Impfungen gegen Corona: Die Vergessenen
Das Gesundheitsministerium betont, dass verletzliche Gruppen priorisiert werden. Doch für pflegebedürftige junge Menschen gilt das offenbar nicht.
„Ich warte jetzt auf den Impfstoff, das ist die große Hoffnung.“ So hatte es Richard Bauer der taz im August gesagt. Bauer lebt in Berlin mit Muskeldystrophie Duchenne, einer seltenen Erkrankung, die auch das Immunsystem schwächt. Eine Infektion mit dem Coronavirus ist für ihn sehr viel gefährlicher als für den Bevölkerungsdurchschnitt.
„Ziemlich sicher mein Tod“, sagt der 30-Jährige. Nach der aktuell gültigen Impfverordnung wird Bauer aber nicht bevorzugt geimpft. Viele jüngere Menschen, die wie er mit Pflegebedarf im eigenen Zuhause leben, kommen in der Impfverordnung schlicht gar nicht vor.
Menschen mit Behinderung in ganz Deutschland protestieren inzwischen dagegen, eine Petition hat bereits rund 45.000 Unterschriften gesammelt. „Offenbar denkt unser Gesundheitsminister, dass alle behinderten Menschen im Heim leben“, sagt Alexander Ahrens, Geschäftsführer der Behindertenselbstvertretung „Initiative selbstbestimmt leben“ (ISL). Nur dann haben sie eine generelle Chance auf eine priorisierte Impfung.
Über die Frage, wer bei den Impfungen zuerst drankommt, wird seit Inkrafttreten der Impfverordnung Mitte Dezember heftig diskutiert. Sollten Hausärzt*innen nicht früher dabei sein oder Lehrer*innen und Erzieher*innen? „Wir impfen zuerst die besonders Gefährdeten“ – wird sowohl die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut als auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht müde zu betonen.
Zahlen
Nach dem Impfstart am 27. Dezember 2020 konnten in Deutschland bislang 961.682 Menschen gegen das Sars-CoV-2-Virus geimpft werden (Stand 15. 1. 2021). Zuletzt kamen jeweils über 90.000 Impfungen pro Tag hinzu.Bei rund der Hälfte der bisher Geimpften handelt es sich um medizinisches und Pflegepersonal, ein Drittel sind Pflegeheimbewohner*innen.
Zeiten
Laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dauert die Impfung der ersten Priosierungsgruppe (Pflegeheim-bewohner*innen, medizinisches- und Pflegepersonal mit hohem Expositionsrisiko, Menschen ab 80 Jahren) bis März. Die Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums sieht zwei weitere Priosierungsgruppen vor, bevor alle anderen ein Impfangebot bekommen. Je nach Zulassung weiterer Impfstoffe werde dies frühestens im Sommer sein.
Deshalb sind in der Impfverordnung, die auf den Empfehlungen der Stiko basiert, Bewohner*innen und Personal von Pflegeheimen priorisiert. Außerdem medizinisches Personal, das dem Virus besonders ausgesetzt ist, und Menschen über 80, weil in dieser Gruppe die Sterblichkeit deutlich erhöht ist.
Später folgen Menschen mit bestimmten Behinderungen, insbesondere Trisomie 21, sowie mit bestimmten Vorerkrankungen. Schließlich werden auch Personen in „besonders relevanten Positionen“, etwa aus Politik und Polizei, sowie Verkäufer*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen, prekär lebende oder arbeitende Menschen berücksichtigt.
Richard Bauer und viele andere sind da nicht mitgedacht. „Wir sind die Letzten, die geimpft werden sollen“, sagt Bauer. Für ihn würde das bedeuten: Noch einmal mindestens ein halbes Jahr Bangen. Es sind nicht nur seine Muskelerkrankung, die dauerhafte Beatmung und das geschwächte Immunsystem, die ihn besonders gefährden. Er lebt mit insgesamt 12 wechselnden Assistenten, die ihn rund um die Uhr begleiten und versorgen. „Ich kann mich gar nicht isolieren“, sagt Bauer.
Bei einer Gesprächsrunde, die das Gesundheitsministerium vor einer Woche einberief, konkretisierte Thomas Mertens, Leiter der Stiko, noch einmal die Impfpriorisierungen: Zunächst kämen all jene mit einem hohen Risiko einer schweren Erkrankung mit Todesfolge dran.
„Bei der Triage hat man uns jedenfalls mitgedacht“
Aber warum tauchen dann Menschen wie Richard Bauer nicht in den priorisierten Gruppen auf? Die Stiko, erklärt Mertens, mache ihre Empfehlungen vor allem auf der Basis von Evidenzen. Das heißt: Datengrundlage sind die Studien der letzten Monate, die beleuchten, wer ein besonders hohes Risiko eines schweren Verlaufs von Covid-19 hat. Da tauchen Menschen mit Volkskrankheiten wie Diabetes und Adipositas als gefährdete Gruppen auf. Nicht aber Menschen mit seltenen Erkrankungen – weil sie jeweils schlicht zu wenige sind.
