AstraZeneca in Deutschland: Schnell prüfen und fortsetzen
Es ist wichtig, das Vertrauen in den Impfstoff zu erhalten. Doch die bisherigen Fälle reichen nicht, um AstraZeneca aus dem Verkehr zu ziehen.
Berlin taz | Die Art des Problems mit dem AstraZeneca-Impfstoff bringt die Entscheider*innen in der Politik in Bedrängnis – und zwar gerade, weil die Lage unklar ist. Die mögliche Nebenwirkung – eine Hirnvenenthrombose – ist so selten, dass auch eine Fortführung der Impfungen gerechtfertigt wäre. Sie ist andererseits aber auch hinreichend häufig, um sie nicht ignorieren zu können. Gerade wenn die Mitarbeit der Bevölkerung mittelfristig am wichtigsten ist, kann die politische Führung es sich nicht leisten, Vertrauen zu verspielen.
Ein Impfstopp tut daher vermutlich auch viel Gutes. Es signalisiert, dass Impfen kein Selbstzweck ist und der Gesundheitsschutz im Vordergrund steht. Dem Image des AstraZeneca-Wirkstoffs nützt es zudem nichts, einfach gegen vorhandene Zweifel anzuimpfen. Sie müssen bewertet und wenn möglich ausgeräumt werden.
Andererseits bedeutet ein Monat Verzögerung auch einen Verlust von Menschenleben und eine entsprechende Verlängerung der Lockdown-Folgen. Leider wird sich die Unklarheit jedoch kaum in einem so kurzen Zeitrahmen beseitigen lassen. Die Venenthrombose ist mit rund 1.000 Fällen pro Jahr auf eine Million Einwohner*innen eine häufige Kreislauferkrankung. Sie kommt jedoch normalerweise nur sehr selten in der Hirnvene vor. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung ist aber gerade in der Medizin nur schwer greifbar.
Statistiker*innen hadern seit dem Anbruch des wissenschaftlichen Zeitalters damit, Zufälle von echten Wirkungen zu unterscheiden. Der Goldstandard ist hier das kontrollierte, klug angelegte Experiment. Physiker*innen haben es hier einfacher als Mediziner – es lassen sich meist recht einfach eindeutige Laborbedingungen herstellen. Doch ein Phänomen, das überhaupt nur in 0,001 Prozent der Testpersonen auftritt, lässt sich kaum fassen. In freier Wildbahn treten viele Störfaktoren auf.
AstraZeneca-Impfungen sollten fortgeführt werden
Auch Covid-19 löst Gerinnungsstörungen aus. Haben sich die Betroffenen vielleicht im zeitlichen Umfeld der Impfung infiziert? Den genauen Mechanismus zu entschlüsseln, mit dem der Vektor-Impfstoff ein Blutgerinnsel ausgerechnet in der Hirnvene auslösen soll, erfordert Detektivarbeit und kann Jahre dauern.
Dennoch: Die Impfungen gegen die Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) fortzuführen, hätte für Jens Spahn schon sehr gute Nerven erfordert. Schließlich wollen wir den Expert*innen am PEI auch dann glauben, wenn sie versichern, ein Impfstoff sei sicher. Wenn die gleichen Expert*innen vorsichtshalber zu einer Aussetzung raten, sollten wir das ebenso ernst nehmen. Doch selbst wenn sich ein Zusammenhang nachweisen ließe – wäre das ein Grund, auf den Impfstoff von AstraZeneca zu verzichten? Vermutlich nicht.
Die Impfung ist ohnehin freiwillig. Bei den auftretenden Fallzahlen gilt ein Impfstoff mit diesen Eigenschaften immer noch als sicher. Wenn die Impflinge gewarnt sind, können die Ärzt*innen auf Symptome einer Thrombose schnell mit Blutverdünnern reagieren. In früheren Jahrzehnten lag die Messlatte für die Akzeptanz eines Impfstoffs sogar noch deutlich niedriger. Der Pockenimpfstoff, mit dem von 1967 bis 1977 praktisch die gesamte Weltbevölkerung geimpft wurde, hatte bei bis zu 50 von einer Million Geimpften lebensbedrohliche Folgen wie Gehirnhautentzündung.
