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Studie Paritätischer WohlfahrtsverbandWohnst du noch oder verarmst du schon?

Viel mehr Menschen als bisher angenommen sind armutsgefährdet, wenn die Wohnkosten mit berücksichtigt werden. Das hat der Paritätische neu errechnet.

Reicht nicht zum Leben und reicht nicht zum Sterben: Viele Rent­ne­r:in­nen müssen den Cent zweimal umdrehen Foto: imago

Berlin taz | Stellen Sie sich zwei Rent­ne­r*in­nen aus Ostberlin vor. Frau Müller und Frau Schmidt haben lange gearbeitet und haben im Ruhestand jeweils eine Rente von 1.770 Euro im Monat. Beide gelten damit nicht als arm – zumindest nicht nach der konventionellen Armutsberechnungsmethode. Üblicherweise gilt eine Person als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat.

Nur ist es so: Frau Müller hat einen alten Mietvertrag, zahlt eine Warmmiete von 450 Euro und hat somit 1.320 Euro zum Leben. Frau Schmidt musste aber umziehen, weil sie mit zunehmenden Alter auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen war. Für ihre neue und sanierte Zweizimmerwohnung muss sie nun aber 900 Euro warm zahlen. Nach Abzug der Miete bleiben ihr also nur noch 870 Euro – und das ist nicht viel.

Mit diesem fiktiven Modellbeispiel macht der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer neuen Kurzexpertise auf ein alltägliches Problem aufmerksam. Das 28 Seiten lange Papier mit dem Titel „Wohnen macht arm“ wurde am Freitag veröffentlicht und lag der taz vorab vor. Es zeigt mit lebensweltlichen Beispielen auf, dass es einen erheblichen Unterschied macht, wie hoch die Wohnkosten einer Person sind. Sie sind für die meisten Menschen der größte monatliche Ausgabenposten.

Neue Berechnungsmethode

Um „das alltagspraktische Ausmaß der Armut besser zu erfassen“, hat der Paritätische deshalb eine neue Armutsermittlung entwickelt. Hierzu wurden die Einkommen um die Wohnkosten bereinigt und danach eine neue Armutsgrenze ermittelt. Die verwendeten Daten beruhen auf einer Sonderauswertung des Mikrozensus durch das Statistische Bundesamt.

Die Kurzexpertise kommt zu einem erschreckenden Ergebnis: Demnach sind 5,4 Millionen Menschen mehr von Armut betroffen, als bisher angenommen. Insgesamt seien 21,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland, also 17,5 Millionen Menschen, von Wohnarmut betroffen. Das ist jede fünfte Person. In den konventionellen Armutsstatistiken seien diese Menschen „bislang unsichtbar“ geblieben.

Zur Einordnung: Im Jahr 2023 galt laut Statistischem Bundesamt jede siebte Person (14,3 Prozent der Bevölkerung) als armutsgefährdet, was knapp 12 Millionen Menschen entspricht. Für einen Einpersonenhaushalt lag die Armutsgrenze 2023 bei einem Einkommen von 1.314 Euro – mit inbegriffen sind dabei alle Transferleistungen wie zum Beispiel Bürgergeld oder Wohngeld. Nach der neuen Berechnungsmethode gilt eine allein lebende Person als arm, wenn dieser nach Abzug der Wohnkosten weniger als 1.016 Euro im Monat bleiben.

Um nochmals auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Frau Schmidt, die eine barrierefreie Wohnung brauchte, die nach Abzug der Mietkosten nur noch 870 Euro zur Verfügung hatte, würde so als arm gelten.

Die Berücksichtigung von Wohnkosten in der Armutsmessung lege damit „ein bislang nicht gesehenes Ausmaß an Armut offen“, heißt es in der Kurzexpertise. In der Tendenz gel­te: Je niedriger das Einkommen, desto höher seien die relativen Ausgaben für Wohnen.

