Neues CDU-Grundsatzprogramm: Subjekt, Prädikat, Objekt
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann will mit einem konservativeren Grundsatzprogramm Friedrich Merz zum Kanzler machen. Doch zu welchem Preis?
D ie CDU, das spürt man schnell, will sich wieder feiern. Knapp tausend Mitglieder sind an diesem Freitagabend Ende März in ein Hotel am Rande des Berliner Tiergartens gekommen, die CDU hat zur sechsten und letzten Regionalkonferenz geladen, auf der an der Basis das neue Grundsatzprogramm getestet werden soll. Das soll nach dem Machtverlust vor zweieinhalb Jahren die nächste Phase der CDU-Auferstehung einleiten. Das Ziel: die Rückkehr ins Kanzleramt. Organisieren soll diesen Prozess Generalsekretär Carsten Linnemann.
Linnemann ist ein schmaler, drahtiger Mann, der trotz seiner 46 Jahre etwas Jungenhaftes ausstrahlt. Jetzt steht er auf der Bühne im großen Ballsaal des Hotels vor türkisfarbener Kulisse, er hat der CDU jüngst eine neue Parteifarbe verpasst. „Wir haben auf 70 Seiten alles aufgeschrieben. Es gibt wieder Hauptsätze! Subjekt, Prädikat, Objekt!“, ruft Linnemann. Applaus im Saal.
Es sind Sätze, die typisch für Linnemann sind. Er mag knackige Aussagen. Sein Podcast heißt „Einfach mal machen“, und so klingt er oft auch. Sein Ziel sei, so hat er es immer wieder erzählt, dass jedes CDU-Mitglied schlaftrunken mitten in der Nacht fünf Dinge aufzählen könne, die seine Partei von anderen unterscheidet. Jetzt, auf der Regionalkonferenz im Berliner Hotel, will er sieben Punkte nennen, die ihm wichtig am Grundsatzprogramm sind: „Das geht schnell.“ Zack, zack, zack – das ist Linnemanns Sound. Er spricht schnell und geht schnell, wirkt hibbelig und rastlos, manchmal getrieben. Wer ihn beobachtet, wird selbst nervös.
Er bricht endgültig mit der Ära Merkel
Man kann sich über all das lustig machen. Beklagen, dass die immer komplizierter werdende Welt möglicherweise allein mit Hauptsätzen nicht zu fassen ist. Kritisieren, dass das neue Grundsatzprogramm der CDU, das immerhin zehn Jahre halten soll, etwas mehr Tiefgang vertragen hätte. Man kann auch einwenden, dass für eine pragmatische Partei wie die CDU die Bedeutung eines Grundsatzprogramms ohnehin gering ist. Es wird geschrieben, verabschiedet und hat in der Folge wenig Relevanz.
Aber ist Linnemanns „Nicht reden. Machen!“-Modus vielleicht das, was ein großer Teil der CDU-Basis gerade will? Was bei einem Teil der Bevölkerung verfängt, der ohnehin denkt, dass in der Politik zu viel rumgequatscht wird? Und der gut passt zu dem Kurs, die Partei konservativer aufzustellen?
„Unsere konservative Wurzel wird im Grundsatzprogramm wieder stärker betont“, sagt Linnemann auf der Regionalkonferenz. Das stimmt zweifellos. Das individuelle Recht auf Asyl soll etwa gekippt, eine Leitkultur eingeführt, die Rückkehr zur Atomkraft ermöglicht werden. Drei Beispiele von vielen. Ihr Nebeneffekt: Sie brechen mit der Merkel-Ära.
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Linnemann sagt auch, man solle sich von manchen verrückten Linken nicht kirre machen lassen. „Konservativ sein ist nichts Schlimmes, schon gar nichts Rechtsradikales, es gehört ins demokratische Spektrum. Und wir als CDU müssen eigentlich alle Konservativen einsammeln, die nicht rechtspopulistisch oder rechtsradikal sind.“ Auch das trifft zu. Aber ab wann kommen die Dinge ins Rutschen?