Auch die einst gebräuchliche Schluckimpfung gegen Kinderlähmung hat in einem von einer Million Fällen die Krankheit ausgelöst, die sie eigentlich verhindern sollte. Heute würden diese Impfstoffe vermutlich keine Zulassung mehr erhalten, damals galt das Risiko als akzeptabel. Die Ansprüche sind heute zu Recht höher. Doch auch nach der derzeit gebräuchlichen Grippeimpfung werden Blutgerinnsel beobachtet. Sie scheint zudem eine seltene Entzündung der Nervenwurzeln zu begünstigen, das Guillain-Barré-Syndrom. Es tritt nach Angaben des PEI bei sechs von einer Million Geimpften auf. Das entspricht von der Größenordnung her der Häufigkeit, mit der jetzt in Deutschland die Blutgerinnsel nach der AstraZeneca-Impfung beobachtet wurden.
Solche Wahrscheinlichkeiten sind für den Einzelnen als Risiko nicht relevant. Die Annahme liegt also nahe, dass die Verwendung des Impfstoffs auf jeden Fall fortgesetzt wird – egal, ob es einen Zusammenhang gibt oder nicht. Alles andere wäre auch ein Desaster für die Pandemiebekämpfung.
Leser*innenkommentare
Lesenundschreiben
Was mir bei den statistischen Berechnungen fehlt, ist die Information, wie sich die Thrombosefälle auf die Chargenlieferungen des Impfstoffes verteilen.
Sollten die Fälle alle mit einer oder wenigen Chargen zusammenhängen, gibt es wohl ein Produktionsproblem.
lulu schlawiner
@Lesenundschreiben Darüber habe ich auch gelesen. Wird eben industriell hergestellt und bei Produnktion kommen Fehler vor.
Macht die ganze Sache aber auch nicht besser.
Die Opfer laufen den Rest ihres Lebens zum Gericht um Ansprüche einzufordern.
Das ist KEINE Perspektive.
Jossi Blum
Selbst Lauterbach, der noch gestern für das Weiterimpfen mit AstraZeneca war, sieht einen Zusammenhang zwischen den Impfungen und Blutgerinnseln. Selbst wenn das nur in 1 von 100.000 Fällen auftreten würde, ich würde mich vorerst nicht mit dem Zeug impfen lassen. Ist wie russisches Roulette.
164 (Profil gelöscht)
Gast
@Jossi Blum Ja. Russisch Roulette ist 1 zu 6. Fast dasselbe also!
Paul Voss
Ich haette morgen einen impftermin gehabt und wäre trotz bedenken hin.. Nun muss man mal eine en
Entscheidung treffen.. Mit astra zeneca werd ich mich nicht impfen lassen..
fly
Statistik hin oder her,
das Individuum sieht sich berechtigterweise nicht als Zahl in einer Gesamtpopulation.
Populationstechnisch ist eine Weiterführung der Impfung sehr sinnvoll, aber das Individuum möchte das Risiko möglichst klein haben.
Dazu benötigt man
a) Infos, wie es mit der Fallrate bei den anderen Impfstoffen aussieht
b) Infos, wieso es kaum Fälle in GB gibt, obwohl die mehr verimpft haben. Liegt es am Bier oder am Linksverkehr?
06438 (Profil gelöscht)
Gast
@fly 1.. In England ist der Leidensdruck größer. Mehr als 120.000 Todesfälle bei einer Bevölkerung (UK) von 65 Mill.
2.. England versucht sehr stolz zu sein auf die Impferfolge - und auf den AZ Impfstoff. Das Land fühlt sich dazu animiert zu beweisen das es besser als die EU ist.