Da sich Wohnkosten je nach Lage, Stadt oder Land, Ost oder West erheblich unterscheiden, zeigen sich auch regionale Unterschiede. Mit der neuen Rechenmethode sei die Armutsquote besonders hoch in Bremen (29,3 Prozent), Sachsen-Anhalt (28,6 Prozent) und Hamburg (26,8 Prozent). In Baden-Württemberg (18,5 Prozent) und Bayern (16,3 Prozent) sind vergleichsweise weniger Menschen betroffen. Was interessant ist: In Hamburg und Schleswig-Holstein ist der Unterschied zwischen beiden Armutsquoten besonders hoch.

Es trifft viele Rent­ne­r*in­nen

Armutsgefährdet sind laut Bericht insbesondere junge Erwachsene (18 bis unter 25 Jahre) sowie ältere Menschen ab 65 Jahren (27,1 Prozent). Schlüsselt man die Daten nach Haushaltstypen auf, zeigt sich, dass Einpersonenhaushalte und Alleinerziehende in hohem Maße armutsbetroffen sind, Frauen noch stärker als Männer.

Wohnen entwickele „sich mehr und mehr zum Armutstreiber“, erklärte Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Es brauche daher neben guten Löhnen und besserer sozialer Absicherung auch „eine Wohnungspolitik, die Mieten bezahlbar hält“. Die künftige Bundesregierung müsse zudem „neue, dauerhaft sozial gebundene Wohnungen schaffen“.

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8 Kommentare

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  • Jüngere waren schon immer ärmer als Ältere. Ist ja auch logisch, denn die Jüngeren hatten noch nicht so viel Zeit, ein Vermögen zu bilden.



    Wenn die Höhe der Mieten ein Problem ist, ist es erstaunlich, dass ausgerechnet in Bayern und Baden-Württemberg weniger Menschen von Armut durch hohe Mieten betroffen sind. Und ganz merkwürdig ist, dass im Artikel nicht Berlin, sondern Bremen und Hamburg als Städte mit hoher Armutsquote genannt werden. Offensichtlich ist nicht die Miete, sondern ein anderer Faktor viel entscheidender: das Einkommen.



    Wir sollten also dort, wo Armut durch hohe Wohnkosten verstärkt wird, versuchen, die Einkommen zu erhöhen, indem wir entsprechende Arbeitsplätze schaffen und Unternehmen mit hohem Wertschöpfungspotential ansiedeln. Dazu kann es interessant sein, den Strommarkt neu zu regeln, die (sehr preisgünstige) Windenergie bevorzugt dort zu verbrauchen, wo sie erzeugt wird, und diese Regionen nicht mehr durch höhere Netzkosten zu belasten wie in der Vergangenheit.

  • Im Zeit-Format "Anruf an alle" sprechen Leser bei "So leiden sie unter steigenden Mieten", ihren Frust über massiv steigende Mieten auf Band: eine Leserin beklagt, dass in Hamburg kein soziales Wohnen möglich sei. Viele ihrer Nachbarn würden zu viert oder fünft in einer 2-Zimmer-Wohnung wohnen.



    Selbst in sozialen Brennpunkten kaufen Investoren Wohnblöcke auf, renovieren sie und machen sie unbezahlbar.

    Die Hamburger SPD könnte wissen, dass in sehr vielen Hamburger Stadtvierteln die Menschen aufgrund zu hoher Mieten und Inflation massiv sparen müssen, der Nachbarschaftskiosk bemerkt es zuerst.



    Doch die SPD hat längst den Kontakt zu dieser in den Medien unsichtbaren Wählerschicht verloren, die bis in die Mittelschicht ragt.



    Statt die massiv steigende unsichbare Armut (besonders bei Rentnern) durch ein riesiges staatliches Bauprogramm zu bekämpfen, moderiert Kanzler Scholz das Problem weg.

    Die staatliche Hamburger Saga (sehr großer Immobilienkonzern) macht stattdessen einen Millionengewinn mit den in Hamburg massiv gestiegenen Mieten, reicht diese nicht an ihre Mieter zurück. SPD-Politik pur in der Heimat von Bundeskanzler Scholz.

  • Ergebnis einer falschen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, sowie Motivation, eine falsche Wirtschaftspolitik fortzusetzen.