Linnemann ist seit acht Monaten kommissarischer Generalsekretär der CDU. Der dreitägige Parteitag, zu dem die CDU ab Montag in Berlin zusammenkommt, ist der erste, für den er verantwortlich ist. Für das Grundsatzprogramm, das hier verabschiedet werden soll, hat er die Federführung. Und Linnemann muss auch offiziell noch in sein Amt gewählt werden.
Linnemann ist Merz-Ultra
Eigentlich wäre er für das Amt des Generalsekretärs bereits der naheliegende Kandidat gewesen, als Merz vor gut zwei Jahren im dritten Anlauf zum Parteichef gewählt wurde. Der promovierte Volkswirt, der seit 2009 im Bundestag sitzt und acht Jahre lang den CDU-Wirtschaftsflügel angeführt hat, ist ein Merz-Ultra, schon lange. In all den parteiinternen Machtkämpfen der vergangenen Jahre stand er auf der Seite seines jetzigen Chefs. Die beiden Männer ähneln sich, manchmal wirkt der eine wie die jüngere Ausgabe des anderen. Linnemann und Merz sind beide Westfalen, beide wirtschaftsliberal und gesellschaftspolitisch konservativ, beide haben die Politik Angela Merkels bekämpft. Und beide scheuen sich nicht, mit einem deftigen Spruch auch mal anzuecken.
Carsten Linnemann stammt aus einem Dorf bei Paderborn, einer der schwärzesten Regionen der Republik und erzkatholisch dazu. Seine Eltern haben dort bis vor einigen Jahren eine Buchhandlung betrieben. Er hat im Kreis seit 2009 viermal in Folge das Direktmandat geholt, 2013 mit über 59 Prozent. In Paderborn hat er Betriebswirtschaft studiert, dann an der TU Chemnitz in Volkswirtschaft promoviert. Durch diese drei Jahre in Sachsen habe er ein gutes Gefühl für den Osten, sagt er. Danach ging er zur Deutschen Bank nach Frankfurt am Main.
Merz zog Ende 2021 aus strategischen Gründen zunächst Mario Czaja als Generalsekretär vor, ostdeutsch und vom Sozialflügel der Partei. Der sollte den Eindruck widerlegen, der neue Vorsitzende stehe nur für einen Flügel der Partei und wolle diese umgehend nach rechts verschieben. Linnemann wurde Parteivize und Leiter der Grundsatzprogrammkommission. Als Czaja scheiterte, machte Merz im vergangenen Juli Linnemann zu dessen Nachfolger. „Das funktioniert nur, wenn es ein extremes Vertrauen zwischen beiden Personen gibt“, sagt dieser über ihre Zusammenarbeit.
Die Arbeitsteilung zwischen den beiden könnte also diese sein: Während der Generalsekretär attackiert, kann sich der Parteichef zurückhalten und an seinem Image arbeiten. Merz gilt vielen als reizbar und unsozial, als unsympathisch und kalt. Das schreckt besonders Wählerinnen ab und sorgt wohl mit dafür, dass die Union in den Umfragen bei um die 30 Prozent festgenagelt zu sein scheint, trotz der miesen Performance der Ampel.
Anfangs hat die Arbeitsteilung schlecht geklappt. Merz konnte oder wollte sich nicht zurückhalten. Im „Sommerinterview“ etwa brachte er weite Teile der Öffentlichkeit und auch der eigenen Partei gegen sich auf, als er eine Zusammenarbeit mit der AfD auf kommunaler Ebene für zulässig erklärte. Am nächsten Morgen bestritt und kassierte er das, wohl auch auf Anraten seines Generalsekretärs. In letzter Zeit scheint es besser zu funktionieren. Der Parteichef ist ruhiger geworden. Ob das anhält? Schwer zu sagen.
