Reisen ist überbewertet: Der Selbstbetrug des Reisenden
Reisen erweitert den Horizont und macht uns zu besseren Menschen, heißt es. Das Gegenteil ist wahr. Ein Plädoyer fürs Zuhausebleiben.
W as, würden Sie sagen, ist die inhaltsleerste Aussage, die Menschen gern von sich geben? Aus meiner Sicht ist es „ich reise gern“. Man erfährt dadurch wirklich nichts über jemanden, weil schließlich fast jeder gern reist, und trotzdem sagen Leute das so, weil sie aus irgendeinem Grund sowohl stolz darauf sind, auf Reisen gewesen zu sein, als auch auf den Umstand, dass sie sich auf ihre nächste Reise freuen.
Es gibt ein paar wenige Reise-Gegner, und die beziehen klar Position. Der britische Schriftsteller und Journalist G.K. Chesterton schrieb etwa, dass Reisen den Verstand verenge. Für den Philosophen Ralph Waldo Emerson war Reisen das „Paradies des Narren“. Sokrates und Immanuel Kant – die zwei größten Philosophen aller Zeiten – stimmten mit den Füßen ab, indem sie ihre Heimatstädte Athen und Königsberg kaum verließen. Aber der größte Reise-Hasser aller Zeiten war der portugiesische Autor Fernando Pessoa, dessen wundervolles Werk „Das Buch der Unruhe“ nur so trieft vor Empörung:
Ich verabscheue neue Lebensweisen und unbekannte Orte (…) Der Gedanke ans Reisen bereitet mir Übelkeit (…) Reisen ist was für Gefühllose (…) Nur ein extrem ärmliches Vorstellungsvermögen rechtfertigt es, sich bewegen zu müssen, um etwas zu spüren.
Wenn Sie nun den Drang verspüren, solche Positionen als nonkonformistisches Gehabe abzutun, versuchen Sie mal nicht an sich selbst und ihre eigenen Reisen zu denken, sondern an die Reisen der anderen. Zu Hause und auch im Ausland neigen wir dazu, „touristische“ Aktivitäten zu meiden. „Tourismus“ nennen wir das Reisen, wenn die anderen es tun. Und obwohl die meisten Leute sehr gern von ihren Reisen erzählen, hören nur sehr wenige von uns ihnen wirklich gern dabei zu. Denn solches Gerede ähnelt in gewisser Weise akademischen Texten und nacherzählten Träumen: Es ist eine Kommunikationsform, die mehr von den Bedürfnissen der Erzählerin getrieben ist als von denen des Publikums.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ein gängiges Argument für das Reisen lautet, dass es uns in eine Art erleuchteten Zustand hebt, dass es uns bildet und Dinge über die Welt lehrt und uns mit ihren Bewohnern verbindet. Selbst der britische Gelehrte Samuel Johnson, ein Reiseskeptiker, der mal sagte: „Was ich von meinem Aufenthalt in Frankreich gelernt habe, ist, zufriedener mit meinem eigenen Land zu sein“, räumte ein, dass Reisen durchaus einen gewissen Wert habe. Seinem geliebten Freund, dem schottischen Schriftsteller James Boswell, empfahl Johnson eine Reise nach China, zum Wohl von dessen Kindern: „Es würde ein Glanz auf sie geworfen werden (…) Man wird sie für alle Zeit als die Kinder eines Mannes betrachten, der ausgezogen ist, um die Große Mauer Chinas zu sehen.“
Reisen wird also als Errungenschaft verkauft: interessante Orte sehen, interessante Erfahrungen machen, eine interessante Person werden. Aber ist das wirklich so?
Pessoa, Emerson und Chesterton waren überzeugt, dass das Reisen uns nicht der Menschheit näherbringt, sondern uns eigentlich von ihr trennt. Reisen macht uns zu schlechten Menschen, während wir uns vorgaukeln, wir würden dadurch bessere. Den Selbstbetrug des Reisenden könnte man das nennen.