3..Englische Argumentation hinsichtlich der britischen Thrombose Fälle: Sie geben 50 Fälle an in Verbindung mit der AZ Impfung - und erklären, das eigentlich 350 Thrombose Fälle pro Jahr in UK statitisch vorkommen.
Das es darum geht heraus zu finden wer unter Umständen gefährdet ist - um diesen Menschen einen anderen Impfstoff anzubieten, verstehen sie nicht - weil sich UK immer noch im Brexit Fieber befindet.
Sie verstehen auch nicht das europäische Nationalstaaten reagiert haben - sondern verstehen die Aussetzung der Impfungen als politische Reaktion der EU. (!)
Ajuga
"Auch Covid-19 löst Gerinnungsstörungen aus. Haben sich die Betroffenen vielleicht im zeitlichen Umfeld der Impfung infiziert?"
Danke für das Stellen dieser Frage! Das ist der Elefant im Raum.
Eine unerkannte Covid-19-Erkrankung (dass das Virus die Blutgefäßinnenwand ramponiert, ist mangels dortiger Schmerzrezeptoren nicht spürbar) in Kombination mit Impfung (egal welcher Impfstoff) ist ein eindeutiger Risikofaktor für Thrombosen: Die Hälfte der Infizierten hat - unabhängig von der Schwere ihrer Erkrankung - noch 3 Monate nach offizieller "Genesung" eine aktive Herzmuskelentzündung!
AZ ist hochwirksam; das bedeutet zwangsläufig auch ein höheres Risiko von Nebenwirkungen. Und AZ wurde überwiegend an jüngere Menschen verimpft, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass eine Covid-19-Erkrankung ohne eindeutige sichtdiagnostische Symptome abläuft, über 30% liegt.
Zum Glück braucht fast niemand mehr diese Antikörpertests; sie sind für diagnostische Zwecke einfach zu schlecht. Aber hier können sie sehr sinnvoll sein, denn zum einen kann man nur mit ihnen eine überstandene Covid-19-Erkrankung feststellen, und zum anderen dürften die anderen Coronaviren, die bei Antikörpertests vor 1 Jahr häufig falschpositive Ergebnisse verursachten, in der vergangenen Erkältungssaison ebenso irrelevant gewesen sein wie Grippeviren. Man kann also vor der Impfung einen Antikörper-Schnelltest durchführen, und bei positivem Ergebnis einen der mRNA-Impfstoffe verwenden, ohne dass damit irgendwelche Konkurrenz um knappe Ressourcen entsteht.
06438 (Profil gelöscht)
Gast
Die EU-Kommission und BioNTech-Pfizer haben eine Einigung über die beschleunigte Abgabe von 10 Millionen Dosen für das zweite Quartal an EU-Länder erzielt
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte:
„Ich weiß, wie wichtig das zweite Quartal für die Einführung unserer Impfstrategien in den Mitgliedstaaten ist. Diese beschleunigten 10 Millionen Dosen werden die
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Gesamtdosen von BioNTech-Pfizer im zweiten Quartal auf über 200 Millionen erhöhen.
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Das sind sehr gute Nachrichten. Dies gibt den Mitgliedstaaten Spielraum und kann möglicherweise Lücken bei den Lieferungen schließen. “
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15. März, 23.24 Uhr:
Das für die Impfstoffe zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) hat seine Empfehlung zur Aussetzung von Impfungen mit dem Präparat von Astrazeneca verteidigt. Von den sieben in Deutschland aufgetretenen Fällen mit Thrombosen (Blutgerinnseln) der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang zur Impfung sind drei tödlich verlaufen, wie Institutspräsident Klaus Cichutek am Montagabend in den ARD-Tagesthemen sagte. „Wir haben auf Grund von neuen Untersuchungen, aber auch neuen Meldungen, eine neue Lage.“
(Sechs (6) der sieben betroffenen Menschen mit Thrombose in Verbindung mit einer Impfung von AZ sind Frauen.)