange, bis dann eine Krise kommt. Wenn sie da dann ist, sagen sie: Die Historiker hatten recht. Aber es braucht erst eine Krise, um zu verstehen, dass die Geschichte wichtig ist und was sie uns erzählt.
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