Pandemie-Management in Deutschland: AstraZeneca ist nicht das Problem

Der Ruf nach dem Rücktritt von Gesundheitsminister Spahn ist berechtigt. Der Stopp für Impfungen mit AstraZeneca ist ihm jedoch nicht anzulasten.

Passanten in einer Einkaufsstrasse im Gegenlicht

Passanten in Leipzig freuen sich über die ersten geöffneten Geschäfte in der Innenstadt Foto: Hendrik Schmidt/dpa

Die Aufregung über den Stopp für Impfungen mit AstraZeneca ist groß. Und er ist verständlich. Zehntausende hielten endlich ihre Einladung mit dem baldigen Impftermin in den Händen. Nun werden sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet. Schlimmer noch: Die ohnehin pannenreiche Impfkampagne in Deutschland und Europa dürfte auf absehbare Zeit noch mehr ins Stocken geraten – während in Israel, Großbritannien und womöglich auch in den USA schon bald wieder Normalität einkehrt.

Schon wird erneut die Forderung nach einem Rücktritt von Jens Spahn laut. Noch am Freitag hielt der Bundesgesundheitsminister ausdrücklich an seiner Behauptung fest, AstraZeneca sei sicher. Zu diesem Zeitpunkt hatten andere Länder die Verabreichung wegen möglicher Nebenwirkungen bereits gestoppt. Nach dem miserablen Impfstoffmanagement, seiner folgenlosen Ankündigung kostenfreier Tests und anderer Versäumnisse konnte Spahn nun erneut ein Versprechen nicht einlösen.

In diesem konkreten Fall trifft ihn jedoch keine Schuld. Schon im Herbst wiesen Im­mu­no­lo­g*in­nen und Vi­ro­lo­g*in­nen darauf hin, dass auch nach Zulassung der Impfstoffe mit Rückschlägen zu rechnen sei. Angesichts der horrenden Zahl von Menschen, die innerhalb kurzer Zeit weltweit geimpft werden sollten, könne es vereinzelt zu unerwünschten und unvorhersehbaren Reaktionen kommen. Der vorläufige Impfstopp, bis weitere Prüfergebnisse vorliegen, zeigt auch, dass die Kontrollmechanismen funktionieren.

Die Bundesregierung wie auch die Mi­nis­ter­prä­si­dent*in­nen der Länder haben jedoch ein sehr viel größeres Debakel zu verantworten: die seit Tagen wieder bedrohlich steigenden Infektionszahlen. Angesichts der aggressiven Virusmutationen warnen Wis­sen­schaft­le­r*in­nen seit Monaten vor einer dritten Welle mit exponentiellem Wachstum. Akribisch rechneten sie vor, warum es so wichtig sei, die Zahl der täglichen Neuinfektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r*in­nen stabil auf unter 35 zu drücken, bevor langsam geöffnet werde.

Zu frühzeitige Lockerungen würden die Gefahr bergen, dass die Pandemie außer Kontrolle gerate. Darauf hatte die Kanzlerin hingewiesen. Trotzdem entschieden sich Bund und Länder bei ihrem letzten Treffen für das Gegenteil: Sie ließen Lockerungen zu, sofern die Inzidenz nicht über 100 steigt. Erst dann trete eine Notbremse in Kraft. Seitdem herrscht Chaos. Die einen Landkreise lassen Geschäfte öffnen, selbst wenn die 100 überschritten ist, die anderen sogar bei einer Inzidenz von über 200.

Niemand weiß mehr, was gilt. Wer hingegen die Pandemie ernst nimmt, muss selbst zusehen, wie er sich schützt. Viele haben diese Möglichkeit aber nicht. Das ist Staatsversagen. Ein Rücktritt aller Beteiligten an diesem Beschluss wäre angebracht, der der Kanzlerin inklusive. Das würde das Land aber in eine noch tiefere Krise stürzen. Der von Spahn aber nicht. Und er wäre keineswegs ein Bauernopfer. Dafür ist die Liste seiner Fehler zu lang – ganz unabhängig von den Problemen mit AstraZeneca.

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war von 2012 bis 2019 China-Korrespondent der taz in Peking. Nun ist er in der taz-Zentrale für Weltwirtschaft zuständig. 2011 ist sein erstes Buch erschienen: „Der Gewinner der Krise – was der Westen von China lernen kann“, 2014 sein zweites: "Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiao-ping. Eine Biographie" - beide erschienen im Rotbuch Verlag.

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