Privilegien für Corona-Geimpfte: Virulente Neiddebatte
Die Diskussion über vermeintliche Privilegien für Corona-Geimpfte ist absurd. Denn eine Besserstellung wäre nur temporär und für die Gesellschaft sinnvoll.
D as vorweg: Ich stehe in der Impfliste an letzter Stelle: weit unter 80, keine Vorerkrankungen, nicht im medizinischen Bereich tätig. Trotzdem kann ich am Vorschlag von Außenminister Heiko Maas, Geimpften rasch mehr Freiheiten einzuräumen, nichts Verwerfliches erkennen.
Mit welchem nachvollziehbaren Argument will man Geimpften in Alten- und Pflegeheimen verbieten, zum normalen Umgang miteinander zurückzukehren, davon ausgehend, dass sie das Virus nicht weitertragen? Wie will man begründen, dass die geimpfte Ehefrau ihren geimpften Ehemann dort nicht wie in normalen Zeiten besuchen kann? Was ist falsch daran, geimpftes medizinisches Personal so arbeiten zu lassen, wie das vor der Pandemie der Fall war?
Was spricht dagegen, auch geimpften Polizist:innen, Feuerwehrleuten, Kassierer:innen, die das Leben am Laufen halten und die mit vielen Menschen Kontakt haben, nach einem harten Dienst die Chance zu geben, angstfrei mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu kommen? Und was dagegen, Gastronom:innen und Friseur:innen – wenn sie denn irgendwann an der Reihe waren – ihre Restaurants und Geschäfte wieder öffnen zu lassen?
Oder anders gesagt: Nur weil nicht alle Menschen sofort geimpft werden können, sollen alle bereits Geimpften mit ihrer „neuen Freiheit“ warten, bis die Republik durchgeimpft ist? Absurd. Das spaltet die Republik sicher stärker, als sie durch eingeforderte Solidarität mit Ungeimpften geeint wird.
Ein Argument der „Privilegiengegner*innen“ ist übrigens die Zweiklassengesellschaft, die durch frühere Freiheiten für Geimpfte eingeführt würde. Mit Verlaub, das ist realitätsfern und eine neue virulente Neiddebatte. Unsere Gesellschaft ist bereits eine Zweiklassengesellschaft, eine soziale, und das – zumindest aller Voraussicht nach – noch sehr lange. Natürlich darf diese Ungerechtigkeit durch „Impfprivilegien“ keinesfalls verstärkt werden. Bei „Privilegien“ für Geimpfte handelt es sich aber um eine temporäre „Besserstellung“. Die die „Kritiker:innen“ vermutlich auch rasch in Anspruch nehmen dürften, sobald sie selbst geimpft sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?