Aber schauen wir uns die Sache mal genauer an. Was meinen wir mit „reisen“ eigentlich genau? Sokrates reiste ins Ausland, als er eingezogen wurde, um im Peloponnesischen Krieg zu kämpfen – aber ein Reisender war er dadurch nicht. Emerson macht außerdem deutlich, dass er niemanden für eine Reise kritisiert, wenn „Notwendigkeiten“ oder „Verpflichtungen“ danach verlangen, und er hat auch nichts dagegen einzuwenden, „zum Zweck der Künste, des Studiums und der Wohltätigkeit“ große Entfernungen zurückzulegen.
Temporäre Freizeit
Ein Zeichen dafür, dass man einen guten Grund hat, irgendwo zu sein, ist, dass man nichts zu beweisen hat. Folglich verspürt man auch keinen Drang, Souvenirs zu kaufen, Fotos zu machen und Geschichten zu sammeln, mit denen sich das Erlebte später belegen lässt. Definieren wir „Tourismus“ also als die Art des Reisens, die auf die Entdeckung des Interessanten aus ist – die aber, wenn Emerson und die anderen recht haben, ihr Ziel verfehlt.
„Ein Tourist ist eine Person in temporärer Freizeit, die freiwillig einen Ort außerhalb der Heimat aufsucht, um Veränderung zu erleben.“ Diese Definition stammt aus „Hosts and Guests“, einem wissenschaftlichen Klassiker zur Anthropologie des Tourismus. Der hintere Teil des Satzes ist dabei entscheidend: Touristisches Reisen dient der Veränderung. Aber wer oder was genau wird eigentlich verändert?
Tourist*innen schauen, Gastgebende schauen zurück
Im letzten Kapitel desselben Buches findet sich eine ziemlich aufschlussreiche Beobachtung: „Es ist weniger wahrscheinlich, dass Touristen etwas von ihren Gastgebern mitnehmen als andersherum, sie lösen somit eine Kette von Veränderungen in der Gastgebergesellschaft aus.“ Das bedeutet: Wir ziehen los, um mal was anderes zu erleben, aber sorgen damit vor allem dafür, dass sich für andere etwas verändert.
Als ich vor zehn Jahren in Abu Dhabi war, buchte ich eine geführte Tour in einem Krankenhaus für Falken. Ich habe mich mit einem Falken auf dem Arm fotografieren lassen. Dabei interessiere ich mich überhaupt nicht für Falknerei oder Falken an sich, und sowieso habe ich eine generelle Abneigung gegen Begegnungen mit nichtmenschlichen Lebewesen. Aber das Falken-Krankenhaus war eine Antwort auf die Frage: „Was macht man in Abu Dhabi?“ Also ging ich hin. Vermutlich war es schon immer so und wird immer so bleiben: Alles am Falken-Krankenhaus, seine Gestaltung, sein Leitbild, wird geformt durch die Besuche von Leuten wie mir – die unveränderten Veränderer, die Touris. (Ich erinnere mich, dass an der Wand im Foyer lauter Auszeichnungen und Tourismus-Preise hingen. In einer Tierklinik, wohlgemerkt).
Nun kann man fragen: Warum sollte das alles schlecht sein? Warum sollte ein Ort darunter leiden, dass er von Menschen geformt wird, die freiwillig dort hinreisen, um ihrem Alltag zu entfliehen und etwas anderes zu erleben? Die Antwort lautet, dass jene Menschen in der Regel nicht nur keine Ahnung haben, was sie da eigentlich tun – sie sind auch nicht gewillt, es zu lernen.
Ein Programm abhaken
Nehmen wir mich. Es wäre eine Sache, wenn jemand eine so große Leidenschaft für die Falknerei hat, dass er bereit ist, deshalb nach Abu Dhabi zu fliegen. Oder, wenn man mit der Absicht und in der Hoffnung verreist, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. Beides traf auf mich nicht zu. Als ich die Klinik betrat, wusste ich, dass mein Leben nach Abu Dhabi genauso viel Falknerei beinhalten würde wie mein Leben vor Abu Dhabi – nämlich null. Wenn man sich etwas ansieht, das man weder wertschätzt noch vor hat, es wertschätzen zu lernen, tut man doch eigentlich nicht viel mehr, als den eigenen Körper von A nach B zu bewegen.
Tourismus ist im Wesentlichen Fortbewegung. Das zeigt sich auch in der Sprache, im Englischen wird das besonders deutlich. „I went to France.“ Okay, aber was hast du da gemacht? „I went to the Louvre.“ Okay, aber was hast du da gemacht? „I went to see the 'Mona Lisa’.“ Viele Leute schauen sich die Mona Lisa übrigens nur fünfzehn Sekunden lang an. Fortbewegung eben.