Autor von „Populistenbüchern“
Linnemann dürfte sein Teil der Aufgabe leichter fallen. Er ist ein Politiker mit Populismuspotenzial, das war er schon immer. Er hat ein Islamgesetz gefordert und ein Ende der doppelten Staatsbürgerschaft, eine Vorschulpflicht für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen und Schnellgerichte nach Schlägereien in Freibädern. Aufmerksamkeit war ihm damit sicher. Dass er Ressentiments schürte, wie selbst Parteifreund*innen mitunter urteilten, nahm er zumindest in Kauf. Linnemann hat Bücher über Politik geschrieben mit Titeln wie „Die machen eh, was sie wollen“ und „Die ticken doch nicht richtig!“, die sich genau so auch lesen. Die FAZ hat sie „Populistenbücher“ genannt.
Andererseits: Im Gespräch beklagt Linnemann die Polarisierung und Verunsicherung im Land. „Laut Studien glauben über 50 Prozent der Menschen nicht mehr, dass Politik die Probleme des Landes lösen kann“, sagt er. „Das ist eine enorme Verantwortung.“
Jüngst hat er mit einem sozialpolitischen Papier für Furore gesorgt. Die CDU will das Bürgergeld abschaffen und durch eine neue Grundsicherung ersetzen, von der weniger Menschen profitieren sollen. „Wer arbeiten kann, muss arbeiten“, so nennt Linnemann das. Er hat sich selbst in das Papier reingehängt, mehr als in andere Themen. Er sei in Amsterdam und Japan gewesen und habe Schalten mit Fachleuten in Dänemark gehabt, über Wochen habe er mit Experten gesessen und in der Partei mit vielen gesprochen. „Am Ende ist dieses Papier rausgekommen“, sagt Linnemann. Es sei „breit abgestimmt“. Auf der Pressekonferenz stand nicht nur die Chefin der Mittelstandsvereinigung, Gitta Connemann, sondern auch der nordrhein-westfälische Sozialminister Karl-Josef Laumann mit ihm auf der Bühne. Der ist Vorsitzender des Sozialflügels.
Nun ist das Papier mit seinen vier Seiten ohnehin recht dünn, ins Zentrum der Kommunikation aber stellte Linnemann ausgerechnet das Streichen der Leistung für sogenannte Totalverweigerer. Von denen gibt es nach Einschätzung von Praktiker*innen kaum welche, was Laumann auch anmerkte. Zwei seiner Stellvertreter in der CDA, der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands, wurden deutlicher. Schnell war klar: Eingebunden fühlten die sich nicht.
Ein Arbeitstier, bekannt für Verbindlichkeit
An einem Mittwochmorgen Mitte April hat der Generalsekretär eine halbe Stunde für ein Gespräch, der Pförtner bittet bei Ankunft um Geduld. Kurz darauf rauscht Linnemann schnellen Schritts durchs Foyer des Konrad-Adenauer-Hauses und entschuldigt sich wortreich. Die Sitzung mit Merz zur Europakampagne verzögere sich, ob man etwas warten könne? Im fünften Stock der CDU-Zentrale gebe es auch sehr guten Kaffee. Das ist ungewöhnlich: dass ein Spitzenpolitiker keine Mitarbeiterin vorschickt. Für diese Verbindlichkeit ist Linnemann bekannt.
Thomas Biebricher, Politologe
Wenig später sitzt der Generalsekretär an einem großen Tisch in seinem Büro, in der Ecke steht ein Kicker, den ihm die Belegschaft zum Einstand geschenkt hat. Darüber hängt ein buntes Bild von Ludwig Erhard, dem ehemaligen Wirtschaftsminister und Kanzler, der als Begründer der sozialen Marktwirtschaft gilt.
Herr Linnemann, haben Sie ein Vorbild unter Ihren Vorgängern?
