Tödlicher Polizeieinsatz in Oldenburg: Drei Schüsse von hinten
Ein 21-jähriger Schwarzer wurde in der Nacht zum Sonntag erschossen. Nach der Obduktion sieht auch die Innenministerin „schwerwiegende Fragen“.

Nicht nur Angehörige und Freunde des Toten, sondern auch viele Bürgerinnen und Bürger wünschten sich Antworten, teilte der Oldenburger Polizeipräsident Andreas Sagehorn mit. Das sei emotional verständlich, doch zunächst müssten die Hintergründe lückenlos aufgearbeitet werden. Er habe dabei volles Vertrauen in die Staatsanwaltschaft.
Zur Aufklärung würden Zeugen befragt und sämtliche Spuren ausgewertet, sagte Sagehorn. „Öffentlich wird sich die Polizei nicht zum laufenden Verfahren äußern, um die sorgfältige und professionelle Ermittlungsarbeit nicht zu gefährden.“
Lorenz war Schwarz. Schon direkt nach seinem Tod hatte sich ein Bündnis aus Freund*innen und Bekannten geformt, das eine lückenlose Aufklärung des Falls fordert. „Es zeigt sich immer wieder: Polizeieinsätze enden tödlich, wenn migrantisierte Menschen, BIPoCs und Schwarze Menschen betroffen sind. Es handelt sich nicht um Einzelfälle“, schreibt die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ in einem Statement.
Zweifel an der Darstellung der Polizei
„Die Ergebnisse der Obduktion erschüttern mich zutiefst“, sagt Suraj Mailitafi. Er engagiert sich in der Initiative und ist antirassistischer Aktivist. „Was vorher als notwendige Maßnahme dargestellt wurde, wirkt nach diesen Erkenntnissen wie eine brutale Eskalation mit tödlichem Ausgang.“
In der ursprünglichen Darstellung der Polizei hatte es geheißen, der Getötete sei „bedrohlich“ auf die Besatzung eines Streifenwagens zugegangen und habe einen Reizstoff in ihre Richtung gesprüht. „Schließlich machte ein 27-jähriger Beamter von seiner Schusswaffe Gebrauch“, heißt es in der Pressemitteilung.
Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung vor einer Bar, an deren Ende der Getötete ebenfalls Reizstoff versprüht haben soll. Er soll daraufhin verfolgt worden sein und habe seinen Verfolgern nach Darstellung der Polizei mit einem Messer gedroht. Belege dafür, dass der Getötete tatsächlich ein Messer bei sich hatte, gibt es zum jetzigem Zeitpunkt nicht. Und die Staatsanwaltschaft teilte auf NDR-Anfrage am Mittwoch mit, dass Lorenz nach derzeitigem Stand zumindest die Polizisten nicht mit einem Messer bedroht habe.
Was genau passiert ist, bleibt weiterhin unklar. Die Obduktionsergebnisse schüren jedoch Zweifel an der offiziellen Version. „Diese Tötung verändert mein Verhältnis zur Polizei. Und ich weiß: Ich bin damit nicht allein“, sagt Mailitafi. „Wir brauchen endlich eine ehrliche, mutige Debatte über Polizeigewalt in Deutschland. Eine Debatte, die nicht wegschaut, nicht relativiert und nicht länger schweigt.“ Der Fall betreffe nicht eine einzige Familie, sondern eine ganze Community.
Empfohlener externer Inhalt
Am Mittwoch hatten sich erneut junge Menschen am Tatort versammelt, vor allem Freunde und Bekannte von Lorenz. Viele sprechen von Mord und erinnern an vergangene Fälle tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze. Sie befürchten, dass die Erschießung von Lorenz nicht vollständig aufgeklärt wird und haben kein Vertrauen in die Arbeit der Polizei.
Gegen den Todesschützen wurde, wie nach dem Einsatz einer Schusswaffe üblich, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Totschlags. Der Mann ist derzeit vom Dienst freigestellt, so die Staatsanwaltschaft.
Innenministerin spricht von „verheerenden Vorwürfen“
Inzwischen hat sich auch die niedersächsische Innenministerin Daniela Behrens (SPD) zu dem Fall geäußert: „Die Obduktionsergebnisse werfen schwerwiegende Fragen und verheerende Vorwürfe auf, die im Rahmen der weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft schonungslos beantwortet und aufgeklärt werden müssen.“ Gleichzeitig gelte die Unschuldsvermutung.
Auch die Aktivistin Wilma Nyari aus dem nahen Wilhelmshaven unterstützt die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“. „Ich erlebe, dass es eine ganz große Verunsicherung gibt“, sagt sie. Schwarze Jugendliche und besonders ihre Eltern hätten Angst. Einige würden sogar den provisorischen Gedenkort in der Achternstraße meiden, in der Befürchtung, dort auf die Polizei zu treffen. „Viele Kinder und Jugendliche sind getroffen, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Trauer und Wut“, sagt Nyari. Sie bräuchten einen Raum, um die Tötung zu verarbeiten.
Lorenz war in der Stadt bekannt. An vielen Oldenburger Schulen haben sich nun Schüler*innen an ihre Lehrkräfte gewandt, um über die Erschießung ihres Freundes zu reden.
Für Freitag hat die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“ eine Demonstration organisiert, die um 18 Uhr am Pferdemarkt beginnen soll. Die Initiative mahnt, dass die Demonstration, besonders in Rücksicht auf die Familie, friedlich verlaufen soll. Lorenz dürfe auf keinen Fall vergessen werden.
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Transparenzhinweis: Wir haben den Beitrag um ein Äußerungen von Wilma Nyary und der Staatsanwaltschaft sowie um Beobachtungen am Tatort vom Mittwoch ergänzt. Wir haben außerdem korrigiert, dass der Polizist, der die Schüsse abgegeben hat, nicht „suspendiert“ sondern „freigestellt“ ist.
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