Touristen zeichnet außerdem aus, dass sie an einem Ort einerseits das tun wollen, was sie tun sollen, und zugleich auf jeden Fall vermeiden wollen, das zu tun, was vorgegeben ist. Genau deshalb habe ich bei meiner ersten Reise nach Paris nicht die Mona Lisa besucht, ich bin nicht mal in den Louvre gegangen. Aber natürlich war ich trotzdem in Bewegung. Ich bin von einem Ende der Stadt zum anderen gelaufen, wieder und wieder, in einer geraden Linie. Hätte man meine zurückgelegten Wege auf einer Karte verzeichnet, hätten sie sich zu einem riesigen Stern verbunden.
In den vielen Städten, in denen ich tatsächlich gelebt und gearbeitet habe, hätte ich das niemals getan. Niemals wäre ich dort tagelang einfach so durch die Gegend gelaufen. Aber auf Reisen werfen wir unsere Standards über Bord und ersetzen sie durch etwas, das wir für wertvoll genutzte Zeit halten. Wir entsagen für die Zeit der Reise auch unserem Geschmack, weil wir uns nicht dadurch einschränken wollen, welches Essen wir gern essen, welche Kunst wir mögen oder womit wir am liebsten unsere Freizeit verbringen. Es geht beim Reisen ja schließlich darum, aus dem alltäglichen Trott auszubrechen. Aber was wird jemand mit Gemälden anfangen, der grundsätzlich ungern in Museen geht, aber es im Urlaub dann doch tut, einfach um der Veränderung willen? Da kann man sich genauso gut in einen Raum voller Falken setzen.
Tourismus hat einen selbstzerstörerischen Charakter. Um diese These besser zu verstehen, hilft ein Blick auf zwei Beispiele aus dem Essay „The Loss of Creature“ des Schriftstellers Walker Percy.
Beispiel 1: Ein Tourist erreicht den Grand Canyon. Schon vor seiner Reise entstand ein Bild des Canyons in seiner Vorstellung. Der Tourist ist erfreut, wenn der Canyon den Fotos und Postkartenmotiven ähnelt, die er vorab gesehen hat; vielleicht beschreibt er seinen Ausblick sogar als „genauso schön wie eine Postkarte!“. Sind die Lichtverhältnisse jedoch anders und entsprechen die Farben und Schattierungen zum Zeitpunkt seines Besuchs nicht seiner Erwartung, fühlt er sich betrogen: Er ist an einem schlechten Tag angereist. Der Tourist ist außerstande, den Canyon so zu sehen, wie er in der Realität vor ihm liegt, und zugleich ist er dazu gezwungen, ständig zu beurteilen, ob die Realität mit den Postkartenbildern seiner Vorstellung übereinstimmt. In dieser Situation kann er „einfach gelangweilt sein; oder er ist sich der Schwierigkeit bewusst, dass ihm dieses große Ding, das da vor seinen Füßen liegt, schlicht entgeht“.
Unzufrieden mit Sehenswürdigkeiten
Beispiel 2: Ein Paar aus Iowa fährt durch Mexiko. Die beiden haben Spaß auf ihrer Reise, aber sind ein bisschen unzufrieden mit den offiziellen, gängigen Sehenswürdigkeiten. Sie verirren sich, fahren stundenlang auf einer steinigen Straße durch die Berge, bis sie irgendwann „in einem winzigen Tal, das nicht einmal auf der Karte verzeichnet ist“, ein Dorf erreichen, wo gerade ein religiöses Fest stattfindet. Als sie den Dorfbewohnern beim Tanzen zusehen, haben die Touristen endlich „ein authentisches Erlebnis, charmant, kurios, pittoresk, unberührt“. Trotzdem scheint noch immer etwas zu fehlen. Zu Hause in Iowa schwärmen sie ihrem Freund, einem Ethnologen, von dem Erlebnis vor: Du hättest dabeisein müssen! Du musst mit uns dorthin zurückfahren! Als der Ethnologe dann tatsächlich mit ihnen das mexikanische Dorf besucht, „beobachtet das Paar nicht, was dort vor sich geht, sondern den Ethnologen! Ihre größte Hoffnung ist, dass ihr Freund den Tanz interessant findet“. Sie brauchen ihn, um ihnen „die Authentizität ihrer eigenen Erfahrung zu bescheinigen“.