Linnemann hat sich bislang nicht als Vordenker hervorgetan, er könnte jetzt kluge Köpfe wie Kurt Biedenkopf oder Heiner Geißler nennen – Generalsekretäre, die die Partei inhaltlich vorangebracht haben. Immerhin verantwortet er bald ein neues Grundsatzprogramm, das vierte erst in der Geschichte der CDU. Aber Linnemann sagt sofort: „Ich hab ein Vorbild, auch wenn der nicht Generalsekretär war: Ludwig Erhard, schon immer gewesen.“ Linnemann schwärmt von der sozialen Marktwirtschaft. Erhard sei ein Typ gewesen, der zu seiner Meinung stand. „So mutige Politiker, von denen haben wir heute in Deutschland nicht viele.“
Fragt man in der Partei nach Linnemanns Qualitäten als Generalsekretär, hört man zunächst nur Positives. Er sei ein Arbeitstier, habe die Parteizentrale besser aufgestellt, die Entstehung des Programms gut gemanagt, die Partei wieder in die Medien gebracht. Fragt man länger nach und verspricht, nicht zu zitieren, heißt es auch, dass er wichtige Politikfelder vernachlässige und manches im Programm doch etwas zu einfach gestrickt sei.
„Klare Kante ist kein Populismus“
Herr Linnemann, muss ein Generalsekretär der CDU populistisch sein?
„Klare Kante ist kein Populismus“, antwortet Linnemann. „Wenn man etwas ohne Substanz raushaut, ist es populistisch, aber das mache ich nicht. Ich bereite die Sachen vor und entwickle Konzepte.“
Nehmen wir mal Ihre Forderung nach mehr Härte gegen Schwimmbadschläger, da waren Sie schon Generalsekretär.
„Das ist ein super Beispiel! Ich habe zu diesem Thema viele Gespräche geführt. Und ich bin wirklich für mehr Schnellverfahren; in Baden-Württemberg gibt es das, zum Beispiel in Heilbronn und Ulm.“
Sie haben gesagt: „Wer mittags im Freibad Menschen angreift, muss abends vor dem Richter sitzen und abgeurteilt werden. Auch am Wochenende.“ Das ist nach den gängigen Regeln nicht umsetzbar.
„Die Forderung bleibt richtig“, sagt Linnemann. „Schon heute gibt es Verfahren, die in wenigen Tagen abgeschlossen sind. Es ist doch völlig richtig, wenn ich sage: Ein Straftäter muss so schnell wie möglich abgeurteilt werden.“
Nur, so hat er es der Bild nicht gesagt.
Und es passt auch nicht zu dem, was er später ausführt, als das Gespräch auf die AfD kommt. Kein Zweifel: Eine Zusammenarbeit mit der extrem rechten Partei lehnt Linnemann klar ab. Auch macht er sich, so erzählt er es jedenfalls, Gedanken, von welcher seiner Aktionen die AfD möglicherweise profitieren könnte. „Wenn man nur redet, aber nicht handelt – wenn man eine Forderung aufstellt, muss man die Umsetzung gleich mitdenken“, sagt er in seinem Büro. „Wenn wir zeigen, dass wir es können, zahlt es bei uns ein.“ Was im Umkehrschluss heißt: Kann man das nicht, profitiert die AfD.
Nun lässt sich aber weder das abendliche Schnellgericht nach Freibadschlägereien umsetzen noch etwa die Vorstellung von Asylverfahren in sicheren Drittstaaten außerhalb der EU, wie sie die CDU ins Grundsatzprogramm schreiben will. So beurteilen das jedenfalls viele Expert*innen nach derzeitigen juristischen Regeln. Linnemann wird seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht.
Kurze Sätze, einfache Botschaften, Politiker, die sich vermeintlich nicht den Mund verbieten lassen: Das sind Instrumente, die der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher europaweit an Mitte-rechts-Parteien beobachtet hat, die abdriften. Aus seiner Sicht gehört die CDU noch nicht dazu. Es könne sogar sein, dass sie mit ihrem neuen Kurs zunächst potenzielle AfD-Wähler*innen gewinnen kann. Gefährlich aber sei es. „Das kann mittelfristig auch nach hinten losgehen.“
Um den neuen Kurs der CDU geht es auch im politischen Podcast der taz, zu hören auf taz.de/bundestalk
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