    • @Gerhard Krause:

      Was wäre dann die "richtige" Wirtschaftspolitik?



      Dieselbe Wirtschaftspolitik haben wir schon seit vielen Jahrzehnten. Bisher hat sich - mit oder ohne Habeck als Wirtschaftsminister - noch nichts signifikant geändert. Was den Leuten an Habecks Ideen nicht gefiel, war kaum etwas, was aktuell schon massive Auswirkungen hat, sondern eher die Pläne für die nächsten 10 Jahre, Dinge, die wir jahrzehntelang wider besseres Wissen vor uns hergeschoben haben. Hätten deutsche Autohersteller die Zukunft nicht verschlafen, sähe die Wirtschaft jetzt besser aus. Dort wollte und will das aber niemand wahrhaben. Tesla hat Erfolg, VW nicht. Warum wohl? Dass weniger gebaut wird, war auch in früheren Zeiten immer wieder einmal der Fall. Hohe Baukosten erzeugen unbezahlbare Mieten, also wird nicht mehr gebaut. Echter Wohnungsmangel herrscht auch nicht flächendeckend, sondern hauptsächlich in bestimmten Metropolen.

  • "In der Tendenz gel­te: Je niedriger das Einkommen, desto höher seien die relativen Ausgaben für Wohnen."

    Das ist aber mathematisch begründet und immer und bei allem so. Wenn man 400 Euro für wohnen ausgibt, ist das bei einem Einkommen von 2000 Euro 20 Prozent und bei 4000 Euro zehn Prozent. Wenn ich dann noch die Basis senke, vermindert sich automatisch die Relation. In diesen Beispiel hat die eine Person 50% des Einkommens des anderen. Wenn man die 400 Euro rausrechnet wird das Verhältnis 3600 zu 1600. Damit hat man nur noch 44%.

    Die Rechnung ist daher Augenwischerei, da sie relative und absolute Zahlen vermischt. Neben Wohnen kann man auf Essen nicht verzichten. Wenn wir die Kosten auch abziehen, z.B. ebenfalls 400 kommen wir auf 3200 zu 1200 und damit auf nur noch 37,5%.

    Damit dreht sich die "Armutsdefinition" um. Es kommt dann auf das Geld an, das man zur freien Verfügung hat und ist arm, wenn man weniger als 60% der anderen Menschen zur freien Verfügung hat. Wenn man das Wohnen rausrechnet, muss man auch an diese Definition ran.

    • @Strolch:

      Da haben sie absolut recht. Es macht doch keinen Sinn, den größten Ausgabenposten auf der einen Seite abzuziehen, aber sich immer noch auf das volle Durchschnittsgehalt zu beziehen. Das ist ein so großer Mangel in der Studie und auch im Grundargument, dass dies auch der Taz hätte auffallen müssen. Und wenn man die Miete auch bei dem Basiswert abzieht wäre das Ergebnis der Studie, dass derjenige der viel Miete zahlt weniger Geld hat. Eine große Erkenntnis

    • @Strolch:

      Eine relative Definition halte ich grundsätzlich für nicht geeignet. Wenn alle Menschen verhungern würden, weil sie sich keine Nahrung leisten könnten, hätten aber dasselbe Geld im Monat, dann wären sie immer noch arm.

  • Armutsdefinitionen sind eine komplexe Angelegenheit mit zahlreichen realitätsfernen Annahmen, sie sind meiner Ansicht nach nur bedingt hilfreich um das Ausmaß an Einschränkung/Ausgrenzung wiederzuspiegeln. Ich sehe den aktuellen Begriff der "Armutsgefährdung" vorrangig als politisches Mittel der Verschleierung von Misständen. Er hört sich recht harmlos an, und dann leben wir ja auch im wohlhabenden D, geht denen doch gut, kein Handlungsbedaft...Als Beispiel: Eine 5 köpfige Familie mit 3 Kindern ist laut gängiger Definition armutsgefährdet bei ca. 4000Euro. In einer Stadt mit höheren Mieten liegt dieser Betrag ungefähr gleich auf mit dem Existenzminimum.