Der Tourist ist durchaus eine ehrfürchtige Figur. Die Rechtfertigung seiner Erfahrungen überlässt er Ethnologen, Postkarten und konventionellen Weisheiten darüber, was man an einem Ort tun oder lassen sollte. Diese Ehrerbietung, diese „Offenheit für Erfahrungen“, ist aber genau das, was den Touristen unfähig werden lässt, wirkliche Erfahrungen zu machen. Emerson beichtete: „Ich suche den Vatikan und die Paläste auf. Ich gebe vor, von den Sehenswürdigkeiten berauscht zu sein, aber ich bin nicht wirklich berauscht.“ Das ist in etwa die Erfahrung jedes Touristen, der schon mal vor einem Denkmal, einem Gemälde oder auch einem Falken stand und von sich selbst verlangt hat, nun gefälligst was zu fühlen. Emerson und Percy helfen uns zu verstehen, warum das eine ziemlich unvernünftige Forderung ist. Denn Tourist zu sein bedeutet, dass man bereits entschieden hat, dass die eigenen Gefühle nicht zählen. Ob eine Erfahrung wirklich authentisch für X ist, das kann man als Kurzzeitbesucherin und nicht-Xler gar nicht beurteilen.
Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem touristischen Impuls, die große Fülle und Vielfalt der Menschheit ehren zu wollen. Während Percy und Emerson sich mit Ästhetik beschäftigen und uns zeigen, wie schwer es für Reisende ist, genau die sensorischen Erlebnisse zu finden, nach denen sie suchen, interessieren sich Pessoa und Chesterton für die Ethik des Reisens. Sie untersuchen, warum Reisende nicht wirklich imstande sind, eine Verbindung zu anderen Menschen aufzubauen. Auch dafür ist mein eigenes Reiseverhalten ein gutes Beispiel. Während meiner Spaziergänge durch Paris starrte ich Leute an, ich musterte ihre Kleidung, ihr Gebaren, wie sie miteinander interagierten. Ich war sehr bemüht, das Französische in den Franzosen um mich herum zu erkennen. So macht man sich aber keine Freunde.
Das Reiseglück des Laufburschen
Der Portugiese Pessoa sagte, er kenne nur einen einzigen „echten Reisenden mit Seele“: einen Laufburschen, der fanatisch Broschüren sammelte, Karten aus Zeitungen riss und die Fahrpläne von Zügen zu weit entfernten Zielen auswendig lernte. Dieser Junge kannte Segelrouten auf der ganzen Welt, aber hatte Lissabon noch nie verlassen.
Auch Chesterton war von solchen „ruhenden Reisenden“ angetan. Er schrieb, es gebe „etwas Rührendes und sogar Tragisches“ an „dem gedankenlosen Touristen, der zu Hause in Hampstead oder Surbiton geblieben wäre, Lappländer liebend, Chinesen umarmend und Patagonier an sein Herz drückend, wenn er nicht den blinden und selbstmörderischen Drang gehabt hätte, loszuziehen und zu sehen, wie all diese Leute aussehen“. Das Problem waren nicht die anderen Orte oder der Mann, der sie sehen wollte. Das Problem war die entmenschlichende Wirkung des Reisens, die ihn unter Menschen drängte, zu denen er ausschließlich eine Beziehung als Zuschauer aufbauen kann.
Chesterton glaubte, dass die Liebe zu dem, was weit weg ist, auf die richtige Art und Weise – nämlich aus der Ferne – eine universellere Verbindung ermöglicht. Wenn der Mann in Hampstead an die Fremden „abstrakt dachte (…) als diejenigen, die arbeiten und ihre Kinder lieben und sterben, dann dachte er die grundlegende Wahrheit über sie“. „Die menschliche Verbundenheit, die er zu Hause spürt, ist keine Illusion“, schrieb Chesterton. „Es ist vielmehr eine innere Realität.“ Das Reisen hingegen hindert uns daran, die Gegenwart derer zu spüren, für die wir so große Entfernungen zurückgelegt haben, um ihnen nahe zu sein.