Und dann, so Mertens in besagter Rederunde, folgen die Priorisierungen eben auch dem Nutzenprinzip: Wen müssen wir jetzt impfen, um die Krankenhäuser zu entlasten? Diese gesamtgesellschaftliche Betrachtung stehe im Zweifel über dem Schutz des Individuums.
Deshalb wird ein Mensch mit Behinderung und/oder Pflegebedarf, der in einem Heim lebt, priorisiert geimpft – weil ein Corona-Ausbruch hier schnell ein ganzes Krankenhaus lahmlegt. Wenn aber Mertens sagt, dass auch Ethik und Gerechtigkeit in die Impfpriorisierungen einfließen, bleibt immer noch die Frage: Wurden Menschen wie Richard Bauer schlicht vergessen?
„Bei der Triage hat man uns jedenfalls mitgedacht“, sagt Jenny Bießmann vom Beratungsverein akse e. V. Wenn sich die Lage so zuspitzt, dass zu viele Kranke auf zu wenig Behandlungsplätze in den Kliniken treffen, dann müssen Ärzt*innen Triage-Entscheidungen fällen. Darauf bereitet man sich in Deutschland schon seit dem letzten Frühjahr vor.
Auch hierfür gibt es Empfehlungen, diesmal von acht medizinischen Fachgesellschaften. Behandelt werden sollen demnach im Zweifel die, die eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Die Kriterien, nach denen dies beurteilt werden soll, diskriminieren behinderte und pflegebedürftige Menschen, sagen Behindertenselbstvertretungen wie die ISL oder Ability Watch.
Genau die Personen also, die bei der Triage im Zweifel eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit zugesprochen bekommen, werden bei den Impfungen nicht als besonders gefährdet betrachtet. „Das ist eine Ohrfeige für diese Menschen“, sagt Jenny Bießmann, die selbst mit 24-Stunden-Assistenz in Berlin lebt und deren Verein Menschen mit Assistenzbedarf berät.
„Dabei hätte man einfach Menschen mit hohem Pflegebedarf in die priorisierten Gruppen aufnehmen können, das wäre logisch und gar nicht kompliziert gewesen.“ Jeden Tag riefen Betroffene bei akse e.V. an und fragten nach der Impfung, so Bießmann. „Die können gar nicht fassen, dass sie jetzt nicht bald geimpft werden.“
Wie dramatisch die Situation im Zweifel werden kann, zeigt die Erzählung von Harry Hieb. Auch der Physiker aus Baden-Württemberg lebt mit einer seltenen Muskelerkrankung. Auch er wird von wechselnden Assistenten rund um die Uhr zu Hause betreut. Um Weihnachten herum war einer von ihnen stark erkältet, einen Ersatz für den Assistenten gab es nicht. „Ich musste ihn kommen lassen, ich hatte keine Wahl“, sagt Hieb.
Es waren schlimme Tage voller Angst, die er nicht noch einmal erleben wolle. Deshalb hatte sich Hieb bei seinem Arzt ein Attest geholt und sich online zur Impfung angemeldet. Vergangenen Freitag war der Termin. „Sie haben mich weggeschickt“, sagt Harry Hieb. Er musste damit rechnen. Er ist für die Impfung nicht vorgesehen.
Es sind nicht nur die besonders Gefährdeten selbst, denen das so geht. Anders als in Heimen oder bei Pflegediensten angestellte Pflegekräfte sind auch die Assistent*innen, die Menschen wie Harry Hieb, Jenny Bießmann oder Richard Bauer betreuen, in der Impfverordnung nicht erwähnt. Ganz so, als wäre dieses Modell, mit dem Menschen mit Behinderung und hohem Pflegebedarf selbstbestimmt zu Hause leben können, in den Köpfen der Politiker*innen nicht angekommen.
Jenny Bießmann hat schon überlegt, ihre Assistentinnen kurz vor Feierabend zu einem Impfzentrum zu schicken. Wenn dann noch Impfdosen vom Tag übrig sind, die sonst entsorgt würden, gäbe es vielleicht die Chance auf eine Impfung. Aber das wäre Glücksspiel und keine Lösung, ist außerdem kaum praktikabel. Selbst nicht geimpft, Assistentinnen nicht geimpft: „So bleibt mir nur die Angst“, sagt Bießmann.
Bald werden 50.000 Menschen die Petition unterschrieben haben, die die Politik und die Stiko auffordert, alle Menschen der Hochrisikogruppen in die Impfgruppe 1 oder 2 aufzunehmen – unabhängig von dem Ort, an dem sie Pflegeleistungen erhalten.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Und tatsächlich hat die Stiko inzwischen nachgebessert und in ihrer aktualisierten Empfehlung einen Hinweis eingefügt: Auch Personen, die zum Beispiel aufgrund einer seltenen Erkrankung besonders gefährdet sind, aber nicht explizit genannt werden, könnten nach Ermessen der Verantwortlichen in die jeweilige Priorisierungskategorie eingeordnet werden.
In Rheinland-Pfalz war zuvor bereits auf Druck einer betroffenen Familie hin eine Einzelfallentscheidung in diesem Sinne gefallen. Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf Nachfrage nun selbst auf die aktualisierte Empfehlung der Stiko. Die Frage, ob und wann auch die Impfverordnung entsprechend geändert werden soll, lässt es dagegen unbeantwortet. Die Bundesländer könnten in der Umsetzung der Impfverordnung aber „praktische Erwägungen“ berücksichtigen, so eine Sprecherin.
Im Frühjahr war die Lage noch eine andere, erzählt Richard Bauer. Es sei ja eine absolute Seltenheit gewesen, jemanden zu kennen, der sich mit dem Coronavirus infiziert hatte. Aber jetzt werden es immer mehr, auch in seinem Umfeld. „Die Einschläge kommen immer näher“, sagt er. Und fügt hinzu: „Die Rettungsleine ist da. Ich sehe sie vor mir. Aber ich komme nicht ran.“
Leser*innenkommentare
tanzt fliegt sammelt
Gerne möchte ich die Telefonnummern von Herrn Bauer und von dem zuständigen Impfzentrum für seinen Wohnort. Ich werde seinen Wunsch in die Realität umsetzten!
09139 (Profil gelöscht)
Gast
Unglaublich!
Danke für den Artikel und ich hoffe es unterschreiben sehr viele Menschen und die Sache wird geändert, sodass diese Menschen sofort geimpft werden.
Streberin
Hier steht, wie eine Krebspatientin in Hamburg bei Gericht eine frühere Impfung als vorgesehen erstritten hat:
www.spiegel.de/pan...-a411-dada508822ae.
Nachmachen?
27871 (Profil gelöscht)
Gast
Man wird es nie allen recht machen können, hier hat man sich an die Empfehlungen der Stiko gehalten. Möchte jemand ernsthaft deren Kompetenz in Zweifel ziehen? Dass muss man auch mal hinnnehmen, ohne Klientelpolitik zu betreiben.
Peterbausv
@27871 (Profil gelöscht) Es geht wohl eher darum, das auch da Fehler passieren können.
Ohne böse Absicht.
ulf hansen
Eigentlich hat jeder das Recht zuerst geimpft zuwerden,da jeder gefährdet ist.
Frauen und Kinder zuerst oder Alte und Kranke zuerst, oder ,oder oder.........
Am Ende denk jeder an sich selbst.
me, myself and I
Ich halte das für einen himmelschreienden Skandal, zumal multimorbide hoch-/ höchstbetagte Patienten, selbst wenn schon palliativ betreut, noch geimpft werden und mindestens 10 Menschen aus dieser Gruppe innerhalb von vier Tagen.nach der Impfung verstorben sind.
Zu Beginn der Impfungen wurden die möglichen sechsten Impfdosen, die man aus den Fläschchen ziehen kann, hirnlos verworfen, obwohl BioNtech im Zulassungsantrag auf diese Möglichkeit explizit hingewiesen hatte und die sechsten Dosen, zumindest in den USA, auch verimpft wurden. Wie viele der vergessenen jungen Behinderten wie Richard Bauer hätten damit schon geimpft werden können?
Und jetzt unterschreibe ich die Petition.
27871 (Profil gelöscht)
Gast
@me, myself and I Ich halte es für einen himmelschreienden Skandal, multimorbide hoch-/ höchstbetagte Patienten, auch wenn schon palliativ betreut, die Impfung verwehren zu wollen.
Auch die haben eine Würde, und auch die ist unantatbar. Schließlich wurden sie zur Impfung nicht gezwungen, sondern haben sich dafür entschieden.
Parabel
Ich kann verstehen, dass es unmöglich ist, jeden besonderen Fall aufzuzählen, aber so viel Ermessensspielraum muss doch den Leuten vor Ort gegeben werden, dass sie wirklich eindeutige Fälle, wie die im Artikel genannten, mitimpfen. Man ist ja auch so pragmatisch, in den Pflegeheimen Leute unter 80 zu impfen.
PS007
Diese Menschen läßt man einfach links liegen. Und für das Pflegepersonal wird über einen Impfzwang nachgedacht...
snowgoose
Ich kann es kaum glauben, da muss doch was zu machen sein.