Der entscheidendste Fakt über Tourismus ist dieser: Wir wissen schon, wie wir sein werden, wenn wir wieder zu Hause sind. Ein Urlaub ist nicht dasselbe, wie in ein fremdes Land zu immigrieren, sich an einer Uni einzuschreiben oder sich zu verlieben. In diesen Fällen brechen wir mit der vorsichtigen Angst eines Menschen auf, der nicht weiß, wer er sein wird, wenn er auf der anderen Seite des Tunnels wieder rauskommt. Eine Reisende hingegen macht sich mit der Gewissheit auf den Weg, dass sie mit denselben grundlegenden Interessen, politischen Überzeugungen und Lebensumständen zurückkehren wird. Reisen ist ein Bumerang. Es lässt uns genau dort zurück, wo wir angefangen haben.
Selbsttäuschung enttarnen ist schwierig
Wenn Sie jetzt denken, das alles träfe auf Sie nicht zu – weil Ihre eigenen Reisen magisch und tiefgründig sind, weil sie Ihre Werte stärken, Ihren Horizont erweitern, Sie zu einem echten Weltbürger machen und so weiter – bedenken Sie, dass dieses Phänomen nicht aus erster Hand beurteilt werden kann. Pessoa, Chesterton, Percy und Emerson betonten alle, dass Reisende sich stets selbst versichern, sie hätten sich durch die Reise verändert. Aber man kann sich nicht auf Selbstprüfung verlassen, wenn man eine Täuschung aufdecken will.
Überlegen Sie stattdessen doch mal, ob Sie Freunde haben, die bald in ein Sommerabenteuer aufbrechen werden. In welchem Zustand werden Sie sie vorfinden, wenn sie zurückkommen? Diese Freunde mögen von ihrer Reise sprechen, als wäre sie eine transformative „einmalige“ Erfahrung gewesen. Aber werden Sie einen Unterschied in ihrem Verhalten, ihren Überzeugungen, ihrem moralischen Kompass feststellen können? Wird es überhaupt irgendeinen Unterschied geben?
Reisen macht Spaß, ohne Frage. Deshalb ist es überhaupt nicht verwunderlich, dass wir Gefallen daran finden. Rätselhaft ist, warum wir der Reise so eine große Bedeutung, eine Aura der Tugendhaftigkeit verleihen müssen. Wenn ein Urlaub lediglich das Streben nach unveränderlicher Veränderung ist, eine Umarmung des Nichts, warum sollte man dann darauf bestehen, dass er etwas bedeutet?
Man muss zu dem Schluss kommen, dass es vielleicht gar nicht so einfach ist, nichts zu tun – und das legt eine Lösung des Rätsels nahe. Stellen Sie sich mal vor, wie Ihr Leben aussähe, wenn Sie heute erfahren würden, dass Sie nie wieder verreisen werden. Wenn nicht gerade eine große Veränderung in Ihrem Leben ansteht, ist die Aussicht erschreckend: immer mehr von der Gegenwart, vom Alltag, vom Jetzt. Nur noch das hier, jeden Tag, und dann sterben.
Das Reisen teilt diese Zeitspanne in einen Teil, der vor der Reise liegt, und in einen Teil, der nach der Reise liegt, wodurch die Unausweichlichkeit der eigenen Vernichtung verdeckt wird. Und zwar tut es das auf die klügste Art und Weise: indem es Ihnen einen Vorgeschmack gibt.
Niemand denkt gerne darüber nach, dass er eines Tages nichts mehr tun und niemand mehr sein wird. Wir erlauben uns nur an das Ende zu denken, wenn wir es in eine Erzählung darüber verpacken können, wie wir auf dem Weg dahin viele aufregende und erbauliche Dinge tun. Wir machen Erfahrungen, wir knüpfen Kontakte, wir werden verwandelt. Und wir haben den Krempel, die Mitbringsel und die Fotos, die das beweisen.
Sokrates sagte einst, Philosophie sei eine Vorbereitung auf den Tod. Für alle anderen gibt es das Reisen.
Dieser Text erschien erstmals am 24. Juni 2023 im New Yorker. Übersetzung aus dem Englischen: Lin Hierse.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein